Scarlett ~ Whiteboard

Es hatte keine Stunde gedauert, bis ich begriffen hatte, dass hinter der harmlosen Party mehr steckte, als es den Anschein hatte. Und auch mehr, als Jeff und Jenny wussten. Meine beste Freundin hatte sich schon gegen Mitternacht mit ihrem Freund verzogen, und Amy hatte Luca förmlich angebettelt, es den beiden gleichzutun, aber der hochgewachsene Brünette hatte sie immer wieder abgewimmelt.
Er hatte alle halbe Stunde das Kühlfach in der geräumigen Küche Adrians kontrolliert, und es brauchte keine Hochintelligenz, um eins und eins zusammenzuzählen. Die Villa schien der Lagerort für einige Drogen zu sein, die Luca und gelegentlich auch Jonah vertickten, während Patrick ihnen die Turnhalle als Übergabeort zur Verfügung stellte. Als Trainer der Fußball-Junioren hatte der Schwarzhaarige als einziger der Jungs einen Schlüssel, auch wenn Jonah sogar länger trainierte als er.

Tja, was man nicht alles aus den Gesprächen heraushören konnte... Nachdem Patrick sich völlig alkoholisiert bei mir über Lucas ständigen Liebeskummer beschwert hatte – wäre Amy meine Freundin, wäre ich auch verzweifelt –, hatte Jonah im Suff beschlossen, mich in seine Deals mit einzubeziehen. Er hatte völlig überzeugt zu mir gemeint, dass die starkschen Kontakte und Geldvorräte ihm genauso helfen konnte wie die Informationen zu den Helden.

Bisher hatte ich meinen rotblonden Mitschüler weitestgehend ignoriert, aber als Adrian sie nach unten geholt hatte, war auch mir klar geworden, dass es hier um mehr ging als abhängige Jugendliche.
Die beiden Typen, die im Eingangsbereich der Villa standen, waren beide recht unscheinbar. Einer brünett und braunäugig wie Luca, der andere mit mausbraunen Haaren und blauen Iriden wie Jeff. Standard-Teenager, unauffällig bis auf die Tatsache, dass sie Pistolen an ihren Gürteln trugen und der große Fette seinen Rucksack von Luca mit abgepackten Säckchen füllen ließ.

Der Moment, der mich elektrisiert zusammenzucken ließ, kam erst später. Vorerst erhob der fremde Rucksack-Typ seine hohe Stimme: „Wir haben ein größeres Geschäft am Mittwoch laufen. Habt ihr den Schlüssel?"
Jonah fiel beinahe um, als er mit großer Geste den Turnhallenschlüssel aus der Tasche seiner Sporthose zog, den er Patrick schon zuvor abgenommen hatte. Das verrostete Metallstück war schon etwas verbogen, schien aber zu passen, denn der Unbekannte nahm es ohne zu zögern an sich.
„Und Ahadi verlangt wieder nach etwas Frischfleisch."

Jetzt hatte das Geschehen unten meine volle Aufmerksamkeit, denn Patrick, der bisher abwesend ins Leere gestarrt hatte, verspannte sich plötzlich. Zu Recht: Die Blicke aller Jungs lagen plötzlich auf ihm, und er stolperte einen Schritt zurück. „Ich hab euch doch gesagt, dass ihr meine Kids nicht bekommt", krächzte er etwas heißer, „Es ist eigentlich schon zu viel verlangt, dass ich euch die Halle überlasse."
Unruhig verlagerte ich mein Gewicht auf das andere Bein, ich spürte, dass die Situation kurz vorm Kippen stand. Der Fremde hatte seine ohnehin schon kleinen Augen verengt, und Luca trat in die Mitte der Teenager – anscheinend unschlüssig, gegen wen er sich wenden sollte. Selbst Adrian hatte sich vom Geländer abgestoßen, nur der zweite Brünette hatte sich nicht bewegt.
Jonah rettete die Stimmung, zumindest für den Moment: „Ach was, der soll sich keinen Kopf machen. Wir haben doch jetzt Scarlett, das wird ihm gefallen!"

Ich war erleichtert, dass Patrick – der oft so verletzlich wirkte – nicht mehr im Zentrum der Aufmerksamkeit stand, aber das hieß nicht, dass ich seinen Platz hatte einnehmen wollen.
„Die kleine Stark?", fragte der Fremde ungläubig, und am Ende seines Ausrufes stieß er ein Geräusch aus, das merkwürdig nach Schluckauf klang. „Ihr habt sie in die Sache mit reingezogen?"
Luca nahm erleichtert einen Schritt zurück, während Jonah sich umdrehte und mir zugrinste. „Nee, die ist da mehr so reingerutscht. So huiiii... und da war sie."

Der Fremde griff seinen Rucksack fester und schlang ihn sich um die massige Schulter, dann schüttelte er den Kopf. „Ihr seid so riskant", tadelte er mit Blick auf Luca und Jonah, „Fangt besser an, euer Testament zu verfassen. Ich muss Ahadi davon berichten, und er wird sicher nicht erfreut sein."
Jonah hob schon zum Protest an, und ich wollte ebenfalls anmerken, dass ich mit der Sache nichts zutun haben wollte – da drehte ich mich ruckartig um.
Das Geräusch war so unauffällig gewesen, dass keiner der Jungs es bemerkt hatte, aber meine Ohren waren darauf getrimmt. Das Morse-W der Watchers... und es war vom Fremden gekommen, der bisher keinen Ton von sich gegeben hatte.

Mein Blick verhakte sich augenblicklich mit seinem, und obwohl er äußerlich nichts mehr von meinem Bruder hatte, würde ich ihn immer erkennen.
Er war hier.
Er war hier, und ich war hier – wir waren zusammen.

Meine Brustmuskeln zogen sich zusammen, als ich den Aufschrei unterdrücken musste, und wie paralysiert starrte ich Hunter an. Wie er aussah, war mir in diesem Moment egal, das Wichtige war, dass in seinen Augen dieselben Emotionen standen, die ich gerade fühlte.
Hoffnung. Verzweiflung. Sehnsucht.

Ich stolperte einen Schritt zur Seite und wäre beinahe die Stufen hinuntergefallen, als Patrick mich plötzlich angestoßen hatte. Ich hatte nicht einmal bemerkt, wie er sich in Bewegung gesetzt hatte, und hatte für seinen fragenden Blick nicht viel übrig. Ich nickte nur knapp, und er schlurfte weiter nach oben – diesmal war ich dankbar, dass er die Müdigkeitsphase des Alkohols erreicht hatte.

„Genau genommen", hob ich meine Stimme, um die immer noch diskutierenden Jungs zu übertönen, „Würde ich nicht einmal auf die Idee kommen, euch zu verraten."
Diesmal genoss ich die skeptischen – und in Jonahs Fall begeisterten – Blicke, denn ich war wieder in meinem Element: Es war Nacht, mein Zwilling war an meiner Seite und die Villa hatte eine hervorragende Klimaanlage.

„Ich kann die Avengers genauso wenig leiden, wie ihr", nickte ich vor allem dem Fremden zu, „Was meint ihr, wie man sich fühlt, wenn man nie gut genug ist?" Sogar Luca sah jetzt leicht überrascht aus, aber ich erkannte an den wässrigen Augen des Unbekannten, dass er mich anhörte. „Es hat schon einen Grund, weshalb ich auf einem Internat bin und mein Bruder nach Texas abgehauen ist."
Hunter, wie immer perfekt in seiner Rolle, bewegte sich nicht um Millimeter. Sein Nebenmann aber blieb misstrauisch: „Und wie genau soll uns das jetzt weiterhelfen?"

Mein Mundwinkel zuckte, als ich mitbekam, dass Jonah deswegen Luca anstieß und ihm irgendetwas zuflüsterte, aber ich konzentrierte mich auf das Wesentliche: „Weil sie mich zwar nicht in ihre Planung mit einbeziehen, ich aber das, was ich weiß, sehr gut an euch weitergeben kann. Weil es Zeit ist, dass sie mal jemand von ihrem hohen Ross runterholt, damit sie doch mal erkennen, dass sie nicht alles besiegen können. Vielleicht werden sie dann ja sogar eine normale Familie, auch wenn das fast zu spät ist, zumindest für mich."
Ich war vermutlich die Einzige, die es bemerkte, aber Hunter schürzte fast unmerklich seine Lippen. Ja, meine Ausrede war hastig dahingesagt und sicher nicht perfekt, aber die Teenager neben ihm schienen sie mir abzukaufen. Jonah applaudierte sogar, und der Fremde murmelte Luca irgendetwas von „deswegen schreib' ich dir nochmal" zu.
Zögernd glitt sein Blick noch einmal von Jonah zu mir, dann nickte er knapp. „Dann spitz mal deine Ohren in nächster Zeit."

Der beleibte Brünette schickte sich an, zu gehen, und in Hunters Blick trat ein verzweifelter Ausdruck. Doch meine Gedanken liefen gerade auf Hochtouren, und unauffällig bildete ich mit Daumen und Zeigefinger meiner rechten Hand einen Kreis, den ich gegen meinen linken Zeigefinger legte. Mit viel Fantasie wurde da das Feanorische Zeichen für „W" draus – in der Elbenschrift, die wir für geheime Botschaften verwendeten. So unmerklich wie nur möglich nickte ich zur Wand rechts von mir, wo nahe der Tür ein Whiteboard mit angehängten Folienstiften prangte – mit unflätigen Zeichnungen und einem fetten „Jonah war hier!" – „Und Amy auch!".

Hunter reagierte darauf nicht, sondern drehte sich auf den Fersen um und folgte dem Unbekannten, der sich schon nach meinem Bruder umgeblickt hatte. Mit einem leisen Lächeln machte auch ich mich wieder auf dem Weg nach oben – mit der Gewissheit, Hunter nicht wieder so lang aus den Augen lassen zu müssen.

***

Fast hätte ich das Upload verpasst... Ich habe den neuen Rhythmus noch nicht ganz verinnerlicht. Übrigens, wenn jemand Interesse hat: Ich habe beschlossen, das neue Projekt ("Seine stärkste Waffe") immer am Donnerstag zu aktualisieren.😉

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