Scarlett ~ Wanderkarte

In den ersten beiden Stunden, Mathe, schöpfte ich noch keinen Verdacht. Kein Wunder, schließlich hatten alle meine Freunde und unfreiwillig Verwandte zusammen Englisch. Auch, als dann in Geschichte nur Jenny zu mir stieß, runzelte ich nur verwirrt die Stirn. Obwohl ich meinen Anzug nicht trug, funktionierte mein Gehirn zumindest so weit, dass ich nicht vergessen hatte, dass meine brünette Freundin dieses Wochenende bei ihrer Mutter war – und ihren Familien-Essay hatte ich auch nicht vergessen.
Da Jenny jedoch schon Mathe ohne Sierra gehabt hatte und mir knapp erklärte, dass unsere Halbspanierin krank war, ließ ich einfach meinen Kopf wieder auf die Tischplatte sinken.

Tja, dann kam der Nachmittag.
Jonah hatte mich eingeladen, mit ihm zur Villa zu kommen, um letzte Vorbereitungen für den großen Dreh am Mittwoch zu treffen, und ich hatte meinen Anzug in No-Combat-Mode aktiviert. So konnte ich ein lockeres Shirt und eine lange Stoffhose darüberziehen, ohne, dass es großartig auffiel – hätte ich jetzt plötzlich langärmlig hiergestanden, wäre das aufgefallen. Der Stick befand sich noch sicher in meinem Gürtel, und ich war auf dem Weg zu T'Chada, weil der sich mit Nate als Backup in den Wald nahe der Villa begeben sollte.
Meine Hände waren schwitzig, als ich meine Faust hob, um an die Holztür zum Zimmer meines Cousins zu klopfen. Mein Herz schlug bereits jetzt schneller als gewöhnlich, denn die Aussicht, meinen Bruder in wenigen Minuten wiederzusehen, war... elektrisierend. Das Einzige, das die Nervosität zurückhielt, war die Kälte meines Anzugs.

Die Tür quietschte leise, als T'Chada mir öffnete und seinen Wuschelkopf durch die schmale Öffnung steckte. Seine Augen funkelten, sobald er mich erkannt hatte, und ein Grinsen breitete sich auf seinen Lippen aus. Noch bevor er etwas sagen konnte, fuhr ich dazwischen: „Beweg deinen Hintern hier raus, Nate holt dich gleich ab, damit ich mich mit Hunter treffen kann."

Mit unergründlicher Miene öffnete mein Cousin seine Tür noch etwas weiter und trat einen Schritt zur Seite: „Komm erstmal rein."
Fast augenblicklich fuhren meine Augenbrauen zusammen und ich schnaubte wütend auf. „Ich hab' jetzt absolut keinen Nerv für deine Spielchen, ich will zu meinem Bruder." Ich stemmte die Arme in die Hüfte, wütende Blicke zum ungewöhnlich nachdenklich dreinschauenden T'Chada schickend. Er konnte nur ahnen, wie sehr ich Hunter brauchte, aber mir war auch klar, dass er mich nur zu gern damit quälte.

„Eigentlich wollte ich dir Informationen zum Fluchtplan geben." Höhnisch ließ er seinen Kopf in den Nacken sinken und funkelte mich von oben herab an, bevor sich dieses widerwärtige Grinsen auf seinem Gesicht ausbreitete. „Aber schön zu hören, dass du meine Spielchen vermisst."
Noch während ich augenverdrehend die zwei Schritte in sein Zimmer trat, öffnete ich meine Arme zu einer großen Geste: „T'Chada Udaku, meine Damen und Herren..." Mein ironisch-amüsierter Blick wanderte über seine wie immer schwarz gekleidete Gestalt, „König des Überhörens von Verneinungen."

„Eigentlich König der technisch fortgeschrittensten Nation dieser Erde", verbesserte er mich, sich mit verschränkten Armen auf den Schreibtischstuhl fallen lassend, „Aber du warst schon immer vergesslich."
Dafür hatte ich nur ein Knurren übrig und setzte mich ohne zu zögern auf sein Bett an der rechten Wand. Es war relativ hoch, aber schmal, genauso wie das gesamte restliche Zimmer. Gegenüber von mir erstreckte sich der Schrank über die gesamte Breite des Raums, die kürzere Stirnseite wurde vom Schreibtisch eingenommen. Er hatte neben Patrick und Sierra eines der wenigen Einzelzimmer, aber irgendwie schienen die spärliche Einrichtung und die dunkel gehaltenen Wände zu T'Chada zu passen. Das warme Deckenlicht und der rötliche Parkettboden gaben seiner Haut, von der momentan dank Hoodie und Jeans nur sein Gesicht zu sehen war, schon wieder diesen dämlichen goldenen Schimmer, der ihn viel sanfter scheinen ließ, als er eigentlich war.

„Also, was ist nun?", hakte ich ungeduldig nach, als er sich nur unschlüssig auf seinem Drehstuhl leicht hin- und herwiegte. Er warf mir einen kurzen Seitenblick zu und griff dann nach einer zusammengerollten Karte auf seinem Schreibtisch, die er mir rüberreichte. Ich beschloss, mich einfach nicht über meinen Cousin zu wundern – er war und blieb eben ein Idiot – und breitete das raschelnde Papier auf seiner schlichten dunkelgrauen Bettdecke aus. Es war eine Wanderkarte von der Umgebung der Villa, und unter den skizzierten Bäumen weiter westlich war ein silberner Punkt für Nates Aufenthaltsort eingezeichnet. Beim Waldstück zwischen Dorf und Mets Willets Point befand sich dagegen ein kleiner schwarzer Fleck, und ich wusste plötzlich ganz sicher, wo ich nach der Übergabe nicht hingehen würde.

„Also, was ist jetzt noch?", hakte ich unwirsch bei meinem Cousin nach, schon wieder vom Bett aufstehend. Meine Muskeln vibrierten förmlich vor Erwartung, die Kälte sandte immer wieder Wellen von Adrenalin durch meinen Körper – ich musste jetzt einfach zu Hunter, und wenn sich uns noch irgendjemand in den Weg stellen würde, würden sich meine Skrupel denen von T'Chada nähern.

„Nate hat mir einen engen Zeitplan geschickt", erklärte mein Cousin jetzt glücklicherweise knapp – und ich lächelte leicht. Mein angespannter Anblick hatte ihn deutlich schlucken lassen, sodass er sich jetzt mit den Informationen beeilte: „Es ist jetzt 13:50 Uhr, du und Jonah fahrt gleich zur Villa. Ankunftszeitraum von fünf bis zehn nach Zwei, dann hast du zehn Minuten, um an den Stick zu kommen. Ab Viertel Drei ist die Übergabe geplant, solltest du bis Halb nicht gekommen sein, greifen wir ein."

Das war genau das, was ich hatte hören wollen. Obwohl T'Chada keine Anstalten machte, sich von seinem Stuhl zu bewegen, drehte ich auf meinen Fersen und riss die Tür auf, ohne noch einmal zurückzusehen – er würde schon klarkommen, auch wenn es definitiv hilfloser ausgesehen hatte als sonst, wie er ein Knie schützend gegen seinen Oberkörper gezogen hatte.
Noch bevor ich den Raum vollständig verlassen hatte, rief T'Chada mir aber noch nach – und seine Stimme war rauer als normalerweise. „Scarlett, warte."

Eine Hand noch am Türgriff drehte ich mich um, die Augenbrauen hochgezogen. Mein Cousin hatte vor seinem angezogenen Bein die Finger verschränkt, und ich hatte so meine Vermutungen, dass sie ansonsten gezittert hätten. Sein Blick war gesenkt, aber seine folgenden Worte drangen überdeutlich zu mir: „Es tut mir leid."

Bitte was?
Was sollte das denn jetzt?
Schwammiger ging es wohl nicht, und ich würde mir jetzt sicher nicht stundenlang den Kopf darüber zerbrechen, was-

Ach. Natürlich. Eine Ablenkung von meiner Mission, von meinem Bruder...
Ich schnaubte, zeigte ihm einen Vogel und ging Jonah suchen.

***

Ich bin sehr stolz darauf, eine Karte gefunden zu haben, die zu meinen Vorstellungen von der Umgebung der Villa entspricht... die grünen Flächen sind hierbei Nadelwälder, die gepunkteten sind Laubwälder. 
Na, da kann der Plan ja jetzt gar nicht mehr schieflaufen, oder?😉

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top