Scarlett ~ Splitter

Das Lager vor uns war... interessant. Das netteste Adjektiv, was ich zu dessen Beschreibung finden konnte. Obwohl es nur einen Block von der Hauptstraße entfernt war, war von Verkehr-Hektik nichts erkennbar: Das hohe, schlicht quaderförmige Gebäude war schmutzig weiß, der Putz bröckelte von allen Wänden und es war absolut unscheinbar.
Die Rückwand grenzte direkt an das nächste Haus, eine Haupttür war nicht zu erkennen. Es gab kleine Eingänge aus verwittertem Holz, zwei an der Frontseite und je einen an den Seitenwänden, die allesamt mit Brettern vernagelt waren. Die Türen waren wohl ehemals mit roter Farbe bemalt gewesen, doch die war fast komplett abgeblättert.
Fenster hatte das zweistöckige Haus nicht, und obwohl Peggy ihr Ohr minutenlang gegen eine der Wände gepresst hatte, konnten wir keine Rückschlüsse auf das Innere ziehen.
Und ich... tja, ich war genervt von der Tatsache, diese genaue Beschreibung abgeben zu können. „Rogers, wir sind jetzt viermal um das Ding drumrumgelaufen, so langsam können wir auch mal zur Sache kommen!"

Meine Cousine, die skeptisch abwechselnd ihr Handy kontrolliert und das angebliche Lager gescannt hatte, ließ genervt ihre Hände fallen. „Genau deswegen wollte ich deinen Bruder dabeihaben. Ich habe hier die Verantwortung für dich, glaubst du, ich riskiere da etwas?"
„Morgan hat uns schon vor fünf Minuten das Okay gegeben, und wir sind beide kampfstark! Los jetzt, wir sind bereit." Abwartend verschränkte ich meine Arme, die ausnahmsweise von langen Ärmeln bedeckt wurden. Mein Anzug war im Kampfmodus, und ich genauso.
Auch Peggys doch recht breite Schultern und definierte Muskeln kamen durch ihre engen Kleidungsstücke deutlich hervor, obwohl sie das sonst lieber unter Hoodies und Jacken verbarg. Doch das entschlossene Funkeln, das jetzt in ihre Augen trat, war deutlich für mich erkennbar. Seufzend strich sie sich kurz über die Schläfe, aber ihre sonst offenen Haare waren nun streng in einem geflochtenen Zopf zurückgebunden. „In diesen Momenten habe ich die lethargische Hitze-Scarlett lieber. Aber gut... Du nimmst die Tür an der linken Seite, ich die vordere Rechte. Du gibst mir jede Minute ein Zeichen über die Ohrhörer."
„Du hast 'nen schlimmeren Kontrollzwang als Mom...", murmelte ich, lenkte meine Schritte aber freudig grinsend nach links.
„Watch out!", zischte Peggy noch, und ich erwiderte den Gruß, bevor ich um die Ecke bog.
Und dann war ich in meinem Element.

Meine Augen zuckten über die Bretter, und obwohl das Holz alt und brüchig war, fiel mir die Anomalie sofort auf. Die Nägel in den Latten waren neu... Sie fixierten die Bretter nur schlampig, waren wohl hastig hereingeschlagen worden, und um sie herum waren weiße Ablagerungen wie von Kreide zu finden.
Ich lächelte.
Es war einfach angenehm, einen wachen Geist zu besitzen, der auch kleine Veränderungen in der Umgebung sofort registriert und analysiert. So musste Mom sich immer fühlen. Aber der Grund für meine Wachsamkeit war kein Superhirn, sondern mein Anzug, der die Temperatur auf vier Grad herabkühlte – und mir damit übermenschliche Kräfte verlieh. Es hatte doch Vorteile, zur Hälfte Frostriese zu sein...

Eben darum hob ich gleich die gesamte Tür aus den Angeln, stolperte kurz rückwärts, weil auch niedrige Temperaturen meine Größe nicht kompensierten, und legte sie so leise wie möglich auf den Pflastersteinen zu meinen Füßen ab. Noch bevor ich blinzelnd in den dunkleren Seitenflur eintrat, ließ ich ein schmales Holzstück samt Nagel in einer der vielen Taschen entlang meines Gürtels verschwinden. Hätte Mom das gesehen, hätte sie jetzt ganz stolz irgendwas von Leo Valdez gemurmelt.
Und, ob man es nun auf das Stark- oder Laufey-Erbe schieben wollte, meine Finger zuckten bei dem Gedanken an irgendwelche Bad Guys, die mir über den Weg laufen könnten. Keine Ahnung, als was man sie bezeichnen konnte – „Bande" oder sogar schon „Mafia-Clan"? – jedenfalls bereiteten uns die Geweihten seit einiger Zeit Probleme. Wenn wir nur mal in die Offensive gehen würden, und nicht nur den Dreck hinter diesen Idioten aufräumten... Aber nein, die Watchers beobachteten nur.
Beschützten.

Im Versuch, mich von diesen Gedanken zu befreien, schüttelte ich kurz meinen Kopf und konzentrierte mich dann wieder auf meine Aufgabe. Wie ein Schatten schlich ich durch den dunklen Gang, der zwar dreckig, aber staubfrei war. Er musste oft benutzt worden sein. Der Flur war zwar schmal – mit ausgestreckten Armen hätte ich beide Wände berühren können –, aber die rohe Betondecke lag hoch über mir. Hätte ich nicht die Nano-Sneaker von Shuri an, die Gramps meinem Anzug hinzugefügt hatte, wären meine Schritte garantiert deutlich nachgehallt.

Nach ein paar vorsichtigen Schritten gelangte ich zu einer offenstehenden Tür, doch der Raum dahinter – kaum mehr als eine Abstellkammer – war leer.
Die ehemals weißen Wände waren grau und bekritzelt, irgendwer hatte „Ich mag Züge!" an die hintere Wand geschmiert, doch bis auf das seltsam verschlungene „g" war nichts Auffälliges zu sehen.
Genauso wenig wie in allen anderen Räumen, die von meinem Gang abzweigten.

Irgendwann knackte mein Ohrhörer mit der Meldung „Ich bin jetzt im zweiten Stockwerk, bisher alles sauber", und ich nickte knapp, obwohl das niemand sehen konnte.
Wie denn auch, ich war allein – dieses Lager war wie ausgestorben, selbst als ich meinen Seitenflügel vollständig durchkämmt hatte.
„He, Rogers, genug der Geheimniskrämerei!", rief ich vom Treppenabsatz nach oben, „Wir können uns frei bewegen."
Irgendwas polterte, dann ertönte Peggys Stimme: „Erschreck mich nicht so!"
Augenverdrehend strich ich kurz über das rot gestrichene Holz des Geländers, holte mir aber sofort einen Splitter. Fluchend schob ich meinen Zeigefinger in den Mund und trat dann auf die unterste Stufe, die sofort knarzte. Wie war meine Cousine lautlos hier hochgekommen?
Suchend legte ich meinen Kopf in den Nacken, wo sie mit gezogenem Kampfmesser erschien – durch den Knick der Treppe direkt über mir.

Genervt winkte ich sie nach unten. „Queenie kommt völlig umsonst hierher. Es scheint zwar wirklich ein Lager gewesen zu sein, aber sie wurden gewarnt." Diesmal protestierte das Holz der Treppe lautstark, als Peggy heruntereilte und mir zunickte, bevor sie sich zögernd auf der untersten Stufe niederließ. Ihre Zähne knirschten hörbar – wie immer, wenn sie angestrengt nachdachte. „Uns bleibt nichts anderes übrig, als das Haus komplett zu scannen und Morgan nochmal nachsehen zu lassen. Wenigstens wissen wir jetzt eine Position und können mögliche Handlungswege verfolgen... Hoffen wir mal, dass die Jungs erfolgreicher waren."

Ich zuckte mit einer Schulter und wandte mich schon um, da ließ ein Geistesblitz mich wieder erstarren. „Meinte Hun vorhin nicht was von irgendeiner Bombe?"
„Schon, aber hier war ja offensichtlich keine." Peggy sah mich abwartend von unten herauf an, und ich verschränkte die Arme: „Ich meine ja nur, Morgans Informationen sind selten falsch."
Die Augen meiner Cousine verengten sich. „Du hast recht. Ich sage ihr Bescheid, wenn-"

Sie sprang mit ihrem Messer in der Hand auf und ich fuhr mit erhobenen Händen herum, als hinter uns Schritte ertönten.
„Also, das war jetzt filmreif!", kicherte eine glücklicherweise vertraute Stimme. Queenie, natürlich.
Die Maximoff, die sich grinsend gegen die schmutzig-weiße Wand lehnte, wirkte hier vollkommen fehl am Platz: Dünne blonde Haare, Jeans mit halbhohen braunen Stiefeln und ein flauschiger, grauer Strickpullover. Das strahlende Lächeln auf ihrem Gesicht nicht zu vergessen: Agnes galt als unser Sonnenschein, obwohl wir sie fast alle nur bei ihrem Spitznamen riefen.
Queenie sah uns kurz nachdenklich an, dann legte sie den Kopf schief. „Keine Arbeit für mich? Nun, umso besser, dann können wir uns noch ein gemütliches Café suchen. Ich sehe euch viel zu selten."

Nach einem tiefen Atemzug tauschte ich einen vielsagenden Blick mit Peggy und zog meine mentale Barriere hoch. Denn Queenie, wie der Name eigentlich schon verriet, konnte Gedanken lesen – und das klang weitaus cooler, als es eigentlich war. Vor allem für die Menschen in ihrem Umfeld.
Bei ‚mentaler Barriere' sollte man auch nicht an einen geistigen Schutzwall denken, unüberwindbar und bla ba... Das war Blödsinn. Ich rief einfach ein Bild in meinen Kopf, das Queenie ganz sicher nicht sehen wollte: In diesem Fall ihre in einen innigen Kuss vertieften Eltern. Agnes war zwar harmoniebedürftig und genoss die Freude anderer, doch so etwas wollte kein Kind sehen, auch wenn dieses Kind bereits 22 ist.

Queenie jedenfalls hakte sich bei Peggy und mir unter, als wir noch immer keine Anstalten machten, uns zu bewegen, und führte uns zurück auf Queens' sonnige Straßen.
„Macht doch mal freundliche Gesichter, das wird schon!"

***

Na, wer erinnert sich an Agnes? Sie hatte zwar in Iron Kid 3 nur kleine Auftritte, aber immerhin solltet ihr sie einordnen können.😉

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