Scarlett ~ Sonnenbrille
Den Weg in die Basis hatten wir beinahe völlig stumm zurückgelegt. Die Stille während der Fahrt in Nates blauem Kleinbus war nur von einer CD mit Kinderliedern unterbrochen worden, die Nia früher immer gehört hatte, als sie noch jünger gewesen war. Die Erschöpfung der letzten Tage hatte trotz der Panik, die sie noch immer spüren musste, dafür gesorgt, dass sie geradewegs in Peggys Armen eingeschlafen war. Als ich unser Küken so hilflos und zitternd auf dem Schoß unserer zweiten Anführerin gesehen hatte, hatte ich vergeblich auf eine Welle eisigen Zorns gewartet – Wut auf T'Chada, der das in die Wege geleitet hatte. Aber ich fühlte mich einfach nur leer... erschöpft und taub.
Nur wenig zuvor war ich von dem einen Gefühl überwältigt worden, das jeden Zwilling zerstören konnte. Der heutige Tag war einfach zu viel gewesen... und dabei hatte ich Hunter noch an meiner Seite. Wie Ashe sich fühlen musste, die ihren Blick bisher keine Sekunde von Queenie gelöst hatte, wollte ich mir nicht einmal vorstellen. Sobald wir am Hauptquartier angekommen waren, hatte meine Cousine die zerstörte Blondine mit sich gezogen, in ihr Zimmer, um ein ausgiebiges Gespräch mit der Stummen zu führen. Als wir anderen durch den Eingang zum Gemeinschaftsraum traten, fuhr die Tür mit leisem Rauschen zurück, und das Geräusch war so vertraut, dass ich unwillkürlich schauderte. Meinen Anzug hatte ich längst auf null Grad hochgedreht, damit ich zur Ruhe kommen würde, aber mein Hirn die Erlebnisse trotzdem verarbeiten konnte.
„Ich bringe Nia besser ins Bett. Aber ich bleibe bei ihr", murmelte Peggy leise, während Morgan bereits den Weg zum Computer in der Ecke einschlug. Nate aber packte rasch ihr Handgelenk und zog sie stattdessen zu den Sofas, und ausnahmsweise protestierte Wise Girl nicht. T'Chada warf sich ohne zu zögern auf die Couch gegenüber der beiden, aber ich blickte mich zögernd zu Hunter um. Er stand etwas unschlüssig vor dem Glastisch, die Finger noch immer fest mit denen Sierras verschränkt. „Ich brauche die Zwillinge und Chad zur Besprechung", sprang Morgan sofort ein, ohne von ihrem Starkphone aufzublicken, dem sie schon wieder ihre volle Aufmerksamkeit schenkte. „Nate, kümmerst du dich um Sierra?"
Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, wie Hunters Kiefer sich kurz verkrampfte, denn er wusste genau, dass kümmern in dem Fall befragen bedeutete. Aber Nate, der seinen langen Körper wieder umständlich von der Couch erhob, lächelte der Spanierin nur aufmunternd zu – er würde das schon hinbekommen, er hatte nicht umsonst Psychologie studiert.
Endlich kehrte der Fokus von Hunters Augen also zu mir zurück, und er folgte mir auf dem Fuß, als ich mich zwischen Tisch und Sofas zur freien Ledercouch zwängte. Das dunkle Material seufzte leise, als ich mich schwer hineinfallen ließ. Die weiche Umarmung war wie ein Willkommenheißen in meinem Zuhause, und ich schloss für einen Moment die Augen – das erste Mal, seit ich die Turnhalle betreten hatte und das Chaos losgegangen war. Ich spürte Hunters kräftigen Arm, der sich um meine Schultern schlich und mich dicht an sich zog, und ich atmete tief seinen vertrauten Geruch ein. Es war vorbei.
Wir waren wieder vereint, und zwar wir alle – ich hatte keinen Zweifel daran, dass die Avengers als unangefochtene Sieger aus der Auseinandersetzung mit den führerlosen Zehn Ringen herausgehen würden.
„Ich weiß, ihr seid müde", riss Morgans Stimme mich aus meinen Gedanken, die sich deutlich hörbar um einen sanften Ton bemühte. Als ich ihren Blick wieder auffing, funkelten ihre Augen jedoch hart, und ihre Nasenflügel waren leicht gebläht. „Sobald wir Ordnung in den Fall bekommen haben, könnt ihr euch ausruhen gehen."
Ich zog meine Augenbraue nur leicht hoch. Es war T'Chada, der genau das aussprach, was mir durch den Kopf schoss: „Das wage ich zu bezweifeln."
Morgan atmete tief durch und legte ihr Handy neben sich auf die Couch, sich etwas aufrichtend. „Wir werden sehen. Fangt vielleicht damit an, mir zu erklären, warum ich Hunters Aufnahmen in bearbeitetem Zustand bekommen habe." Wie auf Kommando biss ich mir auf die Unterlippe und spürte, wie Hunter sich neben mir versteifte. „Was soll das denn heißen?", fragte er angespannt, den Blick fest auf unseren Cousin gerichtet, der scheinbar desinteressiert seine Finger um den Bügel einer Sonnenbrille spielen ließ, die er wer weiß wo herhatte.
„Pläne funktionieren doch nie, wenn man sie Anderen verrät", murmelte ich etwas müde, ziemlich sicher, dass hier nur noch die Wahrheit half. „Und ich kann euch versprechen, dass ihr bei unserem nicht hättet mitspielen können." An meinem Hals spürte ich deutlich, wie sich der Arm meines Bruders verkrampfte, und er rückte ein Stück ab, um mich mit zur Seite gewandtem Kopf ansehen zu können. „Scar?" Seine Stimme war leise, aber drängend, doch noch bevor ich etwas antworten konnte, kam ein spöttisches Lachen von T'Chada. Seine funkelnden Augen schienen mich provozieren zu wollen, bevor er sich wie nebenbei die Sonnenbrille überstreifte und seinen Rücken dann entspannt gegen die Lehne zurückfallen ließ. „Das klingt ja fast so, als würdest du meine Lorbeeren ernten wollen", grinste er mit gekräuselter Oberlippe, sodass seine Zähne sichtbar wurden, „Der Plan war ganz allein meiner Genialität zu verschulden."
Mit verengten Augen öffnete ich meinen Mund, um zurückzuschnappen, doch ich wurde erneut unterbrochen – diesmal von der kalten Stimme Morgans. „Fakten. Sofort." Einen tiefen Atemzug nehmend lehnte ich mich zurück, und obwohl Hunter offensichtlich nicht begeistert war von der Situation, zog er mich sofort näher zu sich. Wenigstens traute sich nicht einmal T'Chada, bei diesem Ton noch Mätzchen zu machen.
Abwartend hatten wir alle unsere Aufmerksamkeit auf Black Lion gerichtet, der seine Arme verschränkte. „Zehn Ringe. Zehn Morde, um die Avengers zu stürzen. Maria Stark, Peters Mutter, Pepper, Laura, Cassies Mutter, Wanda, Gracie, Sharon, MJ, meine Mutter. Von den zuletzt genannten war nur der an MJ erfolgreich."
Ich verdrehte meine Augen, genau wissend, dass das wenig helfen würde. Ich spürte, wie Hunter hinter mir leicht seine Position veränderte, und Morgan schien sich zusammenreißen müssen, die Zusammenhänge vorerst nicht zu hinterfragen. „Zu Zeiten von Maria Stark und Mary Parker gab es die Avengers noch nicht", beschränkte sie sich vorerst auf die offensichtlich falschen Fakten.
„Es ging ursprünglich auch nicht um die Avengers", erbarmte ich mich mit genervtem Seitenblick auf den bewegungslos dasitzenden T'Chada, „Sondern darum, dass die Mandarin sich für die Göttin Doumu hält. Die kann ja nicht viel, abgesehen davon, den Himmelsgott Tian zur Welt zu bringen." Ich stockte kurz, bis Morgan leicht genickt hatte. Es war eine Weile her, dass wir die chinesische Mythologie im Unterricht durchgenommen hatten, aber mein Gedächtnis schien besser zu sein, als ich erwartet hatte. „Also, in diesem ersten Watchers-Video, da hat man gesehen, dass eine Chinesin und Maria Stark sich unterhalten haben, und Maria sprach davon, „Tian" zur Welt zu bringen, also Tony, der „sie alle übertreffen" würde." Wieder unterbrach ich mich kurz, rutschte ein wenig nach vorn, um Hunter einen Blick zuzuwerfen. Meine Sätze waren zwar durcheinander gewesen, aber in seinen Augen blitzte es auf – er würde mich eben immer verstehen.
„Die Mandarin sah also ihren Posten als Mutter des Götterkönigs bedroht und hat sie umbringen lassen, nur hat sie dafür lange Zeit gebraucht, weil sie sich da ihre Zehn Ringe noch nicht aufgebaut hatte. Und weil sie eine paranoide Irre ist, hat sie auch Marias letzte Verwandte umbringen lassen, nachdem sie einen Sohn geboren hat – das war Peter." Morgan setzte sich jetzt auf, und sie kaute auf ihrer Unterlippe, die Informationen schienen ihr also zu reichen. Trotzdem machte ich weiter: „Naja, und als deren Söhne, Peter und Tony eben, sich tatsächlich als übermenschlich erwiesen haben, hat sie, beziehungsweise ihre Nachfolgerin, beschlossen, alle Avengersmütter umzubringen. Und als die Anschläge auf Mom, Sharon und Wanda misslungen sind, hat sie an einem anderen Plan gearbeitet – und wollte stattdessen die Kinder umbringen. Sie hat Nakia gekidnappt im Wissen, dass T'Chada dann blindwütig in ihre Falle tappen und uns Andere hinterherziehen würde."
Morgan hatte ihre Hand leicht gehoben, und obwohl sie mich ansprach, war ihr Blick abwesend, in auf Inneres gerichtet: „Warum haben sie Nia dann nicht getötet, wenn sie es auf uns Kinder abgesehen hatten?"
Ich verstummte, meine Augen suchten T'Chadas, der der Einzige war, der diese Frage beantworten konnte. Doch er versteckte sich hinter seiner lässigen Haltung und der Sonnenbrille, zeigte durch nichts, dass er überhaupt zugehört hatte. Für einige Sekunden blieben wir alle stumm.
***
Ich denke, ein "Erklärungskapitel" war noch nötig. Vielleicht kann dieses Kapitel hier, gemeinsam mit dem folgenden, noch ein paar Unklarheiten beseitigen. Zur Not bin ich auch gern bereit, alle Fragen zu beantworten, jetzt gibt es ja fast nichts mehr geheimzuhalten.😉
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