Scarlett ~ Schreibtisch

Es schien die allgemeine Überzeugung zu bestehen, dass Entscheidungen leichter wurden, wenn man eine Nacht drüber schlief. Also, entweder war das völliger Nonsens oder es galt nicht für die Überlegung, ob man einen Stick mit Informationen über den Aufenthaltsort der entführten kleinen Cousine an die große Cousine übergeben sollte, damit sie die Rettung besagter Jüngeren planen konnte, damit aber möglicherweise den Plan des Cousins, der ebenfalls jene Rettung beinhaltete, zerstörte.
Wow. Das war definitiv der längste Satz, zu dem mein in der Hitze geschmolzenes Hirn in der Lage war.

Ich hatte heute einiges an Mühe gehabt, mich durch den Unterricht zu quälen und mir war die starke Vermutung gekommen, dass Ms. Wright – die mich nach Physik vergeblich zu sich nach vorn bestellt hatte, ich war einfach geflohen – später noch meine Mom anrufen würde. Sollte sie doch, ich hatte gerade definitiv andere Probleme.

Ich lag rücklinks auf meinem Bett und starrte die Wand an. Nicht, dass es da sonderlich viel zu sehen gab – mein Kopf zeigte Richtung Tür, weshalb ich nur die schlichte weiße Tapete im Blick hatte. Zwar befand sich an der gegenüberliegenden Seite des Zimmers über unseren Schreibtischen ein Fenster, aber das zeigte nur den reinen, blauen Himmel. Sogar das Wetter schien mich auszulachen...

Tief durchatmend setzte ich mich auf und fuhr mir mit der Hand über die Stirn. Im Bett war es viel zu warm, und das, obwohl ich im Sommer nur mit meinem hellgrünen Bezug schlief. Krampfhaft den Blick zum Stick auf meinem Nachtschrank vermeidend, lehnte ich meinen Hinterkopf mit halb geschlossenen Augen gegen die Wand. Ich war allein hier im Zimmer, Jenny war – was auch sonst? – bei Jeff, und eigentlich genoss ich die Stille meistens. Aber jetzt zeigte sie mir nur überdeutlich meinen schweren Atem, für den die Luft einfach nicht frisch genug war.

Mit einem leisen Knurren aktivierte ich meinen Anzug, und durch meine geschlossenen Lider bemerkte ich kaum, wie das dünne Material sich über meinem Körper ausbreitete. Die Fasern meiner Kleidung wurden bei dem Prozess in Nanoteilchen umgewandelt und in meine Handschuhe gezogen, weshalb ich trotz eigentlicher T-Shirt Ärmel nun den kühlen Lufthauch des Ventilators an meinen nackten Schultern spürte. Zumindest kurz – dann aktivierte ich den Combat-Mode und stieß mich von der Bettkante ab, auf dem Weg zur Zimmertür. Wie zufällig streiften meine Finger – nun abgesehen von meinem Kopf das einzig Unbedeckte an mir – dabei über den Nachtschrank, den Stick unauffällig in der Tasche neben meinem Dolch verschwinden lassend.

Ein letztes Mal würde ich mit T'Chada reden, bevor ich mich zu Morgan aufmachte – egal, was er vorhatte, wenn das beinhaltete, mir Informationen über meinen Bruder vorzuenthalten, war der Plan miserabel. Aber obwohl ich nur drei Schritte von meinem Bett bis zur Tür brauchte, wurde sie geöffnet, bevor ich sie erreicht hatte – und mein Dolch flog förmlich in meine rechte Hand.

T'Chada stand im Türrahmen, lässig gegen die linke Seite gelehnt, und zog eine Augenbraue in Richtung meiner Waffe hoch. „Deine Begrüßungen werden auch immer freundlicher. Ich bin nicht zum Kämpfen hier." Ich machte keine Anstalten, meine Verteidigungsposition aufzugeben, obwohl ich wusste, dass er die Wahrheit sagte. Er trug einen einfachen schwarzen Hoodie und dunkle Shorts, die ihm bis zu den Knien reichten und seine kräftigen Waden freiließen – für einen Kampf denkbar ungeeignet. Obwohl an seiner rechten Hand, die etwas oberhalb seines Kopfes am Türstock lehnte, die Handschuhe deutlich sichtbar waren, hatte er seine Krallen eingefahren. Und ich hätte auch an seiner geistigen Gesundheit gezweifelt – das hieß, mehr, als ohnehin schon –, wenn er gänzlich unbewaffnet bei mir aufgetaucht wäre.

„Du hast dich also entschieden." Mein Cousin ließ seine dunklen Augen kurz deutlich über meine Aufmachung schweifen, dann schnalzte er abwertend mit der Zunge. „War ja klar."
Er stieß sich von der Tür ab, die hinter ihm wieder ins Schloss fiel und kam mit dem typischen raubtierhaften Gang auf mich zu, aber bevor er auch nur zwei Meter weit gekommen war, reckte ich mein Kinn vor: „Keinen Schritt weiter."

T'Chada verdrehte nur die Augen, sah mich aber nicht direkt an: „Mach keinen Stress... Hüpfen sieht immer so dämlich aus." Er zog seinen rechten Mundwinkel in die Höhe, aber das Grinsen war nicht einmal annähernd ehrlich – und er zuckte prompt zusammen, als der Ventilator über uns begann, sich schneller zu drehen.
„Doch so schreckhaft, Blacky", funkelte ich ihn mit wesentlich zufriedenerem Lächeln an – diesmal war ich im Vorteil. „Der ist automatisiert, bis zur Telekinese habe ich es noch nicht geschafft."

Wakandas Thronfolger senkte kaum merklich sein Kinn – und meine selbstzufriedene Miene sackte in sich zusammen. Das war doch nicht etwa die Andeutung eines Nickens? Im Sinne von Akzeptanz meiner Aussage und Dankbarkeit für die Erklärung?
Verblüfft verfolgte ich, wie T'Chada Jennys Schreibtischstuhl heranzog und sich darauf niederließ. Er begab sich damit unter mein Niveau... „Welches Spiel spielst du hier?", knurrte ich mit höchster Aufmerksamkeit. Er saß jetzt direkt unter dem Fenster und die Sonne blendete mich, wenn ich in seine Richtung starrte – aber das war kein herausragender Vorteil für ihn, wenn man unsere Kleidung verglich.
„Ich hasse puzzeln", sagte mein Cousin.

Entweder, er hatte eine Schraube locker oder er wollte andeuten, dass er Hilfe bei seinem Plan bräuchte. Etwas, das er nur bei mir suchen würde, wenn er durchgedreht war... „Du hast doch einen an der Waffel", schnaubte ich und ließ meinen Dolch halb in der Tasche verschwinden, so, dass das Heft noch griffbereit herausragte. Dann wich ich kurz zurück, setzte mich auf meine Bettkante und ließ T'Chada nicht aus den Augen.
„Nee, ich hab' nur dich an der Backe", grinste er müde, „Das ist auch nicht besser."

Als keine Reaktion von mir kam, hob er seine rechte Hand, wo er zwischen Daumen- und Zeigefinger einen Stick hielt. Vor dem dunklen Material war der silberne Datenträger klar erkennbar, und ich musste mich zusammenreißen, um meinen Gürtel nicht abzutasten. Er konnte Hunters Informationen in den letzten fünf Minuten gar nicht gestohlen haben, und wenn, wäre er jetzt nicht hier.

Mein Cousin fragte gar nicht erst nach, sondern holte meinen Laptop auf dem Schreibtisch schräg neben ihm mit einem Tastendruck aus dem Stand-By-Modus. Seine Augen fokussierten sich völlig auf den Bildschirm, als er den USB-Stick anschloss, und ich hätte ihn jetzt problemlos überwältigen können.... Aber ich blieb angespannt sitzen.

Als T'Chada aber seine nächsten fünf Worte formulierte, sprang ich sofort wie elektrisiert auf: „Ich weiß, wo Nia ist."
Er- ... was?!
„Und ich weiß auch, warum sie dort ist."

***

Für T'Chada ist seine Familie also doch wichtiger, als es den Anschein hat. Das ist der Grund, weshalb er sich Scarlett hier teilweise öffnet - er will nicht, dass die Anderen ihn für seinen Plan verurteilen, will aber, dass er gelingt. Wie dieser Plan aussieht, sehen wir Mittwoch...😉

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top