Scarlett ~ Roadtrip

Anfangs war es noch merkwürdig gewesen, wieder in die Schule zu gehen. Die Woche nach dem Kampf hatten wir kollektiv geschwänzt, aber es hatte niemand nachgefragt, weil Teile des Avengers-Team-ups bis in die Öffentlichkeit gedrungen waren. Es war auch nicht problematisch gewesen, dass Hunter und T'Chada wieder Plätze getauscht hatten – mein Bruder saß plötzlich wieder im Unterricht, aber meinem Cousin war angeblich wegen schlechter Leistungen das Stipendium gekündigt worden, das ihm das Auslandsstudium ermöglicht hatte. Immerhin hatte er keinem Lehrer auch nur einen Deut seiner Aufmerksamkeit geschenkt, das stellte niemand in Frage.

Jonah, Luca und Patrick waren weniger schnell abzuspeisen gewesen, vor allem, nachdem Adrian seine Villa verkauft hatte und plötzlich wie vom Erdboden verschluckt war. Oder, genauer gesagt, zur Befragung von SHIELD in Gewahrsam genommen wurde. Ihnen hatte ich einen Teil der Wahrheit erklären müssen, aber ich hatte gekonnt ausgelassen, dass meine Freundschaft mit ihnen auf Intrigen beruhte. Denn die war mir dann doch wichtiger, als ich anfangs geglaubt hatte...

Idioten waren sie natürlich nach wie vor, aber ich hatte gelernt, über ihre Sprüche lachen zu können. Als Jonah jetzt auf Mr. Brühls Frage, ob Franco die Demokratie in Spanien aufgehalten oder ihr Platz geschaffen hatte, mit „Ist das eine Ja-oder-Nein-Frage?", antwortete, brach ich gemeinsam mit dem Rest des Kurses in Gelächter aus. Sogar Sierra vor mir musste leicht schmunzeln, aber sie hob im selben Atemzug den Arm, um vernünftige Argumente zu bringen.

So war Mr. Brühl also doch zufrieden, bevor es zum Ende der ersten Spanischstunde klingelte. Die Freundin meines Bruders drehte sich zu mir um, während auch überall sonst Gespräche ausbrachen, doch noch bevor sie etwas hätte sagen könne, wurde ich von hinten angesprungen. Ich musste mich nicht einmal umdrehen, um Jonah zu erkennen, der seinen Arm um meine Schultern warf und sich ungefragt auf den freien Stuhl neben mir fallen ließ. Ausnahmsweise war sein Shirt olivgrün, biss sich also nicht mit seinen roten Haaren, die wild verwuschelt waren. Seine blauen Augen blitzten, als sich seine Lippen zu einem breiten Grinsen verzogen und er sich in Richtung meines Ohrs beugte. „Naa, was fällt dir heute an Luca auf?"

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Sierra aufstand und sich zu Jenny gesellte, deren aufgeregt erzählende Stimme ich sogar durch den Pausenlärm klar herausfiltern konnte. Sie berichtete vermutlich jedem, der es hören wollte, von unserem Ausflug letztes Wochenende in die Eishalle, wo sie „die perfekte Pirouette" hinbekommen hatte. Mit leichtem Grinsen zwang ich meine Gedanken in die Gegenwart zurück und warf einen Blick über Jonahs Schulter in die letzte Bankreihe, wo Luca den Kopf in die Hände gestützt hatte und zu dösen schien. Er trug wie üblich ein furchtbar lila-grün kariertes Hemd zu einer beigen Hose, die weißen Tennissocken natürlich so weit wie möglich hochgezogen.

„Keine Ahnung... er ist ungewöhnlich still?", riet ich in Richtung Jonah gewandt, der prompt mit den Fingern schnipste. „Bingo. Er hat Amy abgeschossen, aber ich zweifle, dass es Trennungsschmerz ist, worüber er sich das Köpfchen zerbricht." Jonah platzierte seine Füße entspannt am Rand der Sitzfläche meines Stuhls, und augenverdrehend rutschte ich etwas zurück, um ihm mehr Platz zu machen. Abwartend lehnte ich mich zurück, meinen Kopf an die Wand in meinem Rücken stützend.
„Luca stellt seine Sexualität in Frage", eröffnete mir der Rotschopf, mit funkelnden Augen wild gestikulierend. „Wie lang gibst du ihm, bis er Patty fragt?"

Mit einem Mal setzte ich mich wieder gerader hin, nun ebenfalls mit blitzendem Blick. Wenn die beiden das hinbekämen, waren das natürlich großartige Nachrichten. „Uhh... Er hat schon so lang gebraucht, sich das überhaupt einzugestehen. Drei Wochen? Zwei, wenn wir ein wenig nachhelfen." Feixend schlug Jonah mit mir ein, schon wieder im Aufspringen. „Ist gebongt. Aphrodite und Amor auf Mission!"
Kopfschüttelnd sah ich dem hyperaktiven Teenager hinterher, der jetzt Luca nerven ging. Ich konnte froh sein, dass er Aphrodite überhaupt kannte.

Noch immer eine Spur des Lächelns auf dem Gesicht ließ ich meinen Blick abwesend aus dem Fenster schweifen, wo in der Ferne der Anfang des Parkplatzes zu sehen war. Vom grau gepflasterten Schulhof hob er sich nur dadurch ab, dass dort keine schattenspendenden Bäume in regelmäßigen Abständen gepflanzt waren. Doch die kräftige Linde an der Seite des Hofes zog meine Aufmerksamkeit auf sich, oder vielmehr die Gestalt, die an deren Stamm lehnte...

Meine Augen weiteten sich und für einen Moment stockte mein Atem. Was machte er hier? Eigentlich sollte er am anderen Ende der Welt sein... Ein kurzer Schmerz an meinem Knie riss mich ruckartig wieder in den Klassenraum. Ich hatte nicht einmal bemerkt, wie ich aufgesprungen war, aber dabei musste ich gegen das metallene Tischbein gestoßen sein. Nur für einen winzigen Moment zögerte ich, dann drehte ich mich auf den Fersen um und strebte die Tür an. Jennys „Scar?" überhörte ich beinahe, alle anwesenden Schüler verschwammen an den Seiten meines Blickfelds zu einer undefinierbaren, farbenfrohen Masse. „Bin kurz auf Toilette", rief ich ihr halblaut zu, mich nicht einmal zu ihr umdrehend. Aber ich bezweifelte innerlich, dass die folgende Begegnung kurz abzuhandeln war...

Auf dem Flur war deutlich weniger los als in den Räumen, vor allem, als der Gong zum Stundenbeginn ertönte. Noch mitten im Gang zuckte ich kurz zusammen, bevor ich meinen Schritt beschleunigte und begann, mit klopfendem Herzen durch die leere Schule zu joggen. Kurz vor dem Haupttor bog ich nach rechts ab und eilte durch den Seitenflügel, wo die Computerkabinette lagen, und fixierte meine Augen auf den Nebeneingang an dessen Ende. Als hätte ich einen Tunnelblick, konnte ich mich nicht von der Tür losreißen, bevor ich sie erreicht hatte und mit schwitzigen Fingern das kühle Eisen der alten Klinke umfasste. Beinahe rammte ich das alte rotbraune Holz in meine eigene Schulter, als ich die Tür mit einem kräftigen Rucken aufzog und nach draußen stürmte.

Ich störte mich nicht einmal an der Sonne, als ich über den ausgestorbenen Hof joggte, und ich hatte Glück, dass meine Turnschuhe auf dem rauen Pflaster guten Griff fanden. Ich konnte selbst nicht erklären, warum ich mich so hetzte, aber ich hatte seit drei Wochen nichts von T'Chada gehört – ich war gespannt, was er zu sagen hatte.

Sobald ich nach rechts um die Ecke der Schule gebogen war, hatte sich mein Blick auf den schwarzgekleideten Teenager gerichtet, der sich nicht einmal zu mir umdrehte, aber ganz genau wusste, dass ich kam. Etwas atemlos fing ich meinen Sprint ab, kurz stumm bleibend, weil ich nach Luft schnappen musste. Mein Cousin ließ sein iPhone in der Bauchtasche seines Hoodies verschwinden, aber er stierte nach wie vor stur geradeaus.
Am Stoff auf seiner Schulter hatten sich kleine Splitter der Rinde gesammelt, gegen die er gestützt stand. Das diente mir als Blickfang, wenn er schon keinen Augenkontakt halten wollte... „Hi", murmelte ich leise, meine Arme vor meinem Brustkorb verschränkend, der jetzt nicht mehr so sehr nach Sauerstoff gierte.

T'Chadas einzige Reaktion war ein Zähneblecken, das nicht einmal mit viel Fantasie als Grinsen durchgehen konnte. „Doch so kommunikativ", verdrehte ich meine Augen, jetzt schon bereuend, dass ich mich so sehr beeilt hatte, zu ihm zu kommen. „Deine Eloquenz ist nach wie vor beeindruckend." Mein Cousin schnaubte nur abfällig und kratzte etwas Rinde vom Baum ab, scheinbar gelangweilt die Holzstücke zwischen seinen Fingern zerreibend. Wenigstens trug er keine Handschuhe, also gab es für ihn genauso wenig Klauen wie für mich die Kälteregelung. „Ich schwänze Spanisch nicht, um von dir angeschwiegen zu werden", fauchte ich ihn an, „Und du bist nicht tausende Kilometer hergekommen, um schlechte Laune zu verbreiten. Also?"

„Du nervst." T'Chadas Stimme war rau, als er seine Hände jetzt genervt fallenließ. „Und wie üblich hast du Unrecht. Ich bin für schlechte Laune hier. Oder glaubst du, ich löse jetzt noch positive Emotionen im Rest der Watchers aus?"
Darum ging es hier also.
Ich trat einen Schritt zurück, ließ meinen Blick deutlich über seine Gestalt mit den leicht zusammengezogenen Schultern wandern und kräuselte höhnisch meine Oberlippe. „Nur zu, suhle dich in Selbstmitleid", provozierte ich ihn, „Ignoriere einfach die Realität, in der alles sein wird wie immer, wenn du nur mal deinen Arsch zurück ins Hauptquartier bewegst."

Zufrieden beobachtete ich, wie mein Cousin einen gepressten Atemzug nahm und sein Kiefer sich verkrampfte, bevor er sich zu einer Antwort zwang: „Mir tut es leid. Alles. Aber ich bereue nichts." Ich zuckte die Schultern, nicht sonderlich interessiert an seinen Gefühlen. „Dein Plan hat funktioniert." Doch T'Chadas Erwiderung erwischte mich eiskalt – auf die unangenehme Art und Weise. „Hat er nicht." Seine Stimme war nicht mehr als ein Krächzen, brach mitten im Satz. „Meine Mom... sie haben ihre Leiche gefunden."

Seine Worte schnitten wie Messer in meine Brust, entsetzten mich ehrlich. Er hätte mich nicht mehr überraschen können, wenn er seine Klauen quer über meinen Körper gezogen hätte, und dabei war es doch er, den das am meisten traf... Und als er seinen Kopf drehte, um mich jetzt doch offen anzusehen, erkannte ich Tränen in seinen Augenwinkeln. Zeichen des Schmerzes, weil er nicht mehr die Kraft hatte, sie zu verstecken. Doch ich wollte diese Augen aus einem anderen Grund glänzen sehen, auch wenn der hieß, mich in den Wahnsinn zu treiben.

„Trotzdem." Auch mein Ton war jetzt leise geworden, aber ich wusste, dass er mich verstand. „Danke." Mein Cousin lachte leise, doch in diesem Geräusch lag keine Spur von Fröhlichkeit. „Bedankst du dich für den Kuss oder dafür, dass ich dich glauben lassen habe, dein Zwilling sei tot?"
Deutlich für ihn sichtbar verdrehte ich erneut die Augen, schnappte zurück: „Das ist unverzeihlich und das weißt du genau."

T'Chada knurrte leise, trat einen winzigen Schritt näher an mich heran, als wollte er mich bedrohen. Aber ich stand gerade, blitzte ihm entgegen, wartete darauf, was er zu sagen hatte: „Dann vielleicht dafür, dass ich dich wirklich getötet hätte, wenn es wahr gewesen wäre?"
„Ganz genau dafür." Meine Worte waren nicht laut, aber fest, und mein Cousin hielt inne. Sein Blick wurde fragend, prüfend, als zweifelte er, ob er richtig gehört hatte.

„Danke, Chad", wiederholte ich mit Nachdruck, bereute die Worte aber beinahe, sobald seine Mundwinkel sich verzogen. Es dauerte länger als sonst, bis das altbekannte Grinsen auf seine Lippen zurückgekehrt war, doch dann erreichte es sogar seine Augen. „Den Tag markiere ich mir im Kalender, Scar." Mit großer Geste zog er einen Autoschlüssel aus seiner Hosentasche, und ich zog irritiert eine Augenbraue hoch. „Na komm, das muss ich doch belohnen", neckte T'Chada mich, „Roadtrip?"
Als er von mir nur einen skeptischen Blick abbekam hängte er noch mit leichtem Augenverdrehen hintendran: „Keine Sorge, ich habe nicht vor, dich noch einmal länger von deinem Bruder zu trennen. Nur ein paar Stunden."

Auf die Genervtheit in meinem Inneren wartete ich vergeblich. Ich zitterte zwar leicht, aber nicht vor Wut, sondern vor positiver Erwartung... Kommentarlos setzte ich mich mit hocherhobenem Kopf in Bewegung, an T'Chada vorbei, in Richtung des Parkplatzes. Die vertrauten Schritte folgten mir auf dem Fuß, und schon von weitem sah ich die Lichter eines schwarzen Audis anspringen, als mein Cousin die Türen entriegelte.
„Lass mich raten", kommentierte ich über meine Schulter hinweg, „Du kannst noch immer nicht vernünftig fahren?" Darauf erntete ich nur ein breites Grinsen. „Die Definition von vernünftig kennst du genauso wenig wie ich."

„Dämlicher Idiot."
„Dumme Gans."

***

Ich würde sagen, ich hebe mir meine emotionalen Worte für das Nachwort auf.
Es sei denn, ihr sagt, hier fehlt etwas - dann schreibe ich noch einen Epilog. Das war ursprünglich geplant, aber wie ihr seht, hat es sich anders ergeben... Wie findet ihr es besser, so lassen oder noch einen Epilog anfügen?😉

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