Scarlett ~ Mandarin

Ich hatte keine Angst.
Mir war weder kalt, noch heiß – mein Anzug umhüllte mich in perfekter Temperatur.
Nur von meiner linken Hand, die Hunter fest umschlossen hielt, strömte ein warmes Gefühl durch meinen Körper.

Ich zuckte nicht mit der Wimper, als die Geweihten uns mit knappen Befehlen zu dem Rest der Watchers dirigierten, damit ihre Pistolen alle auf ein Ziel ausgerichtet waren.

Und ich verzog keine Miene, obwohl ich wusste, dass wir dieses Ziel darstellten.
Denn es gab wieder ein wir, und ob wir nun gemeinsam lebten oder gemeinsam starben, war viel unwichtiger als die Tatsache, dass wir geschlossen standen. Das Gefühl wie noch vor wenigen Minuten wollte ich nie wieder verspüren – und genauso wenig irgendwen sonst fühlen lassen.

So stand ich mit meinem geliebten Bruder an der linken Seite und dem nicht mehr verhassten Cousin zu meiner Rechten, hinter uns Nate, der Queenie und Morgan schützend in den Armen hielt.
Und ich sah grimmig dem entgegen, was auch immer uns entgegentreten mochte.

Die Reihen aus dunkel gekleideten Bewaffneten öffneten sich für sie, ohne einen weiteren Blick zu wagen.
Ihre Schritte waren langsam, bedächtig.
Nicht lauernd wie die Urus oder vorsichtig wie die Igubas, sondern königlich. Strotzend vor Macht.

Ihre Haare, schwarz und streng zurückgebunden, wurden durchzogen von den ersten grauen Strähnen. Doch ihr makelloses Gesicht zeugte von keiner Spur des Alters.
Ihre schmalen Augen blitzten unter der hohen Stirn und über der breiten Nase, die Sanftheit in die scharfen Züge hätte bringen können, wären ihre merkwürdig schmalen Lippen nicht grausam verzogen gewesen.
Sie lächelte.

„Scarlett. Hunter. T'Chada", ihre Stimme war hart wie Teakholz, und ihre Gewänder leuchteten in derselben goldenen Farbe. „Agnes. Nathaniel. Morgan."
Ihr irrer Blick wanderte über uns, ruhig, gelassen. Als hätte sie alle Zeit der Welt.
Ich bekam nur am Rande mit, wie sich irgendwo weiter hinten eine Tür öffnete, mein gesamter Fokus lag auf der Frau vor uns.
Und auf meinem nun doch wild pochenden Herzen, das mir nur eines signalisierte: Weg hier.

Doch die fremde Asiatin sprach weiter: „Peggy. Antonia."
Nun konnte ich doch meinen Blick von ihr losreißen, als unsere zweite Anführerin zu uns gestoßen wurde – und sie war nicht allein gekommen. Diese bösartigen, grausamen Menschen hatten Nia in ihren Klauen, hielten sie nur wenige Meter von der Asiatin entfernt fest – und noch weiter weg von uns.
Es war unsere oberste Priorität, sie zu schützen... und wir hatten versagt.

„Ich war zu langsam", murmelte Peggy erstickt hinter mir, doch ich drehte mich nicht um. „Das Auto ist nicht vorwärtsgekommen – weil das Steuertrapez verbogen ist."
Mein Atem wurde schwerer.
Der Kampf zwischen T'Chada und mir schien Ewigkeiten her zu sein... aber er hatte schreckliche Ausmaße.
Wir hatten versagt.

„Eure Namen sind unterschiedlicher Herkunft", sprach die Fremde unaufhaltsam weiter, „Aber keiner von ihnen ist chinesischen Ursprungs."
Mein Blick schoss sofort wieder zu ihr, und ein Teil meines Unterbewusstseins verstand nicht, warum mein Fokus immer wieder zu ihr zurückgezogen wurde. Ihre Worte, die von Machtbewusstsein nur so strotzten, schienen mich einzuwickeln wie ein Stück Beute. Nur unser Meister der Worte schien von diesem Bann nicht betroffen zu sein.

„Was bitte denkt sie sich? Keiner von uns kommt aus China", murmelte Hunter dicht neben mir, doch dann erhob er seine Stimme. „Du kennst unsere Namen, aber wir deinen nicht. Wollen wir nicht einen kleinen Ausgleich in unsere Partie hier bringen? Also", aus dem Augenwinkel sah ich, wie er eine Geste in Richtung der Mafiosi machte, „abgesehen vom Ungleichgewicht der Teamstärken."

Das mehrfache Klicken wurde von den hohen Wänden zurückgeworfen und verstärkt, als einige der Geweihten ihre Pistolen entsicherten. Erschrocken drückte ich Hunters Hand fester – sein Galgenhumor in allen Ehren, aber er durfte jetzt nicht zu weit gehen. Es war klar, wer ihr erstes Opfer sein würde, und jeder von uns würde sich ohne einen zweiten Gedanken eine Kugel für sie einfangen.
Doch die Fremde lachte bloß. „Ihr kennt meinen Namen." Sie breitete die Arme aus, sodass ihr Hanfu von hinten bestrahlt wurde – und zum ersten Mal erkannte ich die roten Stickereien, die sich wie Sternbilder über ihr Gewand zogen.
Die Chinesin legte den Kopf in den Nacken, die Augen zur Decke gewandt, und sagte ein einziges Wort, das uns alle zusammenzucken ließ: „Mandarin."

Im Saal breitete sich eine Stille aus, die erdrückender schien als alle Worte zuvor.
Ich konnte mich nicht von der Stelle rühren, doch mein Bruder schob sich unruhig näher zu mir. Er war es auch, der das Schweigen brach – mit einem Beben in der Stimme, das nur für mich spürbar war. „Wohl eher Mandarine... schrumpelig genug ist sie ja."

Die Mandarin fuhr zu uns herum, das erste Mal so etwas wie Ärger auf dem Gesicht. Die Geweihten direkt hinter ihr wichen zurück, doch diesmal hielten sie ihre Waffen ruhig.
„Achte auf deine Worte, Kind." Sie spuckte die Worte aus wie Gift, mit hocherhobenem Kopf und leicht ausgebreiteten Armen. „Selbst der Verfall fürchtet mich. Ich bin die Reinkarnation von Doumu, der Mutter des Himmelsgottes, unsterblich und unendlich mächtig."
„Nur mal so unter uns, du siehst nicht hundertprozentig so aus, als würdest du nicht altern."
Überrascht verzog ich mein Gesicht, als Hunter weitere Widerworte gab. Normalerweise war doch immer ich die, die ihre Klappe nicht halten konnte... Im Gegensatz zu meinem Bruder waren die Mafiosi vor Ehrfurcht und Angst erstarrt, und auch Nia schien es nicht einmal zu wagen, laut zu atmen. Ihr Anblick tat mir in der Seele weh, obwohl sie trotz der Entführung unverletzt aussah – abgesehen davon, dass ihr karierter Rock eingerissen war und ihr weißes Poloshirt verdreckt. Über ihre Wangen liefen stumpfe Tränen, und alles in mir drängte danach, jede einzelne aufzufangen.

„Du bist naiv, Junge", spie die Mandarin verächtlich, „Ich lebe weiter durch meine Tochter und deren Tochter, bis eine von uns den nächsten Tian gebärt."
Ich riss meine Augen auf, als die Erkenntnis durch meinen Körper flutete. Hunters „Ungefähr das hat der Vater vom Fisch auch gesagt. Dann ist er verhungert", bekam ich nur am Rande mit.
Das war der Grund, weshalb die Mandarin und alle ihre Vorgänger die Frauen gejagt hatten, die Mütter waren und mit den Avengers – mit Tony Stark – in Verbindung standen?
Weil Maria Stark kein Chinesisch sprach und Tony fälschlicherweise mit Tian übersetzt hatte?
Sie waren einfach irre.

„Ganz recht, Scarlett", lächelte die Mandarin nun, und ich hatte Mühe, meine Augen unter ihrem harten Blick nicht zu senken. „Ich muss zugeben, es ist mühselig, die Mütter derjenigen zu jagen, die sich wie Götter über jegliche Grenzen hinwegsetzen... China hat unter meiner Hand den Sokovia-Verträgen zugestimmt. Es war eure letzte Chance." Ein freudloses Lächeln kräuselte ihre Mundwinkel. „Nun, stattdessen sollte ich vielleicht die neue Generation töten, was meint ihr? Was für ein Zufall, dass sie gerade so hübsch vor mir versammelt ist..."

Mein schwerer Atem schmerzte in der Brust, als ich realisierte, wie durchtrieben die Chinesin war. Sie musste das hier jahrelang geplant haben, hatte es aufgegeben, unsere Mütter zu töten, sondern auf uns Jagd gemacht... Uns jahrelang beobachtet, Köder ausgelegt, Psycho-Spielchen mit uns getrieben. Und wir alle waren ihr nachgelaufen wie Lämmer auf dem Weg zur Schlachtbank.

Sogar Hunter schwieg, als die Mandarin einem Teil der Mafiosi winkte und Unruhe in die Reihen kam.
„Einen meiner Ringe konntet ihr vielleicht infiltrieren", lächelte sie, „aber ich habe zehn davon."
An ihrer Seite standen jetzt nur drei, aber das war schon angsteinflößend genug.
Ja, jetzt schlug mein Herz wieder zu schnell – zu panisch.

„Das hier ist Waru vom Ring Australiens", deutete die Mandarin zum größten der Mafiosi, der durch seine dunkle Hautfarbe in der Düsternis nur schwer erkennbar war, „Er tötete Margaret Lang in Australien... und würde seine Erfahrung gern an Agnes wiederholen."
Sie lächelte, als Queenies hoher Schrei klar durch den gesamten Saal hallte.

Ihr Fokus wanderte weiter, und damit auch unsere Augen – es war, als wäre meine eigene Persönlichkeit gestoppt und ersetzt worden durch Folgsamkeit gegenüber der Chinesin. Sie strahlte diese unbändige Macht aus, die nicht nur durch ihre Untergebenen zustande kam, sondern vor allem durch ihre ehrliche, innere Überzeugung, eine Göttin zu sein.
Sie führte unsere Aufmerksamkeit zur nächsten Mafiosa, einer Frau, diesmal, deren Ausdruck aber nicht weniger grimmig war. „Ihr Name ist Eva, vom Ring Europas", sagte die Mandarin jetzt in einem merklich kühleren Ton, „Die hier ihre letzte Chance hat, ihr Versagen, Gracie Maria Stark zu töten... wieder aufzuwiegeln."

Die Mandarin lächelte, als sie zu ihrer Rechten deutete, und ich hörte Hunter scharf Luft holen. „Und dies ist Ahadi vom East Coast Ring."
Der drahtige Mann mit der schwarzen Mähne trat vor, die Pistole auf Anschlag.
„Er wird den Tod Michelle Parkers für uns nun reinszenieren. Mit ihrer Tochter."

Wieder schrie Queenie gequält auf, und es war unsere einzige Warnung, bevor sie Nia einen Schritt vorschoben, direkt in die Schusslinie derselben Waffe, die schon MJ getötet hatte.

„Lang lebe die Königin."
Ahadi drückte ab.

Doch noch bevor die Kugel den Lauf verlassen konnte, kam eine klebrige Substanz wie aus dem Nichts herangeschossen, verschloss die Pistole und entriss sie der Hand des Geweihten.
Ein Spinnennetz.

„Nicht meine Tochter, du Schlampe."

***

Ihr glaubt gar nicht, wie episch es sich angefühlt hat, diese letzten Worte zu schreiben. Jetzt geht es Schlag auf Schlag - die Mandarine hat sich enttarnt. Und, ja, das ist das sagenumwobene "Projekt Apfelsine". Wenn ihr jetzt noch verwirrt seid, keine Sorge, später folgen noch Erklärungen!😉

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