Scarlett ~ Löwin
Es war seltsam beruhigend, durch den düsteren, abweisenden Gang zu rennen.
Eigentlich war ich kein Fan von Joggen, aber die körperliche Anstrengung stellte einen Großteil meiner unruhigen Gedanken stumm. Außerdem war mein Anzug in Combat-Mode mein bester Freund, der sogar länger hielt als Olly-der-Schneemann – meine erste große Liebe. Aber dennoch war jegliches Lächeln von meinem Gesicht verschwunden, jetzt war auch ich in den Kampfmodus gerutscht, bereit, jeden Gegner aus dem Weg zu räumen.
Das Echo meiner Schritte trommelte gegen die runden Wände des Tunnels, kreierten beinahe den Eindruck, als wäre ich nicht allein unterwegs. Nun, genau das war ich momentan, aber nicht innerlich. Innerlich waren wir alle vereint, denn gerade kämpften wir für uns.
Der Kampf sollte aber nicht lang symbolisch bleiben, denn der Gang war kürzer, als ich erwartet hatte – und an seinem Ende erwartete mich bereits jemand. Ich war noch kurz orientierungslos, als die Beleuchtung plötzlich heller wurde, und genau in diesem Moment traf mich irgendetwas hart in der Seite. Ich keuchte auf, fing mich blind ab und fuhr herum, plötzlich in Angesicht zu Angesicht mit einem Geweihten. Der Raum hier war zu klein, als dass er seine Pistole hätte nutzen können, aber das Messer in seiner Hand blitzte im Schein der hellen Deckenleuchten auf. Mir blieb gerade noch genug Zeit, um meine Handballen kurz aneinanderzuschlagen, dann ging er schon wieder auf mich los.
Ich knurrte erbost auf, als ich beim Ausweichen seines Stichs mit dem Kopf heftig gegen die Wand schlug, und ein Vibrieren schüttelte meinen Körper. Das lag aber nicht am Aufprall, sondern an meinem Anzug, der jetzt unermüdlich arbeitete...
Als der Geweihte erneut zu mir herumwirbelte, schnellte mein Handballen auf seine Schulter zu – höher kam ich nicht. Doch obwohl ich genau traf, zuckte er nicht einmal zusammen, denn er war nicht nur gut gepanzert, sondern die Muskeln an der Stelle fingen auch das meiste ab. Nun war ich es, die in Bedrängnis kam, als der Riese mich an die kühle Steinwand dränge und mit seiner Stichwaffe erneut auf mich zielte. Durch den geringen Platz konnte ich kaum ausweichen, und die Klinge riss meine Haut oberhalb der Augenbraue auf.
Mein Blick fiel auf das hämische Grinsen des Fremden, der genau wusste, dass eine derartige Wunde ihm den sicheren Sieg beschert hätte, wenn mir das Blut von dort aus ins Augen laufen würde. Tja, Konjunktiv zwei, Kumpel.
Meine Mimik wurde ein exaktes Spiegelbild der seinen, als mein Anzug die null Kelvin erreichte und einen Energieboost durch meine Adern jagte. Während normale Moleküle bei den Temperaturen erstarrten, liefen meine zu Höchstleistungen auf.
Ich ließ dem Geweihten nicht einmal genug Zeit, zu realisieren, was hier gerade geschah, als ich unter seinem Messerarm hinwegtauchte und plötzlich hinter ihm war. Zielgerichtet landete mein Fuß in seiner Kniekehle, und der Riese sackte zusammen, bevor ich seinen Kopf mit meiner Hand ruckartig nach vorn stieß – wo er heftig mit der Wand kollidierte und bewusstlos liegenblieb.
„Das war einfach", lächelte ich, nicht einmal außer Atem.
Der Öffnung des alten Eisenbahntunnels hinter mir warf ich nur einen kurzen, prüfenden Blick zu. Sehen konnte ich darin sowieso nicht viel, aber auch mein Gehör verriet mir kein Anzeichen von Hunter. Er schien doch den anderen Weg gewählt zu haben, aber er würde schon klarkommen. Ich war ziemlich sicher, dass irgendeine merkwürdige Zwillingsverbindung in meinem Kopf Alarm schlagen würde, sollte er mich brauchen.
Entschlossen wandte ich mich also nach vorn, bereit dazu, alles aus dem Weg zu räumen, was sich mir mutwillig entgegenstellte.
Der Raum, in den mich die Tür führte, maß ein Vielfaches der kleinen Kammer hinter mir. Die Decke war hoch und gewölbt, was auf eine seltsame Art und Weise eine erhabene, mächtige Atmosphäre schaffte. Die Wände waren wie üblich steinern, nur grob verputzt und dunkel gehalten. Hier hätten bestimmt fünfzig Leute Platz gefunden, aber anwesend waren nur zwei – und zwar hinter mir.
Ich zuckte heftig zusammen, als die Tür außerhalb meiner Sichtweite mit einem dumpfen Knallen ins Schloss fiel und fuhr herum. Anders als der Geweihte von gerade eben hatten diese beiden Pistolen auf mich gerichtet, aber sie waren genauso kräftig und schwarzgekleidet.
„Kommt schon, wollt ihr euch nicht jemanden in eurer Größe suchen?", maulte ich sie augenverdrehend an, während ich mit erhobenen Händen Schritt für Schritt zurückwich. Aus meiner Stimme sprachen nur gelangweilter Unmut und entspannte Überlegenheit, aber innerlich war ich angespannt. Auch diese beiden würde ich ganz sicher überwältigen können, aber das könnte mich mehr kosten als einen Kratzer an der Stirn. Doch noch bevor ich mich für eine Taktik entscheiden konnte, flog erneut eine Tür auf, diesmal die Doppelflügel gegenüber vom anderen Eingang, denen ich mich jetzt gefährlich genähert hatte.
Mit einem Sprung brachte ich mich näher an die linke Seitenwand, doch obwohl der Saal riesig war, konnte ich hier nicht ausweichen – denn die Geweihten, die jetzt hereinströmten, waren viel zu zahlreich. Mein Atem stockte, meine Augen weiteten sich entsetzt, und obwohl ich es niemals zulassen wollte, verließ ein leises Wimmern meine Kehle. Die Situation hatte sich innerhalb von Sekunden zu einem Alptraum gewendet, denn nicht einmal aller Frost der Welt könnte mich hier jetzt rausholen.
Mein Herz raste, pumpte das kalte Blut wie einen reißenden Strom durch meine Venen. Doch mein Atem bildete keine Wolken in der Luft – dazu war mir viel zu warm. Schweißtropfen standen auf meiner Stirn, als heiße Panik durch meinen Körper wogte und meine Dolchhand zum Zittern brachte.
Aber auch mit jeder noch so kontrollierten Messerführung hätte ich keine Chance gehabt.
Von den zwei Dutzend Geweihten vor mir war die einzige, die keine Pistole auf mich ausgerichtet hatte, Uru.
Katzengleich trat die Anführerin des East Coast Rings zwei Schritte vor, ihre matten braunen Augen ohne Unterlass auf mich gerichtet. Ihre Lakaien öffneten ihre Reihen für sie, machten ihr unterwürfig Platz, aber ihre Schusswaffen ließen mich für keinen Moment aus dem Fokus. Auch ich wäre vor ihr zurückgewichen, denn obwohl sie nur Lederkleidung trug, wirkte sie um ein Vielfaches bedrohlicher als die kampfbereiten Geweihten.
War sie auch.
„Tötet sie", schnarrte die Löwin. Ihr Ton war nicht kalt, was ich hätte ertragen können, sondern so warm und sanft, dass ich zitterte wie Espenlaub. Schon die entsicherten Trigger hallten wie Schüsse von den hohen Steinwänden wider, fuhren wie ein Kugelhagel auf mein empfindliches Gehör ein.
Zum ersten Mal in meinem Leben breitete sich eine Gänsehaut auf meinem Körper aus, und Schauer quälten mich wie im Schüttelfrost.
Das war die nackte Todesangst.
***
Die Situation spitzt sich immer weiter zu. Gerade sieht es ja so aus, als würde Hunter sich einen Bunten machen, während Scarlett in Lebensgefahr gerät... Das kann ja so nicht weitergehen, oder?😉
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