Scarlett ~ Kompass

Als der erste Knall ertönte, schrie ich auf wie ein verletztes Tier. Doch ich spürte keinen Schuss, wurde nicht getroffen – wie auch, das Geräusch kam von der Tür, die jemand hastig aufgestoßen hatte.
Für einen winzigen Moment schwand die Kälte in mir, und ich begrüßte die Wärme sehnsuchtsvoll – doch genauso schnell, wie die Hoffnung aufgewallt war, wurde sie wieder zunichte gemacht. Zwei weitere Geweihte waren hereingetreten, zwischen sich – T'Chada.
Ein Wimmern entwich mir, und ich biss mir auf die Unterlippe. Mein Herz wummerte so schnell, dass es schmerzte – denn auch mit meinem Cousin hatte ich hier keine Chance. Der hochgewachsene Glatzkopf, der seine Pistole an T'Chadas Schläfe presste, führte sein grausames Trio zielstrebig an Uru vorbei auf die Ecke zu, gegen die ich meinen Rücken presste – und vom heftigen Stoß des Geweihten taumelte mein Cousin mehrere Schritte vorwärts, gegen mich.

Wir hätten beide Trost gebraucht. Eine Umarmung. Auch wenn es die erste und letzte gewesen wäre.
Aber ich konnte mich nicht rühren bis auf das Zittern, das die Panik durch meine Glieder jagte.

„Taka und Scar", schnurrte Uru in dieser weichen Tonlage, die erschreckender war als alles andere – und mich erneut wimmern ließ. T'Chada neben mir atmete schwer, rührte sich aber nicht um Zentimeter – und mir gelang es nicht, auch nur einen Blick auf ihn zu werfen. Mein gesamter Fokus lag auf der Frau, die im Begriff war, mich zu töten.
Ich wollte nicht sterben...

„Eigentlich solltet ihr eine Seele sein", seufzte die Löwin, ihre im fahlen Licht noch klauenhafter wirkende Fingernägel betrachtend, „Und du, Taka, mir wie ein Sohn... Deine zweite Hälfte hat dich vergiftet." Mein Herz setzte einen Schlag aus, als ihr strenger Blick auf mich traf. „Nun, vielleicht kommst du zur Vernunft, wenn ich sie vor deinen Augen töte." Uru kicherte leise, und fügte mit neckisch schief gelegtem Kopf hinzu: „Auch wenn das natürlich nur ein Vorwand ist. Sterben wirst du heute auch, mein Sohn." Sie legte den Kopf in den Nacken, ließ genüsslich ihre Wirbel knacken – und lenkte ihren Fokus dann wieder auf ihre Beute. Mich.

„Die Kleine zuerst."
Mein gesamter Körper verkrampfte sich, und in meinen Ohren rauschte es. Fast hätte ich T'Chadas verzweifelten Ausruf nicht gehört... „Nein, Uru, bitte nicht! Es reicht doch, wenn du einen von uns umgebracht hast... Bitte, du hast- ... du hast doch Hunter bereits getötet..."
Doch, ich hatte es gehört.

Was bitte sollte das bedeuten?
Ich legte meinen Kopf schief, plötzlich nicht mehr panisch. Einfach nur... verwirrt. Ich kehrte den Geweihten den Rücken zu, blickte meinem Cousin in die weit aufgerissenen Augen. Ein Lächeln auf den Lippen.

Er redete wirr, T'Chada. Das war- ... amüsant. War es amüsant?
Seine Lippen bewegten sich.
Kein Ton erreichte meine Ohren, aber ich wusste, was er sagte.
Hunter ist tot.
Einer von uns. Tot.
Dein Zwilling. Tot.
Du. Tot.

Jemand schrie.
Mitleidig verzog ich mein Gesicht, milde entsetzt. Trotz der dumpfen Blase um mich herum hatte dieses eine Geräusch mich erreicht.
Es war ein schrecklicher Laut.
Sie klang so unglaublich verletzt... als hätte man ihr alles genommen.
Hatte man auch.

Und dann stürmten die Eindrücke wieder auf mich ein.
T'Chadas schweres, schnelles Atmen.
Mein Schrei – der tief aus meiner Brust kam. Da, wo ich in Flammen stand, Flammen, die viel zu schnell erstarben. Wo nichts ist, kann nichts brennen.
Die Hitze, die verschwand.
Die Kälte.
Ich fror erbärmlich.

Hunter war tot.
Ich verstummte, erstarrte.
Keine Träne verließ meine Augen und kein Wimmern meine Lippen.
Es hatte noch niemand eine Regung erfunden, die beschreiben konnte, was ich fühlte.
Dabei war es nicht viel, was ich fühlte.
Leben? Ohne Herz ist man nicht lebensfähig.
Angst? Wovor sollte ich mich noch fürchten?
Eigene Todesangst war unglaublich lächerlich. Egoistisch. Ich war nicht egoistisch – dachte nie nur an mich, sondern immer an uns. Es gab kein ich.
Hoffnung? Für einen Wimpernschlag glitt mein Blick zur Tür, doch vergeblich.
Ich lag in Trümmern. Und er kam nicht.

Das einzige Gefühl, das in mir präsent war, war das vertrauteste von allen. Der innere Drang, zu meinem Zwilling zu kommen.
Hunter.
Wie ein Kompass drehte ich mich, nach meiner inneren Nadel, die auf Home zeigte. Zu Hunter.
Meine Augen richteten sich nach vorn, zu meinem einzigen Ausweg.

Sie würden mich in mein Geweihtes Land bringen, die Geweihten.
Mich erlösen.
Den Kreis schließen.

Mein Herz setzte einen Schlag aus, als ich die Mafiosi sah, die allesamt als Leichen auf dem Boden lagen.
Ihre Arterien und Venen gesprengt, als ihr Blut gefroren war.
Doch nach dem Anblick des Schreckens schlug mein Herz weiter.

Ich deaktivierte meinen Anzug, breitete die Arme aus.
Kein Stoff trennte sie nunmehr von der tödlichen Kälte, die ihren Soll bei den Geweihten so zuverlässig erfüllt hatte.
Doch zum ersten Mal verweigerte sie mir ihren Dienst.
Es war dieser Moment, in dem ich das Entsetzliche realisierte – ich konnte nicht erfrieren.

Und mein Atem wurde schneller.
Mein Blick irrte umher, Hunter.
Hunter!
Ich drehte mich um die eigene Achse, suchend, suchend – ruhelos.
HUNTER!

Vor T'Chada kam ich zum Halt.
Seine Augen verhakten sich mit meinen, hielten sie fest – hielten sie davon ab, nach ihrem Leben zu suchen.
„Du bist zu cool, um wahr zu sein", drang seine Stimme wie durch Watte zu mir, doch ich verstand ihn nicht. „Etwas Hitze gefällig?"

Er packte mich an den Schultern, zog mich dicht an sich heran. In seinem dunklen Blick lag ein Funkeln... Ein ehrlicher, offener Lebensfunke, der mich in seinen Bann zog.
Als seine Lippen mit meinen kollidierten, standen wir beide in Flammen.
T'Chada presste mich gegen die Steinwand, deren Kälte ich nicht mehr spürte, und fuhr mit seinem Daumen hungrig über meinen Kiefer. Hungrig nach Leben.

Verzweifelt erwiderte ich den Kuss, fuhr mit meinen Lippen über seinen rauen Mund... Unser Kuss zeugte von ungezügelten Emotionen, jahrelanger Aggression und überstandener Todesangst.
Ich fürchtete den Tod nicht mehr.
Mit meinen Händen auf seiner Brust wich ich für wenige Millimeter von T'Chada zurück.
Seine behandschuhten Fingerspitzen der rechten Hand lagen genau auf meiner flatternden Halsschlagader, die beständig gegen die Berührung pochte... Ein winziger Vogel, der danach verlangte, freigelassen zu werden.

Meine Finger legten sich um das Handgelenk meines Gegenübers, darum flehend, dass er sich nicht zurückzog.
„Töte mich", wisperte ich, „Bitte, Chad."

***

Sie hat ihn Chad genannt. Und ein Zitat aus Iron Kid verwendet.
Mehr kann ich dazu nicht sagen.

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