Scarlett ~ Farben
Um mich herum waren viel zu viele Farben.
Mein Kopf kam damit gerade absolut nicht klar. Ich ging unter in diesem grellbunten Strudel, der viel zu viel war, um irgendeinen klaren Gedanken zu fassen.
Vielleicht waren es auch Geräusche...
Stühle scharrten über den Boden, Menschen redeten durcheinander, irgendwer versuchte vergeblich, Ruhe zu schaffen. Meine Ohren dröhnten, ich hörte mein Blut durch meinen Körper pochen...
Vielleicht waren es auch Gefühle.
Nia. Weg.
Unser Küken, deren Sicherheit unsere oberste Priorität war.
Verdammt, hatten wir ihr nicht geraten, die letzte Stunde zu schwänzen? Allein zum Einkaufszentrum zu gehen?!
„Peggy!"
Mit beschleunigter Atmung blickte ich mich um, konnte die Blondine aber nirgends ausmachen. Da waren nur Schemen um mich herum, in ständiger Hast, wie in einem summenden Bienenstock. Ich erkannte niemanden mehr, spürte nur die Schweißtropfen auf meiner Stirn und die unerträgliche Hitze von außerhalb und meinem Inneren.
Dann wurde ich von jemandem hochgezogen, blickte in seine grünen Augen. Mein Dad legte mir eine Hand auf die Stirn, seine blau gewordene Haut, die so herrlich kühlend war.
Er sagte nichts, sah mich einfach nur an.
„Hunter", murmelte ich träge, verfasste den einzigen Gedanken in Worte, den ich zu fassen bekam.
Dad rief meinen Bruder zu uns, der mir ohne Kommentar die Handschuhe aus seiner Hoodietasche reichte. Seine geschickten Finger umspielten sanft meine Hände, schlossen eilig die Schnallen – so zielstrebig, als wären diese einfachen Bewegungen seine wichtigste Profession.
Sekunden später, und ich war wieder in meinem Element.
Nachdem sich der schwarze Anzug über mir ausgebreitet hatte, nickte Dad mir zu und verschwand mit Hunter aus der Tür, und ich stellte mich kurzerhand auf meinen Stuhl. Hinter meiner Stirn pochte es, aber die Kälte vertrieb den Kopfschmerz und klärte meine Sicht. Die meisten Avengers schienen sich wieder halbwegs im Griff zu haben, Vision brachte gerade seine schreiende Tochter aus dem Raum – vermutlich in die Kältekammer, das half bei zu viel Gedankenimpakt. Peggy saß bei Mom und Morgan vor den Holos, vermutlich unser Gespräch nacherzählend, und Gramps hatte einen Arm um Peter gelegt, nervös abwartend.
Alle anderen waren verschwunden, Nia suchen.
Ich stieg über den Tisch, ignorierte das springende Porzellan und sprang neben Peter wieder auf den Boden, seinen Fokus auf mich ziehend. „Nia ist anstelle der sechsten Stunde ein Geschenk für dich kaufen gegangen, sie hat uns davon erzählt." Meine Worte waren kalt und knapp, auf die Informationen beschränkt – die Emotionen ließ ich im kühlen Modus gern außer Acht.
Schluckend sah der Vater unserer Jüngsten mich an. Auf seiner Stirn standen Schweißtropfen, aber sein Kiefer bebte und seine weiße Haut sah kalt aus.
Er sagte nichts mehr dazu, und ich auch nicht.
Natürlich könnte es eine harmlose Erklärung geben, aber genauso gut hätte eine außerirdische Kraft meine Cousine umbringen können. Wir sprachen hier von den Avengers... Es hatte nicht nur Vorteile, in diese Familie hineingeboren zu werden.
Und wie kampferprobt und stark sie auch waren, wenn etwas Derartiges passierte, brach Panik aus. Sie hatten schon zu viel verloren.
„Pete", sagte meine Mom schließlich, und ich wartete vergeblich auf das Zittern in ihrer Stimme. Sie schob ein Holo-Bild zu uns, Nia umzingelt von schwarzgekleideten Fremden. Das Bild war verschwommen, von irgendeiner Überwachungskamera, aber deswegen nicht weniger entsetzend. Nias brauner Haarschopf war nur von oben zu sehen, gegen eine gelbe Hauswand gepresst, doch die Schultasche, die sie fest mit ihrer linken Hand umklammert hatte, war eindeutig ihre. Ihre Entführer waren maskiert, hatten sie zu viert gestellt, richteten aber keine Waffen auf meine kleine Cousine. Das war wenigstens ein gutes Zeichen...
Nur aus den Augen Moms sprachen Horror und Mitgefühl, ansonsten war sie vollkommen ruhig. „Sieht so aus, als wäre sie entführt worden. Wir bekommen sie wieder."
Ihr Gegenüber atmete schwer, und das Kerzenlicht vom Geburtstagstisch spiegelte sich in seinen tränennassen Augen.
„Nein", war das Einzige, was er herausbrachte. Ich zuckte bei diesem einen Wort zusammen, trotz meines Schutzanzuges, denn es steckte so viel grenzenloser Schmerz darin...
„Peter..."
„Sie ist meine Tochter, Gracie." Mit einer heftigen Bewegung befreite er sich von Gramps und lief ein paar Schritte zur Wand, seine Haare raufend.
Mom hob ihre Hände leicht an, die Handflächen Peter zugewandt, und rückte ein winziges Stück von ihm ab – gab ihm Freiraum, lud ihn ein, zu ihr zu kommen. „Ich bin seine Tochter", sie nickte Tony zu, „Und Scarlett ist meine Tochter. Wir verstehen dich, Peter."
Unruhig griff ich nach Moms Arm, als der verzweifelte Vater nur den Kopf schüttelte. „Tut ihr nicht. Nicht so." Plötzlich schluchzte er auf, presste seine Handfläche gegen die Wand, als wäre sie sein einziger Halt. „Nicht schon wieder. Bitte nicht."
Mom warf mir einen entschuldigenden Blick zu und verließ meine Seite, Peter an den Schultern packend. „Spidey."
„Nenn mich nicht so!"
Gramps zog mich kurz an sich, und der Kloß in meinem Hals löste sich auf, als sein herber Duft in meine Nase stieg. Seine heisere Stimme drang ruhig an mein Ohr, als er wisperte: „Versammle die Watchers im Gemeinschaftsraum. Und zwar nur da, okay?" Er warf mir einen intensiven Blick zu, und als ich nickte, wandte er sich den beiden Menschen zu, die er wie Kinder liebte.
*
Wir saßen zu sechst im Gemeinschaftraum, Nate hatte Agnes im Arm; Peggy, Hunter und ich eng nebeneinander. Chad starrte allein auf der dritten Couch auf sein Handy, aber ich sah, dass seine Augen sich nicht bewegten. Ich schnaubte kurz, meinen Blick abwendend – klar, dass er uns gegenüber keine Schwäche zeigte. Es war völlig still im Raum, wir waren allein – das Einzige, was ich hörte, war der Atem meiner Familienmitglieder. Rechts von mir die gezwungen gleichmäßigen Züge meines Bruders, links das gehetzte Luftschnappen Peggys.
Dann jedoch zuckten wir alle sechs synchron zusammen, als die eigentlich automatische Tür ruckartig aufgestoßen wurde und einen scharfen Knall durch das Schweigen sandte. Morgan kam hereingestürmt, die dunklen Augen blitzend, und baute sich mit verschränkten Armen vor uns auf. „Peggy, ich muss vermutlich nicht erwähnen, wie unverantwortlich das war."
Überrascht suchte ich ihren Blick, der aber fest auf die Blonde gerichtet war. „Morgan?"
„Kein Kommentar dazu, Scarlett, ich weiß, dass der Vorschlag von Peggy kam. Und, ganz ehrlich, von einer Rogers hätte ich mehr erwartet."
Verdammt, das waren die falschen Worte: Peggy sprang auf, mit vor Wut und Angst zitternden Muskeln. „Wenn wir diese Schiene fahren, warum opferst du nicht dein Leben, um Nia zu retten? Besser noch, die ganze Welt?" Morgan zuckte kurz zusammen, und meine Hand krampfte sich um Hunters. Doch Peggy endete nur mit einem eiskalten „Ich bin genauso wenig mein Vater wie du deiner, Morgan."
Unsere Anführerin raufte sich die Haare, und nach einem prüfenden Blick zu Queenie stand Nate auf, seine Verlobte an der Hand nehmend. „Komm her, Neunmalklug, Anschuldigungen helfen niemandem. Raff deine wirbelnden Gedanken zusammen und bring uns vorwärts." Seine Worte hatten genau das richtige Maß an Härte, sein Ton genau das richtige Maß an Sanftmut. Ohne Nate wären wir schon längst untergegangen.
„Okay. Okay", Morgan atmete tief durch, „Sorry. Und danke, Algenhirn." Ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen, aber nur für einen winzigen Moment. Peggy ließ sich wieder neben mich fallen, Agnes auf dem Sofa schräg neben ihr einen entschuldigenden Blick zuwerfend.
„Als die Watchers gegründet wurden, war ich siebzehn und damit die Älteste", sortierte Morgan ihre Gedanken laut, „Die Zwillinge, als jüngste, neun. Ein Jahr jünger als Antonia jetzt. Sie wird fähig sein, eine Weile allein durchzuhalten. Das Problem: Sie hat keine Superkräfte, und keinerlei Erfahrung. Ich habe Peter schon einmal gesagt, dass es nicht von Vorteil ist, wenn er seine Tochter in Watte packt. Zu spät."
Sie schüttelte ihren Kopf, presste sich die Hände gegen die Schläfen. „Queenie?"
Die sensible Blondine verzog kurz das Gesicht, sprang aber ein: „Du verstehst Peter. Wir alle verstehen Peter."
Von der anderen Seite des Sofas erklang ein Schnauben: „Komm auf den Punkt." T'Chada, wer auch sonst. Meine Nasenflügel blähten sich, als mein Unterbewusstsein ihm zustimmte.
„Wir werden alles tun, um Nia zu beschützen, so, wie es unsere Aufgabe ist", sagte Queenie nachdenklich, „Auch wenn die Avengers uns nicht machen lassen werden. Das ist uns egal."
Morgan nickte knapp, und ich spürte, wie Hunter neben mir sich leicht anspannte.
„Wie?", fragte Queenie, uns der Reihe nach ansehend. Mit einer ruckartigen Bewegung legte sie ein Kopf schief, wie ein nervöser Vogel. „Gute Frage."
Doch jetzt war Morgan wieder völlig in ihrem Element: „Wenn meine Prognose richtig ist und die Geweihten schuld sind", murmelte sie, nun mit kräftigerer Stimme, „Dann haben sie einen entscheidenden Fehler gemacht. Nia war nicht allein, das ist sie nie.
We're watching them."
***
Das Bild obendrüber ist übrigens Nate (oder Nathaniel Pietro Barton, falls das noch nicht ersichtlich war), den ich kurzerhand von Hunter Johansson habe spielen lassen... Ich konnte es einfach nicht lassen.
Nächste Woche kommt die Handlung dann auch so langsam in Schwung. Außerdem ist ein Teil der Aufklärung des Prologs am Freitag enthalten... Auch wenn dieses Detail recht einfach zu erraten ist.😉
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