Scarlett ~ Essay
„Familia. Aus dem Lateinischen allgemein als Familie übersetzt, bedeutet es genauso – Dienerschaft. Leibeigenschaft. Gefangenschaft. Weder wählbar, noch neutral – es bedeutet unfreiwillig gebunden sein an ein großes Ganzes, das in meinem Fall zwar groß, aber sicher nicht ganz ist. Es gibt Momente, Minuten, Millisekunden – da wünsche ich mir, es sei andersherum. Eine Gruppe von Libertia, Freigelassenen, die zwar nicht groß, aber ganz sind."
Mit einem provokanten Funkeln in den Augen, aber einem zufriedenen Lächeln ließ ich meinen Kuli einfahren und lehnte mich in meinem Stuhl zurück. Mr. Brühl am Lehrertisch sah nur kurz auf, als ich raschelnd in meinem Rucksack nach meiner Wasserflasche kramte – er war es gewohnt, dass ich früher fertig war, wenn es um Essays ging. Darüber vergaß ich sogar die Wärme im Raum, denn einerseits saß ich am geöffneten Fenster und andererseits waren Essays genau mein Thema – ob nun Spanisch oder Englisch war mir da egal. Was wollte man auch mehr? Beim Thema mussten man nicht bleiben, Hauptsache, es wurde stilistisch gut verpackt – und das wurde meiner inneren stark'schen Dramaqueen schon in die Wiege gelegt.
Der Reißverschluss meiner Schultasche durchbrach die Stille in der Klasse wie eine Säge, da von allen anderen höchstens ein Papierrascheln kam. Nur Sierra auf der Bank vor mir war bereits fertig, aber sie blieb still sitzen und starrte nur gedankenverloren ins Nichts – schließlich war Spanisch ihre Muttersprache, sie musste wirklich gelangweilt sein.
Mit der Stille jedenfalls war es kurz darauf vorbei, da das Klingelzeichen die erste Hälfte der Spanisch-Doppelstunde beendete und das letzte Kratzen von Kulimienen auf Papier vom Gequatsche überlagert wurde.
Ich drehte mich auf meinem Stuhl nach rechts, wo Jenny saß, aber die hing schon wieder nur an den Lippen ihres Freundes. Und zwar nicht mit den Augen.
Meine Augen jedenfalls verdrehte ich prompt und wandte mich kurzerhand dem anderen Lockenkopf zu, der vor mir ebenfalls allein saß. Auf mein „Sierra" drehte sie sich sofort um, und ihre dunklen Augen sahen mich fragend an. „Was ist los?"
Ihr Ausdruck wirkte besorgt, und ich zog irritiert die Augenbrauen hoch. Dieses Mädchen hatte nicht nur die großen, braunen Augen eines Rehs, sondern war mindestens genauso scheu. Dabei kannten wir uns seit mehr als sieben Jahren und kamen gut miteinander aus.
„Nichts, ich wollte nur fragen, ob du am Wochenende was vorhast."
Ich hob gezwungenermaßen einen Mundwinkel leicht an. Ich hatte nicht unbedingt Ambitionen, heute schon wieder zu meiner Familie zurückzukehren, und Jenny war garantiert wieder mit Jeff beschäftigt. Mit Sierra war ich früher öfter in die Bibliothek gegangen und danach Eisessen, was einen freien Tag definitiv perfekt machte.
Sie verzog aber ihre fein geschwungenen Lippen zu einem entschuldigenden Lächeln und spielte an einer ihrer dunkelbraunen Strähnen, bevor sie langsam antwortete: „Schon... Also, ich fahre gleich nach der Stunde zu meiner Mutter... und komme erst Montag pünktlich zu Mathe wieder her." Sie seufzte kurz leise und sah mir dann noch einmal in die Augen: „Tut mir wirklich leid."
„Hey, schon okay", ich schenkte ihr ein schiefes Lächeln, von dem sie theoretisch nicht bemerken dürfte, dass es meine Augen nicht erreichte. Zumindest hoffte ich das, Hunter hatte seine Mimik definitiv besser unter Kontrolle als ich.
Bei dem Gedanken fiel jegliche Freude sofort wieder aus meinem Gesicht, und ich erkannte, wie Sierras Finger sich sofort fester um ihre Stuhllehne klammerten.
Trotzdem lag ihr Blick hinter den braunen Locken zögernd auf mir, und als sie das nächste Mal zum Sprechen ansetzte, war ihre Stimme noch leiser geworden. „Dein Bruder ist nicht in Texas, oder?"
Ich erstarrte. Mein Herz klopfte bis zum Hals, und meine Hände verkrampften sich um die Tischkante. „Wie kommst du bitte darauf? Natürlich ist er das." Meine Stimme war viel zu rau, um glaubwürdig zu klingen.
Und sie zitterte.
Ich war nicht mein Bruder. Nicht Hoodwink, der sein Auftreten unter völliger Kontrolle hatte. Ich war eine rohe Naturgewalt, und meine Emotionen ließen sich nicht in Formen pressen... schon gar nicht, wenn der eine nicht da war, um dessen Willen ich mich immer zurückhalten würde.
„Ich beobachte viel." Sierras leise Worte drangen an mein Ohr, und meine Augen schossen sofort zu ihrem Gesicht. Ihr Ausdruck war vorsichtig, aber um ihre Lippen kräuselte sich ein leichtes Lächeln. „Er würde dich niemals verlassen. Er ist nicht der großspurige Schulschwarm, als der er sich hier gibt... Sondern ein Beschützer."
Ihre Wangen röteten sich leicht, als hätte sie unabsichtlich zu viel gesagt.
Diesen Angriffspunkt erkennend knurrte ich vielleicht etwas zu grob: „Dann pass auf, dass der Fanclub des Schulschwarms diese Worte nicht in die Ohren bekommt – sie könnten ja beinahe von dir denken, du würdest auf ihn stehen."
Ich sah deutlich, wie das Mädchen vor mir schluckte, aber erstaunlicherweise hielt sie meinem Blick stand. „Hunter ist ein guter Mensch, und du auch." Ihre Finger zitterten nicht, als sie sich eine Locke hinters Ohr schob. „Ich auch, glaube ich. Ich werde euch nicht verraten und auch nicht weiter nachforschen, aber... wenn ihr reden wollt, bin ich da. Ihr wisst, dass ich schweigen kann."
Sie lächelte wieder scheu, und ich erkannte an ihrem Blick, dass sie jedes ihrer Worte ernst meinte.
Ich sah sie nur noch kurz an, versuchte gar nicht erst, meine Mundwinkel auch nach oben zu zwingen. „Zumindest in dem Punkt hast du recht, dass du ein guter Mensch bist."
Man konnte förmlich sehen, wie die Gedanken hinter ihrer sonnengebräunten Stirn wirbelten, doch bevor sie noch etwas sagen konnte, stand Mr. Brühl pünktlich zum Stundenklingeln auf. Sierra, vorbildlich wie immer, drehte sich sofort um, als unser Lehrer um Aufmerksamkeit bat. „Ihr solltet mittlerweile alle mit den Essays zum Thema „Familie" fertig sein." Er warf Luca und Jonah einen kurzen Seitenblick zu, die in der ersten Hälfte der Stunde nur irgendwelche Sinnlosigkeiten gemacht hatten und jetzt ganz sicher nicht fertig waren, fuhr dann aber fort: „Tauscht die Essays bitte mit eurem Sitznachbarn und korrigiert sie euch. Sierra, Scarlett, Chad – ihr könnt zu dritt arbeiten."
Fast augenblicklich überkam mich das dringende Bedürfnis, meine Stirn der Tischplatte vorzustellen.
Ich hätte es mir denken können – wir waren die einzigen drei ohne Partner. Aber gut, seit Peggy meinen Cousin angeschnauzt hatte, weil ihr Auto demoliert war, konnte ich ihn sogar mit einem Anflug von Genugtuung in meine Gedanken lassen.
Ich rückte meinen Stuhl bis ans Fenster, damit T'Chada neben mir Platz nehmen konnte, der sich mit finsterer Miene um die Tische schlängelte. Seinen Essay klatschte er lustlos auf meinen Tisch, bevor er sich auf den Stuhl fallen ließ und ohne weiteren Kommentar meine Blätter an sich zog.
„Ein wahrer Sonnenschein", grinste ich Sierra zu, aus der Schadenfreude über seine offensichtliche Unzufriedenheit Kraft schöpfend. Mit dieser Motivation nahm ihren Essay entgegen, drei sauber und eng beschriebene Blätter, auf denen ich garantiert nicht einen Fehler finden würde.
Meinen Rücken bequem gegen die Wand lehnend, direkt im Zug des Fensters, vertiefte ich mich in die spanischen Worte. Doch schon nach dem Lesen der ersten Abschnitte von Sierras sanft geschwungener Schrift stellte ich einige andere hochinteressante Dinge fest – ihre Umstände waren weitaus weniger ruhig als meine Freundin selbst. Ihre „Familia" setzte sie mit „Fastidiar" gleich, Schwierigkeiten.
Für einen winzigen Moment sah ich auf, doch die Spanierin war noch über T'Chadas Gekritzel gebeugt, sodass sie nicht bemerkte, wie ich sie nachdenklich musterte – wenn sie schon schrieb, dass ihre Madre manchmal malo sein konnte, musste es bei ihr wirklich unschön zugehen. Und sie hatte mir eben erst gesagt, dass sie ihre Mutter am Wochenende sehen würde... Ich wusste, dass Sierras Eltern seit fünf Jahren getrennt waren und dass sie normalerweise bei ihrem Vater lebte, jetzt kannte ich auch den Grund.
Doch der Schluss ihres Essays sandte einen Schauer meinen Rücken hinunter.
„Es tut gut, diese Worte niederschreiben zu können. Ich kann nicht reden wie eine Lebende, weil ich dann schweigen würde wie eine Tote. Also schweige ich wie ein Grab."
Mein Blick auf die spanischen Worte wurde immer intensiver – ich versuchte so stark, mich zu konzentrieren, dass meine Sicht wieder verschwamm. Genervt wischte ich mir die Schweißtropfen von der Stirn und verfluchte einmal mehr den Sommer... und meinen Cousin, dessen leises, hämisches Lachen meine Aufmerksamkeit von Sierras Essay wegriss.
Verärgert starrte ich ihm in die matten Augen – das provokante Grinsen erreichte sie nicht. Ganz toll, womit auch immer er mich jetzt beleidigen würde – er tat es nicht aus Überzeugung, sondern nur um der Beleidigung Willen. Ich fühlte mich geehrt.
„Du willst also, dass deine Familie kleiner wird?" Er schob seinen Kopf etwas vor, doch gleichzeitig wanderten seine Schultern kaum merklich höher – eine unterbewusste Bewegung, die seinen eigenen Hals schützen sollte und mich in diesem Moment derartig an einen lauernden Löwen erinnerte, dass ich beinahe zurückwich.
Aber nur beinahe. Kit Cool wich vor Black Lion nicht zurück.
T'Chada vervollständigte seinen mentalen Angriff: „Wer weiß, vielleicht ist sie im Begriff, sich zu verkleinern. Hier ein Bruder weniger, da eine Cousine weg..."
Darauf sagte ich nichts. Sah ihn einfach nur an... und er konnte den Blick nicht abwenden. Seine matten Augen blitzten für einen Moment auf, und sein Atem beschleunigte sich – er bereute, was er gesagt hatte.
Meine Mundwinkel zuckten, dann wurde mein Blick bis ins Bodenlose verächtlich.
Chads Unterkiefer spannte sich an und an seinem Hals trat eine Ader hervor, und ich legte meinen Kopf um Millimeter schief. Noch bevor eskalieren konnte, was auch immer hier gerade vorging, unterbrach Sierra unseren inneren Zweikampf, den Essay meines Cousins über den Tisch schiebend.
„Was soll das heißen?" Ihre Stimme war noch leiser als gewöhnlich und ihr Finger zitterte leicht, als sie auf ein unlesbares Wort am Ende der Seite deutete.
„Lesen hast du aber schon gelernt, oder?", schnaubte T'Chada, und ich sah deutlich, wie er sich entspannte, als Sierra zusammenzuckte. „El generatión."
Sie nickte nur knapp und las weiter, während ich meinem Cousin einen Vogel zeigte. Obwohl sein Essay der kürzeste war und sie fließend Spanisch lesen konnte, brauchte Sierra am längsten, weil die Handschrift meines Cousins wirklich grausam war. Das „g" von generatión war so verschlungen gewesen, dass es ohne Kontext vor allem am Anfang des Wortes kaum zu entziffern war.
Seufzend wanderte mein Blick zur Uhr über dem Whiteboard, wo der Sekundenzeiger zu schleichen schien.
***
Wie versprochen gibt es schon heute das nächste Kapitel. Ich glaube, ich finde die neue Regelung gar nicht schlecht, weil so dann immer Kapitel aus beiden Sichten an zwei aufeinanderfolgenden Tagen kommen.
Nun, dieses hier ist jedenfalls wichtig für den Gesamtverlauf... ich bin gespannt, ob jemand das Easteregg findet!😉
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