Scarlett ~ Eskalation
Ich konnte mich nicht entscheiden, was unerträglicher war – das genauso end- wie sinnlose Gequatsche Adrians über seine Vorfahren oder die genau gegensätzliche Stille von meinem Bruder. Ich wagte es nicht, meine Aufmerksamkeit auch nur in seine Richtung zu lenken, sondern hatte stattdessen ein dermaßen gezwungenes Lächeln aufgesetzt, dass es eigentlich sogar ein Fremder hätte enttarnen müssen. Brainy war aber dermaßen auf sich und seinen „Ururgroßvater Philipp von Brabant" fixiert, dass er mir keine große Beachtung schenkte. Trotzdem ließ ich immer mal wieder ein Nicken und andächtiges Wimpernschlagen sehen, für den Fall, dass er seinen Blick doch mal von seinen Vorfahren abwenden konnte. Kein Wunder, dass ich in diesem Haus bisher keinen Spiegel gesehen hatte, Mr. Arrogant würde ja stundenlang davor hängenbleiben.
Ein Gutes hatte aber Adrians Egozentrik – er schien Hunter völlig vergessen zu haben, ganz im Gegensatz zu mir. Meine Aufmerksamkeit hatte den Schwarzhaarigen völlig verlassen, als ich aus dem Augenwinkel sah, wie Hunter wieder hinter seiner Säule hervortrat. Meine Augen schmerzten, als ich versuchte, so viel wie möglich von meinem Bruder zu sehen, ohne meinen Kopf zu drehen – Hunter bewegte sich die letzten Schritte zur Tür und schien den Stick auf dem Schlüsselkasten daneben abgelegt zu haben.
Sobald mein Bruder wieder entspannt dastand, als hätte er sich in den letzten Minuten nicht bewegt, griff ich hastig zu meiner hinteren Hosentasche und zog mein Starkphone hervor. „Wer will denn jetzt...", murmelte ich scheinbar abwesend und sah Adrian aus dem Augenwinkel die Brauen hochziehen. Ich hatte WhatsApp geöffnet, und obwohl niemand mir geschrieben hatte, sog ich scharf die Luft ein. „Was?!"
Brainy zeigte nicht genug Interesse an anderen Personen, um nachzufragen, aber ich sah in dennoch fassungslos an, mein Handy entsetzt gesenkt. „Seymour ist tot! Unsere Katze... Unser Seymour!" Glücklicherweise saß mein Schock so tief, dass ich nicht einmal Tränen hervorbrachte, obwohl mein Körper eindrucksvoll zitterte. „Ich muss sofort nach Hause!"
Ohne eine Reaktion vom recht verdutzt dreinschauenden Hausherren abzuwarten, drehte ich auf meinen Fersen um und stürmte die lange Halle hinunter. An meinem Bruder rauschte ich vorbei, ohne ihm auch nur einen Blick zu schenken, aber er hatte mir trotzdem ein Zeichen hinterlassen. Am Whiteboard war jetzt das Montag von meiner Nachricht weggewischt, und stattdessen hatte er ein Morgen daraus gemacht.
Meine hastigen Schritte hallten von den hohen Wänden wider und hielten nur an der Tür inne, um nach dem Schlüssel auf dem Kasten daneben zu angeln. Wie zufällig ertasteten meine Finger dabei den Chip und ließen ihn in der vorderen Tasche meiner Jeans verschwinden, bevor ich mit bebenden Fingern den Schlüssel ins Schloss fummelte und dann endlich wieder ins Freie trat.
Es hatte alles reibungslos geklappt. Ohne Probleme.
Ich atmete tief die frische Luft ein, die zwar heiß war, mich durch meinen Anzug aber nicht störte. So kam ich nicht einmal ins Schwitzen, obwohl ich den Hügel nach Osten eilig herunterrannte. Ich war ein wenig in Zeitprobleme geraten, weil Jonah vorhin erst hatte tanken müssen – ich hätte ihm ja Peggys Auto angeboten, aber das sprang inzwischen nur noch bei zwei von drei Versuchen an. Meine kleine Rangelei mit Chad hatte wohl doch mehr Auswirkungen gehabt als erwartet...
Tja. Sobald ich das Buchenwäldchen betreten hatte, wo eigentlich Black Sparrow hätte warten sollen, war es vorbei mit dem glatten Ablauf.
Eigentlich war es ein wirklich friedlicher Wald. Es gab in der Mitte einen breiteren Weg, den ich aber ignorierte und stattdessen auf einem Wildwechsel zwischen die Schatten der Bäume trat. Zarte grüne Blätter von niedrigen Ästen streiften meine nackten Arme, das Licht war durch die dichten Kronen sanft grünlich und die Luft duftete herrlich nach Frische.
Aber als ich vor einem Baumriesen zum Halten kam, der wegen seiner ausladenden Äste etwas vereinzelt stand, erstarrte ich plötzlich – weil es sicher nicht Nate war, der von einem der untersten Zweige herabsprang und federnd vor mir zum Stehen kam.
„Tja, bis zum Black stimmt es ja noch", schnaubte ich spöttisch, „Aber wo ist der Sparrow geblieben?"
Mir genügte ein einziger Blick, um zu realisieren, dass es hier gleich brenzlig werden würde. T'Chada trug nicht wie üblicherweise Hoodie und Jeans, sondern hatte sich in eine enge, schwarze Militärhose gezwängt. Um seinen kräftigen Oberkörper spannte sich ein Muskelshirt, und die Krallen an seinen Handschuhen waren ausgefahren.
Nur in seinem Blick lag das übliche höhnische Funkeln: „Es war nie davon die Rede, dass Nate die Übergabe übernimmt. Er ist der Wächter im Wald drüben."
Mit verengten Augen ging ich in Schrittstellung, zur Verteidigung bereit, und zog lässig den Dolch aus meinem Gürtel. „Dann habt ihr also ganz plötzlich Farben getauscht, ja?"
Der silberne Punkt hier hatte eindeutig zu Nate gehört – uns beiden war klar, dass T'Chada mir eine Falle gelegt hatte. Die Frage war nur, was er sich davon versprach...
„Und uns beiden ist ebenfalls klar", vervollständigte ich meinen Gedanken, von dem ich wusste, dass mein Cousin ihn erraten hatte, „Dass ich dir den Stick nicht überlasse."
Mein Gegenüber nickte langsam, bewegte sich aber ansonsten nicht um Zentimeter – genauso wenig wie ich. Wir hatten noch nie ernsthaft gekämpft, nicht bis zum Ende zumindest. Im Training hatten sich bisher nur Nate und Peggy einmal bis zur Erschöpfung getrieben, und es war zur Überraschung aller nicht Jolly Rogers gewesen, die am Ende noch stand. Aber auch gegen Nate hatte ich schon kleinere Handgreiflichkeiten gewonnen, genauso wie T'Chada. Wir wussten beide, wie stark wir waren.
Es war Hochsommer, ich trug Alltagsklamotten über meinem Anzug und wir befanden uns inmitten von Bäumen.
Dieser dämliche Idiot hätte sich keine günstigeren Bedingungen für sich aussuchen können.
„Was bezweckst du hiermit, T'Chada?", fauchte ich angespannt, stets bereit, zur Seite zu springen.
„Einige von den Informationen dort darf Morgan nicht zu sehen bekommen", zuckte mein Cousin die Schultern, und ich hatte schon zu einem Ausfallschritt nach vorn angesetzt, da tat er einen Sprung zur Seite – sich sofort wieder stabilisierend. Ein leichtes Lächeln kräuselte sich um seine Lippen, als wir mit veränderten Positionen, aber genau demselben Abstand wie gerade eben voreinander standen. Ein Ast knackte unter meinem Gewicht und irgendwo rief ein Eichelhäher – die Vorgänge im Wald gingen ganz normal weiter.
Aber zwischen T'Chada und mir stieg die Spannung immer weiter an.
„Ich habe einen Plan", erklärte er bereitwillig, ohne seine Haltung zu ändern, „Aber du vertraust mir nicht genug. Weder, um ihn zu akzeptieren, noch, um mir den Stick zu überlassen."
Ich musste mich zwingen, meinen Dolch nicht zu fest zu umklammern, um nicht schon vor der Eskalation zu viel Kraft zu verlieren. Denn es war klar, dass die Situation explodieren würde – doch diesmal würde ich nicht zuerst angreifen. Ich war im Nachteil, aber irgendwas schien T'Chada trotzdem davon abzuhalten, sich auf mich zu stürzen.
„Ich habe Nate Bescheid gegeben, dass wir den Stick haben, aber die Geweihten zwischen uns und ihm stehen." Die Stimme meines Cousins war leise, aber klar – und genauso fest wie sein Stand. Er bereute nichts. „Er hat sich bereits zurückgezogen."
Es war nur ein einziges Wort übrig, das durch meine Gedanken pulsierte, aber dieses eine fasste all meine Emotionen perfekt zusammen.
„Verräter", spuckte ich meinem Cousin entgegen.
***
So, im übernächsten Kapitel wird es sehr interessant. Also, im nächsten natürlich auch... so langsam geht es auf den Höhepunkt zu.😉
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