Scarlett ~ Beifahrersitz

Als ich den Kursraum für Geschichte betrat und mein Blick das Whiteboard fiel, drehte ich auf meinen Fersen sofort wieder um und drängte mich gegen den Schülerstrom.

Mir war warm, ich war allein inmitten meiner Mitschüler und mein Drang, zu fliehen, war ins Unermessliche gewachsen. Weit kam ich dennoch nicht, denn Jenny – heute ein wahrer Energieball – machte mich trotz ihrer geringen Größe sofort zwischen den anderen aus. Ich sah nur ihre blauen Augen aufblitzen, dann hatten sich ihre Finger um mein Handgelenk geschlossen und sie zog mich mit sanfter Gewalt wieder in den Raum.
Ich verzog meine Mundwinkel und verdrehte die Augen, zu mehr Widerstand konnte ich mich nicht bewegen. Auf dem Weg durch den schrecklich hellen Klassenraum stieß ich beinahe gegen einen der weißen Zweiertische in der Mitte und musste einen der grünen Kunststoffstühle beiseite stoßen, mich nicht einmal umsehend, ob er stehenblieb.
Jenny jedoch warf die langen dunkelblonden Locken über die Schulter und blitzte mich an, kaum dass wir an unserem Fensterplatz in der vorletzten Reihe angekommen waren. „Wo ist dein Bruder?", fragte sie direkt – selbstverständlich, wenn es um ihre Leute ging, konnte die Klassensprecherin zur Furie werden.

Normalerweise mochte ich sie dafür.
Aber heute war nicht normal.
Heute war ich als Einzelki- ... ich war allein hier. Meine bessere Hälfte fehlte.
Ich behielt einfach mein Schweigen bei, litt stumm unter der Hitze und konzentrierte mich auf meinen schweren Atem.

Irgendwer trat von hinten an mich heran, und ich verschränkte meine Arme – sonst regte ich mich nicht.
Doch als die Person hinter mir dann zum Sprechen ansetzte, lief mir ein Schauer den Rücken herunter: „Hunter ist in Texas, bei ihren Cousinen Cassie und Lila. Da ich mich hier so wunderbar mache, dachte Gracie, es wäre eine gute Idee auch eines ihrer eigenen Kinder zu 'nem Halbjahr anderswo zu schicken... Und Hunter war sofort Feuer und Flamme. Kann sein, dass er ein Auge auf Cas geworfen hat."
Während Jenny langsam nickte, schnaufte ich wütend, aber nicht, weil T'Chadas Lügengeschichte schlecht war. Es konnte ja niemand wissen, dass Cooper ebenfalls bei seiner Schwester lebte und Cassie mit Lila zusammen war... Nein, Wakandas Prinz hatte mir gerade den Hals gerettet, aber ich weigerte mich, ihm jetzt dankbar zu sein.

Meinen Cousin weiterhin ignorierend ließ ich mich auf meinen Platz fallen und riss das Fenster weit auf, obwohl mein olivgrünes Top wirklich locker war. Es war trotzdem viel zu warm, und meine Miene sprach wohl für sich – Jenny widmete sich lieber ihrem Handy, vermutlich schrieb sie mit Jeff. Das war mir gerade völlig egal.

Frustriert lehnte ich mich gegen die Wand und wartete mit halb geschlossenen Augen auf Mr. Evans, der die Stunde begann, in der ich genauso wenig mitbekommen würde wie in Mathe eben. Ms. Wright war bereits an mir verzweifelt.

Mein ruheloser Blick schweifte durchs Fenster, das direkt auf den Innenhof blickte – und über den grauen Steinplatten flimmerte die Augusthitze.
Verdammte Wärme.
Mom musste dringend an einem subtileren Weg arbeiten, meinen Körper zu kühlen – auch wenn ich gerade kurz davor war, einfach den Anzug zu aktivieren, denn ich hatte genug.
Genug von dieser dämlichen Trägheit, die mich von meinem Bruder trennte! „Solang ich noch eine Schweißperle auf deiner Stirn sehe, bist du ein viel zu hohes Risiko für die Mission." Morgans harte, grausame, sinnvolle Worte.
Ein leises Knurren entwich meiner Kehle, und aus dem Augenwinkel sah ich, wie Jenny neben mir kurz hochzuckte. Aber ich schenkte ihr keinen weiteren Blick, sondern ballte meine Hände zu Fäusten.

Vermutlich wäre ich tatsächlich zum Auto gestürmt, um meinen Anzug zu holen und irgendwas Dummes anzustellen, wenn in diesem Moment nicht die enttäuschte Stimme meines Lehrers erklungen wäre: „Scarlett, ich weiß, dass du die Geschichten schon öfter gehört hast als wir anderen, aber das heißt nicht, dass du hier abschalten kannst."
Ich fand die Energie, ihm und der Tafel – auf der die unheilverheißende Überschrift „Kriege der neun Welten" prangte – einen bösen Blick zuzuwerfen, an dem Mr. Evans sich jedoch ganz und gar nicht störte: „Also, dann präsentiere uns bitte deine Wertung der Unruhen ab 2011 in allen neun Welten hinsichtlich Auslöser und Ursachen."
Er saß still auf dem Lehrerstuhl ganz vorn, die Hände auf der Tischplatte gefaltet und unter seinen brünetten Haaren erwartungsvoll zu mir herüberstarrend. Jenny neben mir setzte sich unruhig gerader hin, aber ich fand nicht mal die Energie, meinen Kopf vom stützenden Arm hochzuheben.

Für einen Moment schwieg ich, die Frage erst einmal verarbeiten müssend. Mr. Evans zog schon die Augenbrauen hoch, da fuhr ich mit der Hand über mein Gesicht und formulierte dann etwas mühsam: „Also, der Auslöser war die Zerstörung des Bifrösts 2011. Dadurch konnten die Krieger Asgards nicht mehr für Ordnung sorgen..." Ich seufzte tief. „Naja, und vorher hatten sich die Völker, zum Beispiel die Vanen, viel zu sehr auf die Asen verlassen und deshalb keine eigene Streitmacht und so, und konnten daher den Räubern und der bösen Brut nichts mehr entgegensetzen."
Mr. Evans musterte mich kurz mit einem undefinierbaren Blick, nickte dann aber, und ich atmete erleichtert auf.
Zu früh gefreut: Die nächste Frage war weitaus schlimmer. „Und kannst du uns auch erklären, wieso Thor den Bifröst zerstört hat?"

Mein Atem, momentan so ziemlich das einzig Stabile an mir, stockte.
Was bitte sollte ich darauf sagen?
Mein Dad hat seinen Dad umgebracht und hatte das auch mit seiner gesamten Rasse vor, aber mein Onkel wollte das verhindern?
Sicher nicht.
Ich müsste bis zur Adoption Dads ausholen, um das zu erklären, also fiel meine Antwort weitaus simpler aus: „Nein."

Mr. Evans erhob sich vom Lehrertisch und lehnte sich abwartend gegen die Tafel.
„Du kannst, aber du willst nicht", stellte er dann knapp fest.
„Exakt", zuckte ich die Schultern – in diesem Raum wussten vermutlich alle vom Wahrheitsgehalt der Aussage. Bis auf Luca und Jonah, aber die waren komplett dämlich.

„Du weißt, dass ich Arbeitsverweigerung bestrafen muss?"
Auf die rhetorische Frage meines Lehrers sagte ich nichts, packte aber meine Tasche zusammen.

„Ich geh' mich beim Direktor melden."
Auf die Erklärung Evans' zu dem Thema hatte ich noch weniger Ambitionen, doch natürlich musste der Brünette protestieren: „So war das auch nicht gemeint! Ich schicke dich doch nicht zu Mr. Downey, weil-"
„Passt schon, ich gehe." Der Blick, den ich ihm zuwarf, war mehr flehend als alles andere. Ich pokerte auf Mr. Evans' Menschenkenntnis und gutes Herz, denn von beidem hatte er nicht wenig... Und tatsächlich ließ er mich mit einem kurzen, resignierenden Kopfnicken gehen.

Die abwertenden oder verwirrten Blicke meiner Mitschüler ignorierend verließ ich den Geschichtsraum und eilte, die Augen stur auf den hellbrauen Kunststoffboden Boden geheftet, durch die leeren Gänge. Am Lehrerzimmer vorbei, aus dem Ms. Wright meinen Namen rief, durch die automatische Schultür und dann, endlich, zu den Parkplätzen.

Silberner Audi.
Fingerabdruckscan.
Handschuhfach – mit Handschuhen.
Anzug.
Kälte.

Auch jetzt machte ich mir nicht die Mühe, zu denken.
Ich atmete einfach, genoss die Ruhe – außerhalb und in meinem Inneren.
Es tat plötzlich nichts mehr weh.
Alles war wie eingefroren.
So musste sich friedliches Sterben anfühlen.

Ein leichtes Lächeln umspielte meine Lippen, das sofort wieder verschwand, als die Fahrertür geöffnet wurde. Ich hatte meinen üblichen Platz auf dem Beifahrersitz eingenommen und hatte eigentlich vorgehabt, einfach für eine Weile meine Ruhe zu haben...
Ich sah von meinen Armen, die gegen das Armaturenbrett gelehnt waren, gar nicht erst auf – bis wieder einmal die Stimme ertönte, die nicht Peggys war, aber dennoch – leider – zu bekannt. „Ich kann fahren."

Jetzt fuhr ich doch hoch, musterte T'Chada ungläubig, der betont nicht in meine Richtung sah.
„Jetzt guck nicht so wie die Gans wenn's donnert", knurrte er, den Sitz nach hinten stellend, „Obwohl, 'ne dumme Gans bist du ja."

Die übliche hitzige Wut wurde von der Kälte eingedämmt, aber dennoch zischte ich zurück: „Du kennst hier nicht mal die Wege, räudiger Köter."
„Löwen sind Katzen, aber dir ist zu verzeihen, du hast schließlich kein Bio", fletschte mein Cousin triumphierend die Zähne, „Der Weg ist egal."

***

Aus irgendeinem Grund mag ich die Scar-Chad-Interaktion, die hier schon beginnt, total gern. Es macht auf jeden Fall viel Spaß, die beiden aufeinandertreffen zu lassen, auch wenn sie mir schon einiges an Kopfzerbrechen bereitet haben.😉

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