Scarlett ~ Ärztin
Meine Hand war sofort zum Dolchgriff gewandert, als Hunter sich beim Anblick der beiden Neuankömmlinge sichtlich angespannt hatte. Er schien sie nicht zu kennen, aber ihre Aufmachung wirkte auch nicht wie die der Drogendealer. Der Mann, der eindeutig asiatischer Herkunft war, trug ein braunes, längeres Oberteil, das ein wenig wie eine Tunika wirkte. Die dunklen Ornamente im Schulter- und Brustbereich passten zu seiner schlichten schwarzen Stoffhose, die ab Wadenhöhe in geschnürten Lederstiefeln verschwand. Ich konnte nicht erkennen, ob er irgendwelche unauffälligen Waffen trug, er blieb direkt neben dem Eingang zurück.
Doch seine Begleiterin kam stetig auf uns zu, die beiden Mafiosas, die T'Chada und ich vorhin vor dem sicheren Tod gerettet hatten, fest im Blick. Wir hatten die Bodyguards Shurikens zu Boden gerissen, noch während sie ihre Trigger gezogen hatten, und mein Cousin hatte seinen Gegner so schwer verletzt, dass er sich nicht mit seinen Kollegen überhastet davonmachen konnte. Mein Mitleid, dass der Schuss meines Gegners dennoch die Grauhaarige getroffen hatten, hielt sich in Grenzen, aber ich hätte dennoch erwartet, dass zumindest die neuangekommene Fremde sich mehr Sorgen würde. Denn ihr enger schwarzer Mantel mit hochgeschlossenem Kragen war von zarten, goldenen Mustern übersäht und schrie förmlich nach Geweihte.
Das dunkle Kleidungsstück wäre beeindruckend gewesen, wenn es der kleinen Frau nicht unbedingt bis knapp über die Knöcheln gegangen wäre – sie musste noch kleiner sein als ich. Die weite Kapuze hatte sie sich über den Kopf gezogen, aber als sie näherkam, sah ich rötlich braune Augen darunter hervorblitzen, über einer kleinen Stupsnase. Die Schritte der Fremden waren langsam und behutsam, sie entlockte dem eigentlich knarzenden Boden kein Geräusch. Wenn sie ihre Füße aufsetzte, tat sie das zuerst mit der Spitze ihrer beigen Stiefel, als müsste sie das Parkett vorher prüfen.
Möglichst vorsichtig bewegte ich mich an Hunters Seite, um das Geschehen vor uns besser einschätzen zu können. Die Blonde hatte ihre verletzte Kollegin jetzt auf den Boden gelegt, und ihr Gesicht mit den geschlossenen Augen war mittlerweile fast so grau wie ihre Haare. Sie blieb flach atmend auf dem Rücken liegen, aber es wäre vermutlich auch unklug gewesen, sie in die stabile Seitenlage zu bewegen – der Blutverlust könnte dann schnell gefährlich werden. Hier halfen nur Ruhestellung und eine schnelle Behandlung.
Bei den Füßen der Verwundeten kam die kleine Frau zum Halt, den Kopf gesenkt, sodass ihr Gesicht in den Schatten der Kapuze lag. Sie stand stabil, die Beine so breit, wie es der Mantel zuließ – und sah nicht so aus, als würde sie sich in nächster Zeit niederknien wollen.
„Die Ärztin der Geweihten", ertönte eine leise Stimme aus links hinter mir in meinem toten Winkel, aber ich musste ihn nicht sehen, um T'Chada zu erkennen. „Iguba", fügte er den fremdklingenden Namen hinzu, offiziell wohl für Hunter, aber selbstverständlich auch zu meiner Information.
„Warum ist es immer eine von euch beiden, die vor mir liegt?" Ich konnte die Stimme erst nicht zuordnen, da unter der Kapuze nicht erkennbar war, dass sie ihren Mund bewegt hatte, aber sie schien auf merkwürdige Art und Weise zu der grotesken Gestalt zu passen. Igubas Ton war messerscharf, hoch und klar – wäre Voldemort weiblich gewesen, hätte ich ihn mir mit genau dieser Klangfarbe vorgestellt. Der einzige Unterschied war, dass ich als Kleinkind Alpträume von Voldemort gehabt hatte, jetzt aber nicht einmal daran dachte, vor der Geweihten zurückzuzucken.
Dennoch weiteten sich meine Augen leicht, als Iguba mit einer plötzlichen Bewegung zur Kopfseite der Grauhaarigen getreten war und sich neben ihrer Schulter niederkniete, auf einmal ein silbriges Viereck zwischen den blassen Fingern. Ich hörte Hunter neben mir deutlich ausatmen und spürte eine Person hinter mir, die jetzt so dicht an mich herantrat, dass ich ihre Körperwärme spüren konnte. Unzufrieden verschränkte ich die Arme, als mein Cousin über meine linke Schulter die Ärztin zu beobachten schien, und ich konnte weder nach vorn zu den Geweihten ausweichen noch nach rechts zu meinem Bruder, der mich in dem Moment eigentlich nicht kennen durfte.
Doch mein Fokus richtete sich sofort wieder auf Iguba, als sie das helle Material mit leisem Knistern auf den zerrissenen Teil des Oberteils der Grauhaarigen presste. Das war- ... Meine Augenbrauen schossen förmlich in die Höhe, als ich diese notdürftige Abdeckung als Frischhaltefolie identifizierte.
„Ich wusste ja, dass sie irre sind, aber...", murmelte ich so leise, dass es nur meine Jungs hören konnten, in der Deckung der allgemeinen Aufmerksamkeit, die die Ärztin auf sich zog. T'Chada ließ ein leises Schnauben erklingen, aber beide hatten keine Chance, etwas zu erwidern, da Iguba sich jetzt wieder aufrichtete.
„Ich will Ishta auf meinem Tisch sehen und Imbola im Stuhl."
Obwohl der Tonfall der Ärztin sich nicht verändert hatte, verkrampfte sich die Blonde deutlich, die wie eine Wächterin neben der Verletzten gestanden hatte. Ihre vorher verschränkten Arme fielen jetzt nutzlos an ihre Seiten, als könne sie sich selbst nicht mehr schützen. Aber sie gab Iguba, die sich in einer einzigen flüssigen Bewegung aufrichtete und dem Asiaten zunickte, keine Widerworte.
Der kräftig gebaute Chinese kam mit schweren Schritten rasch näher, hielt seine schmalen Augen aber gesenkt. Seine schwarzen Haare waren auf wenige Millimeter gekürzt und betonten seinen recht kleinen, runden Kopf. Aber seine Oberarme waren breit, und es bereitete ihm sichtlich keine Probleme, die Verletzte im Brautstil hochzuheben. Es hatte aber nichts Romantisches, wie ihr Kopf kraftlos zurückrollte und der unordentliche Zopf an der Seite des Fremden herabhing. Mir wurde klar, dass ich vermutlich nie erfahren würde, ob die Grauhaarige die Schusswunde überlebte oder nicht, weshalb ich froh war, als Iguba meine Aufmerksamkeit auf sich zog.
„Kwadira und Mort haben die Waren gesichert. Der Junge ist auf dem Weg hierher und wird euch zurückführen, bis auf zwei von euch, die Kwadira helfen werden." Sie sah uns nicht an, aber ihre scharfe Stimme durchdrang die gesamte Halle, trotz der Schritte, die sich mit dem Japaner und der Blonden entfernten. Ich zog meine Stirn in Falten, nicht sonderlich begeistert darüber, schon wieder unbekannte Namen zu hören, aber zumindest T'Chada schien etwas damit anfangen zu können. Ich spürte, wie er sich umdrehte, und er warf wohl den Zwillingen an der hinteren Wand einen eindeutigen Blick zu, denn der Teenager sprang sofort darauf an: „Ashe und ich übernehmen das."
Iguba hatte die Antwort nicht einmal abgewartet, sondern sich bereits ebenfalls Richtung Ausgang gewandt, und Ashe eilte ihr mit ausdruckslosem Gesicht hinterher. Blieben also mein Bruder, mein Cousin und ich, um zurück zur Basis zu finden... Das war fast zu einfach. Aber unser Plan funktionierte bisher reibungslos, und die keimende Hoffnung in mir begann bereits, aufzublühen.
***
Lasst euch von den neu aufgetauchten Geweihten am besten so wenig wie möglich irritieren - sie spielen keine wesentliche Rolle. Iguba ist im Personenregister aufgeführt und "Kwadira" bedeutet so viel wie "Warnung".😉
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top