Prolog ~ 2036
Der verlassene Bahnhof lag still in der Abenddämmerung New Yorks.
Die untergehende Sonne malte den Himmel in Gold- und Rottönen, und der kühle Wind ließ die ausgeblichene Amerika-Flagge am einzigen Fahnenmast ruhig flattern.
Die Atmosphäre war friedlich. Ganz und gar idyllisch.
Von der Ruhe war in den heruntergekommenen Bahnhofshallen allerdings nicht viel zu sehen. Nach dem Bau des JFK-Airports waren Züge unrentabel in Queens geworden, Taxen und Uber hatten die Branche übernommen und nach und nach hatten die Bahnhöfe geschlossen.
Eigentlich ungewöhnlich, da dieser hier recht nah am Zentrum des Stadtteils lag. Gut zu erreichen für jeden, der Unterschlupf vor Regen und Kälte suchte.
Derartigen Unterschlupf würde hier nur keiner finden.
Und das lag nicht an den zugigen, hohen Hallen und den zerstörten Gebäudeteilen, die nämlich fast allesamt repariert worden waren.
Nein, es lag vor allem an den Menschen, die diese Reparaturen vorgenommen hatten.
Zu jenen Menschen, ihrem Anführer, um genau zu sein, war der Kurier unterwegs, der über die Bahnschienen schlich wie ein streunender Hund. Geduckt, furchtsam, mit viel zu weiten Klamotten, die um den mageren Körper schlotterten.
Hunger war nicht der Grund für seine schmale Gestalt. Er hatte gelernt, jenes Gefühl nicht mehr zu verspüren – es wäre ihm selbstverständlich kein Problem, auch jeglichem Hunger Abhilfe zu schaffen, er hatte viel Geld, das war es nicht.
Er hatte eben auch eine Menge Intelligenz. Seine Gestalt ermöglichte es ihm, fast überall hinzukommen, und als geschickter Spion konnte er sich weitaus mehr Annehmlichkeiten verschaffen als durch sein Geld. Das, zugegebenermaßen, auch durch seinen ‚Job' zustande kam.
Also, Hunger konnte ihn nicht dahinraffen. Nichts konnte das – er war ein erfolgreicher Mann, mit Besitz und Zukunft. Er hatte einen Sohn. Das machte ihn unsterblich.
Zumindest, wenn Ahadi ihn nicht vorher umbrachte.
Aber das glaubte der Kurier nicht, seine Dienste waren zu wichtig. Und zu gut – er war unersetzbar.
Heute war es nur ein kleines Päckchen, das er abliefern sollte, eine neue Stichprobe. Aber er hatte es auch schon geschafft, Wagenladungen zum Bahnhof zu schmuggeln.
Er zwängte seinen dürren Körper durch den schmalen Spalt der Seitentür der ehemaligen Haupthalle, die Ahadi ihm regelmäßig offenließ. Den Blick zum Einstieg in den Keller des Gebäudes, eine gähnende Dunkelheit in der linken Ecke des weitläufigen Raumes, vermied er tunlichst.
Doch er konnte nicht verhindern, dass er zusammenzuckte, als ein Schrei daraus zu ihm emporstieg.
Ungewöhnlich war das nicht. Die Kehlen waren immer andere, ja, aber die Schreie waren im Endeffekt doch alle gleich. Manche waren verzweifelter, andere wütender – dieser hier zählte zu letzterer Sorte –, doch eines hatten sie gemeinsam: Sie endeten.
Irgendwann endeten sie alle.
Der Frau, die Verursacher dieses Schreies war, war diese Tatsache nur zu bewusst. Sie war klug, wusste, dass sie diesmal nicht überleben konnte.
Aber ihre Augen funkelten. Sie würde nicht nachgeben, nicht nach allem, was sie überlebt hatte.
Ihre Gegner waren ebenfalls klug: Der breitschultrige Riese in ihrem Rücken hatte mit einer seiner Pranken ihre Haare gepackt, und ihre braunen Locken zogen schmerzhaft an der Kopfhaut. Wenn sie daran dachte, dass die groben Finger bereits eine andere Brünette in ihrem Fesselgriff hatten, mit kürzeren, feineren Haaren... Da lief es ihr kalt den Rücken runter.
Ihre Tochter.
Diese Bastarde hatten ihre Tochter entführt, die sie als schwächstes Glied der Avengers betrachtet hatten. Vielleicht lagen sie damit richtig.
Es hätte nicht möglich sein dürfen, ihr ihren größten Schatz zu entreißen.
Sie war drei, verdammt, und ihre Beschützer... Niemand hätte überhaupt den Gedanken wagen dürfen, Hand an ihre Kleine zu legen.
Aber sie hatten es getan.
Und nun war die Brünette in diesem kühlen Keller eines Bahnhofsgebäudes in Queens gefangen, die Kälte in ihrem Inneren nur noch schlimmer als der Wind, der ihr eine Gänsehaut verschaffte. Sie verfluchte den Gedanken, dass sie keinen Hoodie angezogen hatte. Sie verfluchte ihre Jeans mit den Löchern an den Knien, durch die sich ein Steinchen direkt in ihre Haut bohrte.
Sie verfluchte das Wissen, dass sie so sterben sollte.
Sicher, irgendwie hätte sie entkommen können.
Doch sie zwang ihre Gedanken, stillzustehen.
Für ihre Tochter.
Diese Unmenschen hatten ihr ein Ultimatum gestellt: Entweder sie – oder die Kleine. Man würde die Dreijährige in irgendeinem Lager absetzen, freilassen, wenn sie selbst sich kampflos ergab. Die brünette Frau hatte nicht vor, lebend hier herauszukommen. Sie hatte die Wahrheit in den Augen Ahadis erkannt und nicht eine Sekunde gezögert.
Ein Leben für ein Leben.
Eine Seele für eine Seele.
Es war furchtbar.
Allein der Gedanke schmerzte.
Aber noch immer gab sie nicht nach, blieb stark.
Stark.
Ihre letzten Worte würden episch sein.
„Sie werden euch holen", fauchte sie, „Und Ahadi und Uru werden sie persönlich ihre Kugeln durch den Kopf jagen!"
Sie zögerte kurz, dann funkelten ihre Augen.
Eine Halbwahrheit.
Es würden keine Kugeln sein, sondern Repulsorstrahlen.
Die Kugel durchbohrte stattdessen sie selbst.
Der scharfe Knall zerfetzte die Luft, ähnlich schneidend wie der nun eiskalte Wind.
Doch sie starb mit dem Wissen, ihre Tochter gerettet zu haben – für's Erste.
Ein schöner Tod, eigentlich.
Wie immer war er für die Überlebenden weitaus schmerzhafter.
Der Mann, der nun Witwer war, brach zusammen, als er Tage später seine Tochter wieder in den Armen hielt.
Er hatte nicht einmal die Kraft, Rache zu schwören – und das, obwohl er ein Avenger war.
Ein anderer übernahm das für ihn.
Als Tony Stark das bemitleidenswerte Bild des nun alleinerziehenden Vaters sah, lud er seine Repulsorstrahlen. Rache. Wut.
Er hatte viel verloren, musste seine Emotionen auf das Feuer in ihm richten, dessen Flammen ihn am Leben erhielten. Und auf das Brennen des Repulsors, selbstverständlich.
Doch es würde dauern, bis er sein Ziel fand.
Viele Jahre sollten noch ins Land gehen, Jahre, in denen der Repulsor andere Ziele hatte.
Sie mussten weitermachen, durften nicht stillstehen.
Der Witwer musste ein Vater sein, Tony Stark ein Großvater. Sie hatten Familie, die ihnen half – eine große Familie, in der sie glücklich werden konnten.
Aber sie vergaßen nicht.
Beider Gedächtnisse waren ungewöhnlich präzise.
Sie vergaßen nie.
***
Es tut unglaublich gut, wieder hochzuladen.
Auch wenn der Prolog nicht gerade Freude weckt... Ich bin gespannt, was ihr davon haltet. Vor allem auf die Verschwörungstheorien, die ich schon sehnsüchtig erwarte.😉
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