Hunter ~ Unterstand
Ich atmete schwer, als ich hinter Mort aus Fishers Villa herausstolperte.
Hier draußen biss die kühle Nachtluft in meine Lungen, erinnerte mich daran, dass sich mein Geist noch in seinem Körper befand. Ein Körper, der nicht mir gehörte, mit einem Geist, der lieber bei meiner Schwester wäre.
Als ich den nächsten tiefen, verzweifelten Atemzug tat, zerrte es in meiner Brust, und ich konnte ein Aufschluchzen nur mühsam unterdrücken. Verdammt, ich war kein Kleinkind mehr, das nicht ohne seine Familie überlebte.
Ich schluckte schwer, als ich mich selbst gedanklich verbesserte – dass ich ohne Scarlett selbstverständlich nicht leben konnte. Und ich würde alles tun, dass sie und meine gesamte Familie wieder in Sicherheit war. Deswegen war ich hier, und deswegen musste ich mich zusammenreißen, einen Fuß vor der anderen zu setzen. Vorhin war es ein Schock gewesen, meine Schwester so plötzlich zu sehen, aber das war nichts im Vergleich zum jetzigen Schmerz, nachdem ich mich von ihr hatte abwenden müssen.
Mein vierschrötiger Kiefer verkrampfte sich noch mehr, als ich die Zähne zusammenbiss und mich nach Mort umsah.
Der Teenager war schon einige Schritte den Hügel hinuntergelaufen und verschmolz fast mit den Schatten der Wiese. Der Mond war hinter einigen dichten Wolken verschwunden, die nur durch den Mangel von Sternenlicht zu erkennen waren – viel zu weit weg und zu dunkel, um sie mit dem bloßen Auge wahrzunehmen.
Leise seufzend beeilte ich mich, ihm hinterherzukommen, und verfiel in einen Laufschritt. Auf dem feuchten Gras, das doch steiler bergab ging, als ich angenommen hatte, wäre ich beinahe ausgerutscht. Nur mühsam fing ich mich mit einer raschen Armbewegung auf, und mein Blick glitt sofort zu Mort, der mir aber zum Glück noch den Rücken zugewandt hatte.
Zumindest hatte mir der Vorfall etwas Klarheit verschafft, und meine Gedanken konzentrierten sich wieder auf meinen Auftrag. Stirnrunzelnd sah ich kurz über meine Schulter zur Villa zurück und erkannte jetzt auch, dass wir nicht in die Richtung gingen, aus der wir gekommen waren. Zwar lag auch hier rechterhand ein Waldgebiet, aber hinter diesem blitzten kleine Lichter hervor – Straßenlaternen und beleuchtete Fenster, ein Dorf.
Eilig ging ich meine Möglichkeiten durch, verwarf dann aber die Idee, bei Mort nachzuhaken. Es wurde Zeit, dass sie anfingen, mir zu vertrauen – und das würde nur funktionieren, wenn ich selbst blindes Vertrauen ausstrahlte. Zwar war Mort nicht mein geplanter Angriffspunkt, aber er würde den Missionsbericht ganz sicher Akuji überbringen, bei der alle Informationen zusammenzulaufen schienen. Und genau deshalb verstand ich mich mit ihr so gut...
Wandern hatte ich nie gemocht. Ich fand es ziemlich unnötig, mich so stetig langsam fortzubewegen – da war mir joggen lieber. Aber Mort behielt unbeirrt seinen Trott bei, und ich hütete mich, eine Beschwerde abzugeben.
Trotz meines dicken Hoodies fröstelte ich leicht, auch im Sommer wurde es nachts kalt. Ich musste mehrfach mit zur Seite gewandtem Kopf gähnen, doch das konnte auch genauso gut an der Müdigkeit liegen. Mein Gedankenfluss wurde zäher uns ließ sich vom stetigen Knirschen der Erde unter unseren Füßen in den Schlaf wiegen... Ich war beinahe erleichtert, als der Untergrund plötzlich zu Asphalt wurde. Nicht nur eine Abwechslung im Geräuschespektrum, auch ein Zeichen, dass wir unserem Ziel näherkamen. Was auch immer das war.
Der schmale Weg näherte sich jetzt dem Waldrand und dem Dorf an, aber noch bevor sie in Sichtweite der ersten Häuser kommen konnten, scherte Mort nach rechts aus. Ich erkannte nur mühsam einen hölzernen Unterstand, der sich gegen die hohen Stämme der Fichten duckte und beinahe mit der Dunkelheit des Waldes verschwamm. Es war eine Hütte, wie sie an Fahrradwegen oft zu finden war – nicht sehr geschützt mit seinen offenen Wänden, sondern mehr für kleine Pausen gedacht.
Und er war nicht leer.
Eine Gestalt löste sich daraus, als wir näherkamen.
Für einen Moment ließ Mort seine Taschenlampe aufblitzen und beleuchtete die unförmige Figur, die eine Sporttasche geschultert hatte. In dem kurzen Moment, als das Licht die Nacht durchschnitt, konnte ich nur dunkle Locken erkennen – doch als sie die Stimme erhob, erkannte ich sie sofort.
„Ich bin es, Mort. Und ich bin allein."
Ich hörte sie nur, weil es so still war. Kein Wind rauschte in den Bäumen, und auch keine Tiere gaben Laute von sich – sie war die Einzige, die zu hören war. Vielleicht lag es an der feindlichen Umgebung, vielleicht schlicht daran, dass ich mich nach etwas Vertrautheit sehnte, aber ihre Worte klangen so unsagbar sanft, dass mir unwillkürlich ein Schauer den Rücken hinunterlief.
Das war Sierra.
Was zur Hölle machte sie hier? Und vor allem, warum?
Sie war das unschuldigste Mädchen, das ich kannte, durch und durch gut... Und ich hatte absolut nicht damit gerechnet, mit jemandem befreundet zu sein, der mit den Geweihten in Kontakt stand.
Ich war der Prinz der Lügen – ich zweifelte daran, dass mich jemand derartig täuschen konnte. Und vor allem nicht Sierra, die so... die so harmonisch war und hilfsbereit, anmutig und achtsam. Sierra, in der ich bisher nur das scheue Reh gesehen hatte, das ich auf keinen Fall verschrecken wollte.
Ich zuckte zusammen, als Mort seine Stimme erhob – für einen Moment hatte ich vergessen, in wessen Begleitung ich gekommen war. „Wir müssen besonders vorsichtig sein diese Woche – ein Besuch von Taka steht an." Meine Augenbrauen fuhren kurz zusammen, als ich den knurrenden Unterton aus diesen Worten heraushörte. Wer war jetzt schon wieder Taka? Doch der Teenager fuhr an Sierra gewandt schon fort: „Und bei dir kann man nie wissen... Bandelst ja sogar mit Starks an."
Ich schluckte hart, anscheinend war die Begegnung mit meiner Schwester dem Mafiazögling mehr unter die Haut gegangen, als ich geahnt hatte. Und der Schock, der bei Sierras Auftauchen durch meine Glieder gefahren war, war natürlich noch präsent... Hatte meine gesamte Schule mit den Geweihten Kontakt? Ich würde mich jetzt auch nicht mehr wundern, wenn der nächste Kontaktmann, den ich traf, Mr. Downey wäre.
Sierra hatte zu meinem Erstaunen den Mut, sich gegen Morts harsche Worte zur Wehr zu setzen: „Sie sind wirklich okay. Und Scarlett scheint oftmals genug von ihrer Familie zu haben." Meine Augen versuchten vergeblich, die Dunkelheit bis zu Sierras Gesicht zu durchdringen, aber ich konnte ihren Ausdruck nicht erkennen. Das stimmte nicht, und wir beide wussten das... nur Mort glücklicherweise nicht. „Von dem Mädel rede ich nicht", grunzte er, und abermals erstarrte ich. Woher wusste er-
„Nur, weil wir einen Chatverlauf haben, heißt das nicht, dass ich ihm alle eure Geheimnisse ausplaudere", klang Sierras Stimme aalglatt durch die Dunkelheit. Sie schien selbstbewusster zu sein, hier in Morts Gegenwart, was mich unwahrscheinlich verblüffte. Eigentlich hätte ich erwartet, dass sie sich zurückzog und keinen Ton herausbrachte... Ich kannte sie wohl doch nicht so gut, wie ich gedacht hatte.
„Das wird daran liegen, dass du unsere Geheimnisse selbst nicht kennst", grunzte Mort, und mich überlief es eiskalt. An die geheimen Pläne der Geweihten hatte ich in letzter Zeit kaum gedacht, und dabei war das der Grund, warum ich hier war... und ich musste Nia retten, verdammt nochmal!
Sie schienen ernsthafte Vertrauensprobleme zu haben, wenn sie sogar die Handys ihrer Verbündeten kontrollierten – dass sie dabei die Nachrichten zwischen Sierra und mir gesehen hatten, kümmerte mich mehr, als es eigentlich sollte. Es blieb meist bei unwichtigem Geplänkel, Lästereien über Chad und lockeren Späßen. Unwillkürlich zuckten meine Mundwinkel, als ich mich an einen Freitag erinnerte, an dem ich in Mr. Pratts Unterricht deutsche Witze an die Halbspanierin geschickt hatte – die mich anschließend freundlich daraufhin wies, dass ich im Unterricht mein Handy ausgeschaltet haben musste. Es hatte natürlich nicht geholfen, dass sie die Nachricht per WhatsApp in ihrer Spanischstunde geschickt hatte...
Mit einem plötzlichen Kopfrucken holte ich mich in die Gegenwart zurück, in der ein feindlicher Mafioso neben mir stand und eine vertraute Fremde, die schwer zu tragen hatte. Ich ärgerte mich über mich selbst, meine Emotionen so deutlich zu zeigen – aber die Dunkelheit assistierte mir, hielt meine Mimik vor Mort versteckt. Kurzerhand trat ich also an Sierras Seite und streckte die Hand aus: „Deine Tasche."
Meine Vorstellung überließ ich absichtlich dem anderen Teenager, der nur mit dem Kinn auf mich deutete und „Rookie" murmelte. Sierra nickte langsam und zögerte noch einen Moment, dann ließ sie den Riemen der Sporttasche in meine Hand sinken.
Mort sagte kein weiteres Wort, sondern drehte auf den Fersen um und stapfte wieder los. Ich nahm ein leises Seufzen von Sierra wahr, dann setzte auch sie sich in Bewegung – und zwar weitaus graziler als der beleibte Teenager. Zwar ging Mort beinahe ohne einen Laut, aber alles an Sierra war einfach... schön.
Ich hielt mich bei ihr, einige Schritte hinter unserem Missionsleiter, und versuchte, einen unauffälligen Blick auf ihr Gesicht zu erhaschen. Doch das Mondlicht brach noch immer kaum aus den Wolken hervor, und ihre Augen lagen im Schatten.
„Was macht ein einzelnes Mädchen in einer Organisation wie dieser?", begann ich trotzdem, ihr auf den Zahn zu fühlen. Doch anders als in meinem üblichen rauen Peter-Johnson-Auftreten hatte ich das Bedürfnis, jeden meiner Sätze zu erklären – zu verteidigen. „Also, nicht, dass Mädchen sich nicht verteidigen können... einen Jungen hätte ich genauso gefragt. Also, du weißt schon-"
Ich stockte, plötzlich mit beschleunigtem Herzschlag. Der lag vor allem an der Wut auf mich selbst... wo waren meine perfekten Lügenmärchen hin? Warum reichte ein einziges bekanntes Gesicht aus, um die Balance zwischen mir und meinen Illusionen so ins Wanken zu bringen?
Doch zu meinem Glück ging Sierra nicht weiter auf mein Gestotter ein, sondern antwortete ruhig: „Schon gut. Meine Mutter arbeitet dort." Einen winzigen Moment noch waren meine Gedanken auf den Beschluss fokussiert, noch heute ein intensives Kontrollentraining durchzuführen – dann schossen sie zu Sierra und den Geweihten zurück. Ihre spanische Mutter arbeitete bei der Mafia.
Meine Augen weiteten sich, aber ich hatte zumindest genug Beherrschung, die Luft nicht überdeutlich einzuziehen. Ich hatte bisher nur eine Spanierin bei den Geweihten getroffen, und diese Begegnung hatte mehr als gereicht.
***
Hunter wird ja sehr emotional durch das unvermutete Wiedersehen mit Scar... Aber das nächste Kapitel wird fröhlicher, es bekommt ein Watcher Screentime, der bisher kaum aufgetaucht ist.😉
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