Hunter ~ Tränen

„Sier?", fragte ich leise.
Wir saßen in der düsteren Kammer mitten im Nebengebäude der Geweihten, immer noch. Eigentlich hätten wir uns beide längst irgendwo zeigen müssen, um keinen Verdacht zu erwecken, aber ich brauchte diese ruhigen Stunden jetzt. Das erste Mal, seit ich Scarlett im Auto zurückgelassen hatte, fühlte ich mich... ausgefüllt. Nicht vollständig, aber doch so, dass es nicht pausenlos schmerzte.

Von Sierra sah ich nur die braunen Locken, denn obwohl ihr Nacken mittlerweile schmerzen musste, hatte sie ihren Kopf nicht von meiner Schulter wegbewegt. Ihre krausen Strähnen streiften sanft die nackte Haut meines Oberarms, und ihr warmer Atem strich langsam und regelmäßig darüber. Wir hatten beide eine halbe Ewigkeit geschwiegen, aber miteinander – auf eine sehr einvernehmliche Art und Weise. Auch jetzt kam von Sierra nur ein halblautes „Hmm?", und ein Lächeln zuckte um meine Mundwinkel, als ich mir ihr friedliches Gesicht mit entspannt geschlossenen Augen vorstellte.

Mein Thema war aber so ernst, wie es überhaupt nur möglich war, und ich suchte mit meiner Linken nach Sierras Hand, die sie auf ihrem Knie abgelegt hatte. „Morgen...", ich zögerte. Ihre Finger waren warm in meinen, und ohne sich umzudrehen, drückte sie aufmunternd meine Hand.
Ich schloss für einen Moment ergeben meine Augen und beschloss dann, es kurz zu machen: „Für Morgen solltest du dich und alle, die dir wichtig sind, so weit weg wie möglich von den Geweihten und den Haupträumen bringen."

Jetzt setzte sich Sierra doch auf, und ich vermisste ihre Nähe sofort. Sie wandte mir ihren Oberkörper zu, und damit sie mich ansehen konnte, musste sie den Hoodie unter uns verlassen – stattdessen zog sie ihre Beine unter den Körper, kniete sich auf den kalten Boden, und ich sah ihre blaue Jeans jetzt schon staubig werden. Ihre Finger, die als einzige ihren Platz nicht verlassen hatten, umklammerten meine Hand jetzt kräftiger, und ihr Blick war unruhig. „Was habt ihr vor?"

Ihre Stimme zitterte nicht, aber ihre gerade durchgestreckte Wirbelsäule verriet ihre Besorgnis. Um uns beide zu beruhigen, strich ich mit dem Daumen über die zarte Haut ihres Handrückens, bevor ich langsam erklärte: „Wenn ich es wüsste, würde ich es dir sagen. Meine Verwandten haben nur die Information, Morgen zuschlagen zu können, bei Sonnenuntergang." Sie öffnete schon ihre fein geschwungenen Lippen, da hob ich meine freie Rechte und ließ sie innehalten. „Es gibt nichts, was du tun kannst abgesehen davon, dich in Sicherheit zu begeben." Meine Stimme war sanft, aber ich versuchte, meinen Ausdruck so ernst wie möglich zu halten. Es war mir wichtig, dass Sierra aus der Gefahrenzone herausgehalten wurde... Sie war ein anderer Typ als meine Schwester. Scar und ich waren unglaublich stark zusammen, auch in der Mitte eines Kampfes, aber Sierra sollte einfach nur unverletzt Zuhause sein.

Die Halbspanierin vor mir nickte leicht, genau wissend, was ich hatte sagen wollen. Dann zögerte sie aber, und ihre Augen senkten sich: „Luke wird kämpfen wollen, für die Geweihten. Um ihn geht es mir nicht, aber Ashe wird ihn nicht verlassen." Der Druck meines Daumens auf ihrer Hand intensivierte sich, und ich musste schlucken. Das war der einzige Wunsch, den ich ihr nicht erfüllen würde – Zwillinge zu trennen. Wir könnten Ashe gegen ihren Willen retten, aber das würde sie nur ins Verderben stürzen.
Ich wusste, wovon ich redete.

„Was ist mit deiner Mutter?" Ich sah Sierra offen an, ohne einen urteilenden Ton in meine Stimme zu legen. Ich wusste zu wenig über die Beziehung der beiden, um diese Entscheidung selbst zu treffen, aber Sierra schüttelte nur stumm ihren Kopf. Die vorderen Strähnen, die ihr Gesicht umrahmten, waren kürzer als ihre restlichen Haare, weshalb ihr eine Locke dabei am Mund hängenblieb. Achtlos strich sie sich die Haare aus dem Weg, aber mein Blick war zum wiederholten Male heute an ihren Lippen hängen geblieben. Mir war klar, welche Art der Spannung zwischen mir und Sierra herrschte, und seit Akuji mich darauf hingewiesen hatte, war auch ihre Körperhaltung deutlich. Aber, verdammt, ich machte mir so schon viel zu viele Sorgen um sie...

„Noch jemand, den du bei dir haben willst?", fragte ich etwas hastig, um meine Gedanken auf das dringendere Thema zu lenken. Ich durfte mich jetzt nicht vom Wesentlichen ablenken lassen, es ging hier um Alles.
„Was ist mir dir?", stellte Sierra die Gegenfrage, die ich erst nicht einordnen konnte. Mit leicht zusammengezogenen Augenbrauen fand mein Blick wieder ihren, und ich legte meinen Kopf fragend leicht schief. Was sollte schon mit mir sein? Ich würde kämpfen und wiederkommen, im Bestfall unversehrt. Aber als Sierra sofort leicht ihre Augen verdrehte, unseren Sichtkontakt aber hielt, setzte ich mich plötzlich gerader hin.
„Ich will dich bei mir haben", sagte sie leise, und ich lehnte mich erschrocken weiter vor, als ich die Tränen zwischen ihren Wimpern erkannte. Das Mädchen vor mir biss sich kurz auf die Unterlippe, diesmal das einzige Zeichen ihrer Unsicherheit, und ich hob sanft meine rechte Hand.

Sierra zuckte nicht zurück, als ich meine Fingerkuppen sanft auf ihre Wange legte, die Tränen behutsam wegstreichend. Meine Warnung schien sie mehr getroffen zu haben, als ich erhofft hatte... Aber ich war nicht verwundert. Sie war verzweifelt hier angekommen in dem Wissen, für ein Wochenende mit ihrer irren Mutter zusammengesperrt zu sein. Dann fand sie heraus, dass zwei Mitschüler – ein Freund, ein Feind – sich mehr oder weniger undercover hier eingeschlichen hatten und sie deswegen gezwungen war, länger zu bleiben. Und jetzt sollte der einzige Frieden, den sie hier hatte – die Freiheit, akzeptiert zu werden, solang sie die Regeln der Geweihten beachtete – gestört werden, im selben Atemzug, wie ihre Freunde in Gefahr gerieten. Es war beeindruckend, dass sie überhaupt ruhig blieb.
Sie war beeindruckend...

Ich schloss für einen kurzen Moment meine Augen, der nur um Millisekunden zu lang war, um als Blinzeln durchzugehen. Auch wenn es mir schwerfiel, ich war drauf und dran, wieder einen akzeptablen Abstand zwischen uns herzustellen... da schlossen sich ihre Finger fester um meine linke Hand. Als wöllte sie mich festhalten...

Mein Blick verhakte sich fest mit ihrem, der mir vertrauensvoll entgegensah. Sie verließ sich darauf, dass ich mich für das entschied, was uns beide glücklich machen würde...
Und da gab es nur eine Antwort.

Innerhalb eines Wimpernschlags hatte ich den Abstand zwischen uns überbrückt und meine Lippen auf ihre gelegt. Keiner von uns beiden vertiefte den Kuss, wir blieben unglaublich sanft und zärtlich. Ich schmeckte Sehnsucht, und Vertrauen, und... Sicherheit.
Das hier war etwas, was wir beide brauchten. Aber obwohl ich spürte, dass die Gefühle von beiden Seiten ehrlich und tief waren, war es auch eine Ablenkung, die ich nicht lang zulassen durfte.
Nach nur wenigen Sekunden zog ich mich wieder von Sierra zurück, aber nur so weit, dass ich meine Stirn an ihre legen konnte.
Unsere Finger blieben ineinander verschlungen.

„Wenn das ein Abschied ist", war es Sierra, die mit zittriger Stimme die ersten Worte wiederfand, „Dann bist du der stereotypste Herzensbrecher überhaupt, Hunter Stark."
Ich versuchte, zu ignorieren, wie tief diese Sätze mich trafen. Wie sehr mich ihr Ton berührte. Und wie mein voller Name aus dem Mund, den ich eben noch auf meinem gespürt hatte, eine Saite in mir anstieß, von deren Existenz ich bisher noch nicht einmal gewusst hatte.
Ich scheiterte kläglich.

„Kein Abschied." Auch meine Stimme bebte. „Ein Versprechen."

***

Nun... ich bin wirklich nicht sonderlich gut darin, Romanzen zu schreiben. Es war wohl von Anfang an jedem klar, dass das hier irgendwann passiert, aber ich hoffe doch, dass ich euch wenigstens mit "dem Plan" überraschen kann. Der sollte mir besser gelingen.😉

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