Hunter ~ Spendenbox

„Sind wir Jäger oder Sucher?", fragte ich Morgan über meinen Ohrhörer, „Hast du Anlaufpunkte für uns?"
„Ihr seid auf der Jagd. Im Norden lauft ihr die beiden Kirchen an und solltet vielleicht auch bei der Shell-Tankstelle weiter östlich vorbeischauen, im Süden habe ich den Bahnhof und den Boxclub als Hotspots. Ihr seid auf euch allein gestellt, sollte Queenie noch kommen, geht sie unter Peggys Kommando."

Mit einem knappen Nicken verabschiedete ich mich und winkte dann Chad zu. Mein Cousin fügte sich, er versuchte nicht einmal, die Führung zu übernehmen oder auf eigene Faust zu suchen. Man mochte es glauben oder nicht, aber Wakandas Thronfolger war durchaus teamfähig. Wenn er wollte.

In einer solchen Situation wäre es ganz praktisch gewesen, ein ganzes Team an unserer Seite zu haben: Zwei Watchers an jedem Orientierungspunkt, sodass wir jegliche Kriminellen einfach einkreisen und erledigen konnten. Tja, das Leben ist kein Wunschkonzert... Immerhin überwachte Morgan nebenbei die Kameras, sie war nur eben meist zu beschäftigt, um vor Ort kommen. Heute allerdings war sie eine nette Cousine – es war dann doch etwas merkwürdig, sie als ‚Tante' zu bezeichnen – und half uns wenigstens mit zwei Kriminalitäts-Hotspots: „Okay, grenzt euer Suchgebiet ein, der Boxclub ist sauber. Die Tankstelle eher weniger, aber die, die wir suchen, sind jedenfalls nicht dort."
Blieben also nur die Kirchen, zu denen wir sowieso unterwegs waren, und der Bahnhof.
Warum auch immer irgendwelche Bad Guys in die Kirche gehen sollten.

Ich warf einen prüfenden Blick durch die Fußgängerstraße, über deren graues Pflaster wir möglichst unauffällig schlenderten. Links und rechts von uns erhoben sich Mietshäuser, die alle in schlichten Farben gehalten waren – meistens grau oder weiß, ab und zu schlich sich auch mal eine hellrote Fassade dazwischen. Es war eine Straße, die wir in jeder Stadt Amerikas hätten wiederfinden können, wäre der Lärm der Hauptstraße nicht ständig an unser Ohr gedrungen.
Die Menschen hier schienen alle irgendwie beschäftigt zu sein, trugen Einkäufe in ihre Häuser oder unterhielten sich mit Passanten, einige waren in ihre Smartphones vertieft oder eilten hastig vorüber.
Alles war ruhig.

Während meines kurzen Gesprächs war Chad samt iPhone und Google Maps vorausgegangen, er schaute nicht einmal zu mir zurück. Wenigstens glitt sein Blick unauffällig durch die dicht bevölkerten Straßen, unsere Umgebung absichernd. Tatsächlich schien er etwas entdeckt zu haben: Betont langsam ließ er sein Handy in die Hintertasche gleiten und nickte mir jetzt doch zu: „Halb links, der Typ mit der Zigarre im Mund."
Bevor ich seinem Wink folgte, grinste ich breit: „Bei professionellen Verteidigern nennt man das ‚auf zehn Uhr'." „Nur gut, dass meine Profession ganz sicher nicht in diese Richtung gehen wird", zischte Chad zurück. Von mir gab es dazu nur eine hochgezogene Augenbraue: „Dann bin ich gespannt, was Okoye dazu sagt, wenn du als Wakandas König dann in irgendeinem kriegerischen Akt etwas von halb links brüllst."

Damit wandte ich meine Aufmerksamkeit dem Zigarren-Typen zu. Sonderlich auffällig war er nicht gerade, meine Augen irrten eine Weile durch den bunten Mischmasch an Menschen auf der schmalen Straße – ich war erstaunt, dass T'Chada ihn überhaupt entdeckt hatte. Einvernehmlich schoben wir uns näher an den dicklichen Alten mit Schlapphut und nachlässig zugeknöpftem Hemd.
„Er sieht zumindest nicht aus, als würde er Drogen nehmen", murmelte ich skeptisch, „Ab und zu ein Bier, ja, aber nichts Härteres."
Als er kurz hustete und damit eine Dampfwolke in unsere Richtung blies, bewies sich meine Vermutung: „Jap, normale Zigarre."
„Bist du jetzt zum Drogenspürhund mutiert, oder was?", knurrte Chad, augenscheinlich unzufrieden über seinen falschen Verdacht. „Jetzt komm, wir sind fast an der Mount Sinai Seventh-Day Adventist Church." Das hatte er ja brav auswendig gelernt.

Jene Kirche allerdings, aus rötlichem Sandstein an einer Straßenkreuzung mit breiten Bürgersteigen erbaut, schien auch auf den zweiten Blick keine Drogenhändler zu beherbergen. Nicht einmal Obdachlose bettelten um Almosen, eher ungewöhnlich. Die Kirche wurde fast nur von Dunkelhäutigen besucht, und die Stimmung war gleichzeitig festlich und ausgelassen – Chad und ich störten nämlich während eines Gottesdienstes, leise durch die Hintertür tretend. Wir verständigten uns über einen kurzen Blick, und mein Cousin zog die Augenbrauen hoch. Sicherheitshalber scannte ich also die Szenerie und schickte sie an Morgan, dann gingen wir die paar hundert Meter bis zur Our Lady of Lourdes Church. Die hatten aber auch umständliche Namen.

Die Kirche hier war weiß getüncht, aber ihre Farbe war über die Jahre ziemlich schmutzig geworden. Ihre Vorderseite war breiter als die der Adventist Church, doch im Gesamten war sie kürzer und gedrungener. Hier kauerten sich tatsächlich zwei Männer im Schatten, ausgemergelt und mit gehetzten Blicken, doch sie bettelten nicht.
Ich behielt sie im Auge, nebenbei zum Schein das Kirchenprogramm studierend, während Chad um die Kirche herumging.

Kuriere waren die Männer auf jeden Fall nicht, wie sie ziellos an der Außenwand der Kirche herumwanderten und sich ab und zu Zigaretten drehten. Ganz sauber war dieses Zeug auch nicht, aber nach einer Weile des Analysierens kam ich zum Schluss, dass sie Einzelgänger waren. Im Klartext: Sie gehörten nicht zu der Bande, auf die wir Jagd machten.
Tja, T'Chada schien erfolgreicher zu sein als ich: „Ich bin durch die Seitentür in die Kirche und hier macht sich jemand an der Spendenbox zu schaffen. Und da ich ein braver Black Lion bin und unauffällig bleiben soll, lasse ich dich das diplomatisch lösen."
Seufzend zog ich die schwere Holztür auf, die sich erstaunlich lautlos öffnen ließ, und blieb dann für einige Sekunden blinzelnd im Dämmerlicht stehen. Als sich meine Augen an die Düsternis gewöhnt hatten, galt mein erster suchender Blick meinem Cousin, der an einer Säule unweit des Altars lehnte. Von der Vordertür lief ein kurzer Gang geradeaus, die Sitzreihen verliefen parallel dazu. Der Gang zum Altar zweigte rechts ab, und nur ein paar Meter vom Jesuskreuz entfernt versuchte eine drahtige, hochgewachsene Frau offenbar, ihr Geld wieder aus der Spendenbox herauszufischen. Von Chad nahm sie keine Notiz, aber wenn man von ihrer Position aus den Kernschatten der elektrischen Kerzen bedachte... Höchstwahrscheinlich konnte sie ihn nicht sehen.

„Entschuldigen Sie, kann ich Ihnen behilflich sein?", fragte ich höflich, nachdem ich auf fünf Meter an sie herangekommen war. Die Frau fuhr auf, offenbarte schmutzig blondes Haar, das sie zu einem losen Seitenzopf geflochten hatte, und – weitaus interessanter – ein eckiges, äußerst angespanntes Kinn. Ich hatte sie unvermutet ertappt.
„Ich habe aus Versehen den falschen Dollarschein hineingeworfen, 50 anstelle von fünf, aber ich bekomme ihn nicht wieder hier raus...", fing sie sich glücklicherweise schnell.

Gar nicht übel, diese Ausrede. Aber sie sprach hier mit dem Prinz der Lügen... Ihre geblähten Nasenflügel und natürlich der angespannte Kiefer verrieten sie. Ich lächelte breit: „Wenn Sie es verkraften können, sollten sie den Tausch nicht rückgängig machen. Gott hat Ihre Hand geführt, und die Kirche wird es Ihnen danken."
Ganz kurz, fast nicht bemerkbar, rutschte ihr Ausdruck in einen Dein Ernst?!-Blick, dann seufzte sie schwer. „Ich kann es nicht verkraften, das ist das Problem."
Für einen Moment verzog ich meinen Mund, dann zuckte ich die Schultern. „Ich bin jeden Tag hier und kenne den Kirchenvorsteher. Ich werde ihn rasch anrufen."
Fast sofort glitt ihre Hand zur hinteren Tasche ihrer Jeans und ich wusste, ich hatte einen Fehler gemacht. Viele Leute besuchten diese Kirche nicht, und sie hatte sie anscheinend beobachtet – ohne mich dabei zu sehen. Klar, ich war ja auch nie da.

Ich zuckte mit einem halben Grinsen die Schultern: „Tja, gerade ist er ein wenig sauer auf mich, weil ich die letzten drei Gottesdienste nicht da war – ich lag mit Fieber im Bett, müssen Sie wissen –, aber Hilfsbedürftigen verweigert er sich nie."
Ihre Schultern sanken wieder leicht nach unten, sie glaubte mir. Trotzdem hatten ihr meine Worte nicht gefallen, und sie erkannte wohl, dass sie mit dem Geld nicht an mir vorbeikommen würde: Wieder griff die Blondine nach ihrer Hosentasche, die garantiert ein Klappmesser beinhaltete, und kam zwei Schritte auf mich zu. „Also, es wäre wirklich nett, wenn Sie-"
Noch bevor sie ihren Satz beenden konnte, trat ich einige geschmeidige Schritte auf die Seite und tauchte hinter die Säule, aus deren Schatten Chad jetzt trat. Er sagte nichts, als die Frau erschrocken herumfuhr und sich die Rädchen in ihrem Hirn drehten. Ein verzweifelter Ausdruck huschte über ihr Gesicht – wir waren in der Übermacht, und das war ihr bewusst. Sie war ein in die Enge getriebenes Tier... Und damit zu allem bereit. Das Messer in ihrer Hand blitzte in einem der wenigen Sonnenstrahlen, die durch die verdreckten Kirchenfenster hereinfielen, gefährlich auf.

***

Das erste Kapitel im neuen Jahr... das, nebenbei bemerkt, ein Gesundes und Fröhliches werden soll!😉
Nächsten Dienstag begegnet uns ein weiteres Mitglied der Watchers, das aber in "Iron Kid ~ Plan B" schon den ein oder anderen Auftritt hatte. Na, wer errät, wer "Queenie" ist?

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