Hunter ~ Sonnenuntergang

Nur mit Mühe hatte ich zumindest einen Großteil des Essens herunterbekommen, bevor einige niedriggestellte Mafiosi die Teller eilig wieder abgeräumt hatten.
Eigentlich war ich darauf eingestellt gewesen, den schlimmsten Teil des Abends schon hinter mich gebracht zu haben. Chad hatte sich zurückgelehnt und von Ashe abgelassen, Luke war sowieso wie erstarrt und den Blick zu den Anführern mied ich gekonnt. Aber als die Schritte der zum Kellner degradierten Geweihten verklungen waren, schien das Treffen erst wirklich zu starten...

„Die Avengers haben die Staaten komplett durchkämmt." Als die Stimme meines Cousins das angespannte Schweigen wieder durchbrach, wäre ich beinahe zusammengezuckt, aber ich hatte mich wieder unter Kontrolle. Ich mochte meinen Körper und konnte mich auf meine eigene Stärke verlassen, aber meinen Kopf zog ich dann doch ganz klar vor. Und dafür musste ich nicht hochintelligent sein, wie Scar manchmal zu denken schien. Sie war wohl das Gegenteil von Kontrolle...

Ich erlaubte meinen Gedanken nur für den Bruchteil einer Sekunde, bei diesem gefährlichen Thema zu verweilen, dann hatte ich T'Chada wieder im Fokus, obwohl mein Blick auf die Holzmaserung des Tisches gehaftet war. „Afrika haben sie ebenfalls wieder abgehakt. Sie überlegen, einen Trupp mit Loki und Scarlett Witch nach Russland zu schicken und ebenfalls in Europa anzufangen."

Akuji neben mir gab immer mal Geräusche von sich, wenn sie sich bequemer hinsetzte oder aus ihrem Porzellankelch trank und Uru gab ab und zu leise Kommentare ab, aber der einzige Laut, den ich überdeutlich hörte, war das heftige Pochen meines eigenen Herzens.
Entweder hatte Chad das Thema angeschnitten, weil er Ahadi Informationen für mich entlocken wollte, oder er hatte vor, mich ins Verderben zu stürzen... Verdammt, er war genauso unlesbar wie verschlagen und skrupellos. Bei T'Chada wusste man nie, welche Hintergedanken er hatte – vermutlich einer der Gründe, weshalb meine direkte, ehrliche Schwester ihn verabscheute.

Und schon wieder war ihr Bild in meinem Kopf aufgetaucht... vielen Dank auch, Chad. Dabei brauchte ich jetzt äußerste Konzentration, denn Ahadi gab meinem Cousin mit gefährlichem Lächeln Auskunft: „Wir sind nicht so naiv, sie an einem Ort zu halten, Junge."
Als er den Kopf drehte und sein Gesicht im Schatten verschwand, schien es, als würden seine schwarzen Haare das Licht schlucken und ihn in Dunkelheit hüllen. Nur die hellen Augen blitzten noch, als der Anführer der Geweihten langsam sein Steakmesser durch die Finger tanzen ließ.

„Deine kleine Beute befindet sich momentan weder in Amerika, noch Eurasien. Sei unbesorgt..."
Ich brach mir beinahe einen Zahn ab, so heftig presste ich meine Kiefer aufeinander.
Chad wusste von Nia.
Deine kleine Beute.
Verdammt, das klang, als hätte er sie entführt. Das durfte einfach nicht-
Das konnte nicht wahr sein. Er war zu der Zeit bei uns gewesen, erst im Auto und dann bei Peter. Er konnte unmöglich Hand an unser Küken gelegt haben. Zumindest nicht selbst...

Verdammt, Chad gehörte zu uns. Er war ein Watcher, und unsere oberste Aufgabe war es, Nia zu beschützen... Er schien doch selbst nicht zu wissen, wo sie war. Er konnte nichts zu tun haben damit.

Trotz der Zweifel ließ ich meinen Bick für einen Wimpernschlag über meinen Cousin schweifen, der es trotz der steifen Lehne hinter ihm schaffte, bequem im Stuhl zu fläzen. Seine Augen hatte er ruhig und entspannt auf Ahadi gerichtet, während sein Oberkörper eher auf Uru ausgerichtet war. Nach wie vor war seine Körperhaltung für mich nicht wie bei jedem anderen ein offenes Buch, sondern eher ein fest geschlossenes Hardcover.

„Ihre Reichweite ist groß", sagte Chad, was vielleicht eine Warnung gewesen wäre, hätte er seine Stimme nicht gänzlich gelangweilt gehalten. „Wenn sie auf zwei Kontinenten keine Spur gefunden haben, werden sie nicht ruhen, bis sie jeden Stein der Erde einzeln umgedreht haben."
„Unsere Reichweite ist größer", schnarrte Ahadi, sein Messer wieder mit geschickten Fingern ablegend, „Und unser Netz so weit gespannt, dass niemand ungesehen hindurchgelangen kann."

Chad nickte knapp, aber jetzt erhob Uru ihre Stimme: „Dennoch... in drei Tagen wird über geweihtem Boden ein neuer Himmel aufgehen, wenn die Nacht erst hereingebrochen ist." Diese Frau liebte Aufmerksamkeit. Ihre rauchige Stimme war nur klar verständlich, wenn man die Ohren ungeteilt auf sie richtete, und ihre Metaphern zielten darauf ab, stundenlang nachzugrübeln.
Tja, bei mir war sie erfolgreich.

Mittwoch bei Sonnenuntergang.
Sie hielten Nia nicht an einem Ort gefangen – mussten sie also bewegen. Und wenn ich die Zeichen richtig deutete, würde sie in drei Tagen hier sein... Bei den Geweihten, die noch nicht einmal Skrupel ihr gegenüber gehabt hatten, als sie noch ein Kleinkind war. Bei den Mafiosi, die ihre Mutter getötet hatten.
Bei mir...

Verdammt, das Zeitfenster war knapp.
Uns blieben zwei Tage, um zu planen – denn Ahadi erwähnte mit keinem Wort, wie lang meine kleine Cousine hier sein würde. Vielleicht waren es nur wenige Minuten... wir mussten bereit sein.
Und dabei hatte ich bisher nicht einmal meine Aufzeichnungen aus der ersten Woche Morgan zukommen lassen...

Ich musste hart schlucken und bohrte meine Fingernägel in die Handfläche meiner linken Faust, irgendwie versuchend, die Verzweiflung zu unterdrücken. Ich konnte mit Emotionen jetzt nichts anfangen, musste mich konzentrieren... brauchte die Kontrolle.

Wir würden das schaffen. Hundertprozentig.
Weil es keine Alternative gab.
Sollte Nia nicht heil wieder zurückkommen- ... Nein. Es lohnte sich nicht, darüber nachzudenken, ich durfte nicht. Es gab kein Leben ohne Nia, keine Notlösung, keinen Plan B. Wir holten sie zurück, und dann... dann wären wir alle wieder zusammen.

United we stand.
Den Satz hatte ich schon gekannt, lange bevor ich ihn verstanden hatte. Aber er war wahr... Allein wenn ich nicht im selben Haus war wie Scarlett, mutierte ich zum Wrack. Und sobald ein Bindeglied der Avengers gefehlt hatte – Peter, der lang nicht über MJs Tod hinweggekommen war –, waren sie auseinandergebrochen.
Das durfte nicht noch einmal passieren.
Und ich war hier, um genau das zu verhindern.

Als ich wieder von meinen weiß hervortretenden Fingerknöcheln aufsah, waren Akujis Augen das erste, was meinen Blick auf sich zog. Sie musterte mich aufmerksam, aber reservierter als sonst. Natürlich, ich verhielt mich mehr als auffällig – aber ich würde nicht zulassen, dass ich mir so kurz vor dem Ziel meinen Weg wieder verbaute.
Ich atmete tief ein, durch mein Zwerchfell, was an meinem Oberkörper nicht sichtbar war.
Drei Tage. Das wurde eng, aber wir waren die Watchers...
Tja, wie das Abimotto, das Luca vorsichtshalber schonmal vorgeschlagen hatte – Abikini. Knapp, aber passt schon.

Mit einem Grinsen, das mit etwas Mühe meine Augen erreichte, ließ ich meine rechte Hand vorsichtig zur Armlehne von Akujis Stuhl wandern, die unter die Tischplatte geschoben war. Ich ertastete ihre entspannt darauf abgelegten Finger und bedeckte sie mit meinen. „Eiskalt", murmelte ich so leise, dass nur die schmal lächelnde Teenagerin neben mir es mitbekam. „Genau wie deine Seele."
Das mittlerweile vertraute Funkeln trat in Akujis Augen, diesmal sogar ohne elektrisierendes Bildschirmlicht. „Du lernst schnell, Peter."

***

Soo, jetzt haben wir also einen Zeitpunkt, wann es ernst wird. In den drei Tagen bis dahin wird aber noch Einiges passieren... Es werden wieder einige Charaktere aufeinandertreffen. Falls ihr Schwierigkeiten dabei habt, euch alle Gesichter zu merken, ich habe jetzt am Anfang der Story ein Personenregister hochgeladen!😉

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