Hunter ~ Seitengang

Ich sollte Mom wirklich mal prüfen lassen, ob ich nicht doch ein Vampir war.
Erst jetzt, gegen Abend, war ich wach genug geworden, um mich aus dem Schlafzimmer zu bequemen – was ich schon in der Sekunde bereute, als ich die Tür hinter mir geschlossen hatte. Es war zwar schon Ende August – unergründlicherweise spuckte mein Hirn aus, dass Percy Jackson heute Geburtstag hatte –, aber im ungeheizten Flur mit dem groben Steinboden fröstelte ich trotzdem. Um mir trotz dünnem grauem Shirt und einfacher Jogginghose etwas Wärme zu spenden, verschränkte ich meine Arme, einmal mehr bereuend, dass ich wenig vom Frostriesenblut abbekommen hatte. Wenn ich aber die andere Seite dieser Temperaturmünze betrachtete, konnte ich mich wirklich nicht beschweren...

Entschieden schob ich jeglichen Gedanken an meine Familie weg und konzentrierte mich auf die schmale Treppe am Ende des Flurs. Noch bevor sie um die Ecke bogen, hörte ich schwere Schritte von unten kommen, also nahm ich wohlweißlich Abstand.
Tatsächlich quälten sich zwei kräftige Frauen die Stufen hoch, einen niedrigen Schrank tragend – sie steuerten vermutlich das Lager im obersten Stock an. Diese Platzwahl war ergonomisch vielleicht sinnlos, aber Akuji hatte wohl darauf bestanden, dass die Inventarräume so weit weg wie möglich von ihrem Bunker im Keller waren, weil sie sonst von den vielen Mafiosi gestört werden würde. Und so ziemlich alles, was Akuji sagte, war Gesetz.

Die beiden Frauen setzten den Waffenschrank auf dem Treppenabsatz jetzt kurz ab, und die Vordere wischte sich ihre verschwitzten, dunkelblonden Haare aus der Stirn. Mir, an der Flurwand lehnend, schenkten sie keinen zweiten Blick, aber als ich die Blondine genauer betrachtete, wurden meine Augen plötzlich groß. Der verkrampfte, vierschrötige Kiefer war mir nur zu gut in Erinnerung geblieben, und sie bewegte sich so vorsichtig, als hätte sie vor nicht allzu langer Zeit eine gefährliche Wunde in der Bauchgegend gehabt... Die Frau aus der Kirche!
Sie war also doch von den Geweihten geschickt gewesen – vermutlich, um uns vom Bahnhof abzulenken. Tja, Shit happens, ihr Lieben.

Ich behielt die beiden Mafiosas solang fest im Blick, bis sie mit ihrem Schrank um die nächste Ecke verschwunden waren. In der Hoffnung, genug Videomaterial für Morgan gespeichert zu haben, wandte ich mich nach unten und eilte die Stufen hinab. Meine Turnschuhe machten kaum ein Geräusch auf dem Steinboden, als ich wie ein Eindringling durch den dunklen Korridor huschte und Akujis unterirdisches Kontrollzentrum ansteuerte. Kaum hatte ich die unterste Ebene erreicht, musste ich mich um einen tiefen Atem bemühen – die Luft hier wirkte immer stickiger als weiter oben. Ich hatte keine Platzangst, aber hier unten fühlte es sich doch manchmal so an, als würden die niedrigen Wände sich immer weiter verengen...

Ein Geräusch riss mich aus diesen beunruhigenden Gedanken, das hier so selten war, dass ich es für einen Moment kaum einordnen konnte. Irgendwo weiter vorn lachte jemand. Kein spöttisches Grinsen oder hämisches Kichern, sondern ein ehrliches, reines Lachen...
Ich bemerkte gar nicht, wie ich stehen blieb und nur noch dieses eine Geräusch wahrnahm. Noch als es verklang, war es, als würden die Wände – die plötzlich gar nicht mehr einschüchternd wirkten – es zurückwerfen, dann wurde das Echo von einer fröhlichen Stimme übertönt.
Vielleicht zwanzig Meter vor mir stolperte Sierra aus einem Seitengang heraus, wo sie stehen blieb und meinen Blick auffing. Das Lächeln auf ihren Lippen – und in ihren Augen – verschwand nicht, als sie mich erkannte und ihre Hand hob, wie um zu winken.

Bevor einer von uns noch eine Reaktion zeigen konnte, stieß jemand Sierra von hinten an. Erstaunt erkannte ich Ashe, die ich zum ersten Mal außerhalb von Lukes Gesellschaft und mit einer aufgeweckten Miene sah, und die ihre brünette Freundin mit einem lautlosen Lachen weiterstieß. Sierra verschwand durch die nächste Tür, aber nicht, ohne ihre Augen noch für einen Moment auf mir ruhen zu lassen.

Dieses Mädchen irritierte mich einfach nur. Eigentlich konnte ich in Körperhaltungen lesen wie in Büchern, aber Sierra, die in normaler Umgebung schüchtern und zaghaft war, entwickelte in feindlicher Gesellschaft Selbstbewusstsein und Offenheit. Das machte keinen Sinn – es sei denn natürlich, sie war hier gezwungen, eine Seite zu zeigen, die sie sonst lieber versteckte... Oder sie hatte hier keinen Grund, irgendetwas vorzuspielen. Weil auch ihre verrückte Mutter hier akzeptiert wurde, und vielleicht hatte Sierra in der Öffentlichkeit ja auch Angst, zu selbstbewusst zu wirken – weil es sie an die Isobuta erinnerte.

Es gelang mir nur mit etwas Mühe, meine Gedanken von dieser Charakteranalyse wegzureißen. Immerhin hatte ich einen Auftrag, und ich war zumindest schon so weit, dass der Nick Fury der Geweihten mich beim Vornamen nannte.
Kontrolliert durchatmend beschleunigte ich meinen Schritt und klopfte kurz leise an Akujis schwarz gestrichene Tür. Brav wartete ich vier Sekunden ab, dann trat ich ein, ohne eine Aufforderung bekommen zu haben – immerhin konnte die Teenagerin sich nur höchst selten von ihren Bildschirmen losreißen.

Ich verharrte einen Moment, nachdem ich die Tür sorgfältig wieder verschlossen hatte, damit sich meine Augen an die ungewöhnlichen Lichtverhältnisse gewöhnen konnten. Die Wände des kleinen quadratischen Raumes waren fast vollständig mit Bildschirmen bedeckt, und die hinteren Tische, die sich über die komplette Breite zogen, waren ebenfalls vollgestellt – bis auf die Lücke zwischen den beiden letzten Computern ganz rechts, wo ich immer saß. Obwohl es hier noch stickiger war als auf dem Flur, entspannte ich mich bei Akuji meistens, weil es hier drin bis auf das stetige Klappern der Tastaturen oder Computermäuse immer ruhig war.

Ohne zu zögern zog ich mich auf den Tisch, einen kurzen Blick auf die Schwarzhaarige neben mir werfend. Ihre Augenringe traten auf der hellen Haut deutlich hervor – sogar sie schien in diesen Tagen Stress zu haben. Ich hatte noch die Hoffnung, dass es bei ihr nicht an Taka lag, denn wegen des anstehenden Besuches war ich etwas nervös – was aber mehr mit Ahadi und Uru zusammenhing. Und unwillkürlich fragte ich mich, welcher meiner Klassenkameraden Urus mysteriösen Liebling verkörperte... Denn jetzt würde es mich definitiv nicht mehr überraschen, einen weiteren Bekannten bei den Geweihten vorzufinden.

„Ich hatte mich schon gefragt, wann du kommst."
Verwirrt sah ich auf, als meine Gedanken unterbrochen wurden. Akuji hatte ihren Blick nicht vom Desktop abgewendet, aber es war eindeutig ihre Stimme, die die Stille durchschnitten hatte. Und wenn ich es nicht besser wüsste, grenzte das fast an Smalltalk – auf Akuji-Art –, was sie hier versuchte...
„Die Nacht war nicht gerade erholsam, ich musste Einiges aufholen", antwortete ich trotzdem leise. Und mit einem Seitenblick auf ihre ausgezehrten Gesichtszüge fügte ich hinzu: „Aber das muss ich dir vermutlich nicht erklären." Ihr entkam ein zustimmendes Geräusch, bevor sie gähnte – vermutlich ohne es zu bemerken. Ich hütete mich, ihr einen gesünderen Schlafrhythmus zu raten, sie würde mich wohl sofort hochkant rauswerfen.
Und auch wenn ich mir nur Mühe mit ihr gab, weil ich meine kleine Cousine endlich wohlbehalten wieder in den Armen halten wollte, war der Umgang zumindest mit dem jüngeren Teil der Mafia längst nicht so schlimm, wie erwartet.

„Mort hat den Bericht über deine Mission abgeben", erklärte Akuji nach einer Weile des Schweigens, „Deine Status ist jetzt von unsicher – prüfen auf Vertrauensbeweis noch erforderlich hochgegangen."
„So?", ich zog die Augenbrauen hoch, in Sekundenschnelle meine Reaktionsmöglichkeiten durchgehend. Arroganz, Triumph, Freude – alles fehl am Platz. „Und was soll mir die Information jetzt sagen?"
Akuji drehte jetzt endlich ihren Kopf, ließ ihre elektrisch blauen Augen über mich wandern. Ihre Mundwinkel zuckten, als hätte ich einen Test bestanden – natürlich hatte ich das. „Nichts", zuckte sie die schmalen Schultern, „Mir sagt es nur, dass ich recht hatte."

***

Soo, hiermit sind wir bei der Hälfte der vorgeschriebenen Kapitel angekommen. Im Endeffekt werden es höchstens 80, aber auf jeden Fall über 70. Das ist definitiv die längste Story, die ich jemals geschrieben habe.😉

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