Hunter ~ Schrei

Eigentlich war es klargewesen, dass mir kein sonderlich langer Moment der Ruhe vergönnt sein würde. Es war einfach zu friedlich für eine derartige Situation, dass ich hier Arm in Arm mit Sierra stand, ihre Hände in den Rücken meines Hoodies gekrallt, den ich über dem schusssicheren Anzug trug. Eine ihrer Locken kitzelte sanft meine Nase, und ich sog tief und regelmäßig ihren Geruch ein.

Trotz der Offensichtlichkeit war ich überrascht, als sich erneut jemand lautstark näherte, der mir diesmal ganz sicher nicht freundlich gesinnt war. Er kam ebenfalls von oben, weshalb ich Sierra eilig von mir wegschob und so leise wie möglich murmelte: „Die anderen Gebäude sind sauber, da kannst du hin. Sammle Ashe ein, die müsste irgendwo in unserem Haus sein, und verschwinde mit ihr zu einem sicheren Ort. Sprich sie nicht auf Luke an. Keine Fragen."
In dem Moment, in dem sie mich auf eine unergründliche Weise anblickte, bereitete ich mich schon darauf vor, sie zum Gehen zu zwingen. Dann aber drückte sie nur einmal kurz meine Hand und eilte davon, und trotz des nahen Feindes musste ich lächeln. Manchmal vergaß ich, was für ein Glück ich mit ihr hatte.

Meine Freude dauerte aber nur Sekunden an, denn wie bei Sierra zuvor kündigte sich der Geweihte jetzt durch seinen Schatten an. Ich presste mich wieder an die Wand, alle Sinne auf den Fremden gerichtet, und nahm seinen schweren Atem wahr. Ein ausgewachsener Mann, vermutlich kräftiger, aber langsamer als ich.
Nur einen winzigen Moment, bevor er um die Ecke bog und mich sehen konnte, schoss ich aus meinem notdürftigen Versteck hervor. Mein Handkatenschlag, der ihn eigentlich an der Halsschlagader hätte treffen sollen, landete aber an der Schläfe des rothaarigen Geweihten, der mit einem leisen Schrei erst zurückzuckte und dann blind seine Faust nach mir stieß.

Rasch wich ich aus, verwandelte aber meine Seitwärtsbewegung sofort in einen rechten Hakten, der mit einem zufriedenstellenden Knacken mit den Rippen des Fremden kollidierte. Er war kleiner und kompakter, als ich vermutet hatte, aber eine Chance hatte er trotzdem nicht gegen mich. Obwohl ich eine Stufe unter ihm war und er von seiner erhöhten Position jetzt nach mir trat, gelang es mir, seinen Fuß mit den Händen abzufangen.

Ohne eine weitere Reaktion zog ich ruckartig am Stiefel des Geweihten, der mit einem erneuten Schrei sein Gleichgewicht nicht mehr halten konnte und mit dem Rücken heftig auf der Treppe aufkam. Für einen Moment blieb er wie erstarrt liegen, weil die Luft aus seinen Lungen gepresst wurde, und ich ließ diese Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen. Ich stürzte meinem Gegner hinterher, mit fest geballter Faust, die in einem geraden Schlag auf das Kinn des Rothaarigen abzielte. Mein Jab traf sauber den K.O.-Punkt, und die Augen des Geweihten verdrehten sich sofort so, dass ich nur noch das Weiße sehen konnte.

Ohne dem gruseligen Anblick auch nur eine weitere Sekunde meiner Zeit zu schenken, hetzte ich die Stufen wieder hinunter, mein Herzschlag genauso schnell wie die rasch trommelnden Schritte. Dennoch musste ich mich zwingen, am Treppenabsatz innezuhalten, denn mein Kopf war gerade wesentlich langsamer als mein Körper. Es dauerte eine Weile, bis sich wieder das Bild von Scarlett vor mein inneres Auge drängte, wie sie kurz zuvor durch den linken Gang hier verschwunden war. Bewusst tief durchatmend scannte ich den Keller mit meinen Blicken ab, denn auch wenn wir kurz vor dem Ende des langwierigen Kampfes mit den Geweihten standen, durfte uns gerade jetzt kein Fehler unterlaufen.

Nur knapp vor mir öffneten sich die dunklen Löcher der kaum zwei Meter hohen Tunnel, die nur spärlich beleuchtet waren. In unregelmäßigen Abständen glommen schwache Laternen in gelblichem Licht, die die dreckigen Steinwände offenbarten. Ich zögerte für einen Moment, unsicher, ob ich nicht doch Scarlett folgen sollte. Etwas in mir zog mich immer zu meinem Zwilling, doch ein Teil meines Hirns schrie mir auch zu: Dreh dich um und sorg' dafür, dass deine Freundin in Sicherheit ist! 
Und eigentlich sollte ich nach Chad ja den rechten Flur nehmen, um für so viel Ablenkung wie möglich zu sorgen... Ich schloss kurz die Augen und atmete entschlossen durch, denn eigentlich sollte es hier gar keine Entscheidung geben. Ich gehörte vor allem anderen zu meiner Schwester, und da steuerte ich jetzt auch hin, hatte bereits die ersten Schritte gemacht.

Doch dann, wie durch eine unerklärliche Ahnung, drehte sich mein Kopf weiter nach rechts, und mein Blick hängte sich an eine unscheinbare Nebentür. Sie war kaum so groß wie ich, aus gräulichem Holz, und mit Staub und Spinnenweben bedeckt. Sie sah aus, als wäre sie jahrelang vergessen gewesen – bis auf den Fakt, dass sie einen Spalt breit offenstand.

Ich hatte dem Raum keinen zweiten Gedanken geschenkt, da stand ich schon davor und stieß die Tür vorsichtig auf. Sie war eine der wenigen hier, die leise knarrte, und mit dem dreckigen Boden des Kämmerchens bestätigte sich mein Verdacht, dass hier lange Zeit niemand gewesen war. Bis auf heute.
Im Staub waren die Fußabdrücke, die zur hinteren Wand führten, im Bereich direkt vor mir deutlich zu sehen. Aber das spärliche Licht, das durch den schmalen Eingang fiel, wurde nach kaum einem Meter sofort verschluckt, weshalb ich mich lautlos den Spuren hinterherschob.

Ich war bis über die Maßen angespannt, zwang mich, trotz des Adrenalins in mir ruhig zu bleiben. Hier schien zwar keine unmittelbare Gefahr zu drohen, weil außer mir offensichtlich niemand anwesend war, aber warum-
Das Geräusch, das jetzt ab meine Ohren drang, war so leise und unauffällig, dass ich es beinahe überhört hätte. Aber hier in diesem Ambiente war es dermaßen angsteinflößend, dass ich sofort wusste, was mich hierhergezogen hatte. Gegen die hintere Wand, kaum erkennbar in der Dunkelheit, duckte sich ein unscheinbarer, schwarzer Kasten...
Die regelmäßigen Töne, die er ausstieß, hätte man beinahe für das beruhigende Voranschreiten von Uhrzeigern halten können. Das war auch der Grund, weshalb die Realisierung viel später durch mein Hirn fuhr als das bloße Wahrnehmen.

Chad suchte für umsonst in dem Gebäude über mir, die Geweihten hatten es längst geräumt. Das hier war eine Bombe, mit dem einzigen Ziel, uns zu töten...
Ich fuhr entsetzt herum, mein Herzschlag plötzlich dreimal so schnell wie die ablaufenden Sekunden. Aber ich hatte trotzdem kaum einen Schritt getan, da zerfetzte ein ohrenbetäubender Knall die Luft, nur Millisekunden, bevor die Explosion sich löste. In meinem Kopf hallte nichts wider abgesehen von meinem eigenen stummen Schrei, bevor alles schwarz wurde.

***

ACHTUNG, bitte lesen: Das hier ist eine Warnung. Das nächste Kapitel könnte sensible Inhalte haben.
Ich weiß nicht, ob eine Triggerwarnung wirklich nötig ist, aber Vorsicht ist besser als Nachsicht, oder?

Nun... ja. Ich weiß nicht, was ich noch sagen soll abgesehen von "Es tut mir leid."

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