Hunter ~ Schatten

Scar und ich sprinteten Seite an Seite über den von Unkraut überwucherten Kiesweg, der einmal die Verbindung zwischen Lager- und Waggonhallen gewesen war. Jetzt bot er nur Platz für zahlreiche Stiefel von Geweihten, die hier Tag für Tag die Pflänzchen achtlos platttraten und Informationen zwischen den Häuserkomplexen austauschten.
Jetzt war aber von der Ostküstenmafia nichts zu sehen, sie hatten sich zurückgezogen in ihre Rattenlöcher aus Angst vor dem Sturm, der da kam – vor uns.

Der Atem meiner Schwester neben mir ging schwer, denn obwohl sie unter Kälteeinfluss stand, war sie einfach keine Sprinterin. Ich stolperte beinahe über einen großen Kiesel, als ich ihr einen prüfenden Blick zuwarf, und richtete meine Augen dann wieder verbissen auf den Weg. Die eigentlich vielfältigen Farben der Umgebung hier wirkten in der Dämmerung alle wie Graustufen, und das Unkraut, das den Weg überwucherte, machte einen seltsam kalten Eindruck. Auch die Luft war jetzt merklich kühler geworden, da die Sonne mit ihren wärmenden Strahlen fehlte, aber das war für den Bruder von Scarlett Stark wohl kein Grund zur Beschwerde.

„Wohin?", stieß sie gepresst zwischen dem rhythmischen Knirschen unserer eiligen Schritte hervor, und ich hob meinen Blick. Wir waren fast am dreigeteilten Gebäudekomplex angekommen, aber ich hatte keine Ahnung, wo sie Nia hingebracht hatten. Im Bestfall waren sie und Peggy sowieso schon verschwunden...

Ich gab meiner Schwester keine Antwort, sondern fing mit einem langen Ausfallschritt meinen Sprint ab, als wir uns der doppelten Metalltür der vorderen Halle näherten. Ich musste nur einmal tief Luft holen, um meinen beschleunigten Atem zu beruhigen, dann zog ich mit einem kräftigen Rucken die Tür auf.
Ausnahmsweise war zwischen innerhalb und außerhalb des Bauwerks kein großer Unterschied zu bemerken, hier war es genauso kühl und zwielichtig. Der Eingangsraum war nur klein und offenbarte eine Tür in jede Richtung, von der ich nur die rechte bisher durchschritten hatte. Aber es war unwahrscheinlich, dass sie Nia in die Versammlungsräume gebracht hatten – und links lag irgendwo Ahadis Büro.
„Da lang", nickte ich meiner Schwester zu und steuerte die Tür mit der abblätternden hellbraunen Farbe an – erstarrte aber, sobald ich den Fuß gehoben hatte. Dahinter waren eilige Schritte zu hören, die wohl eine Treppe hinunterrannten, und ich suchte mir sofort einen sicheren Stand. Mit klopfendem Herzen ging ich in die Verteidigungsposition, während Scarlett sich mit gezogenem Dolch an meine Seite schob.

Die Tür flog in unsere Richtung auf und kollidierte mit einem scharfen Knallen mit der Wand, offenbarte eine einzige Gestalt. Ganz in schwarzer Kampfkleidung, die aber nicht aus dem Uniformmaterial der Geweihten bestand, sondern aus gutem alten Vibranium. Chad fuhr seine ausgefahrenen Krallen sofort ein, als er uns erkannte, aber aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, dass meine Schwester ihren Dolch nicht absenkte.
„Peggy hat Nia, sie konnten fliehen, brauchen aber mehr Zeit", erklärte er knapp, und bis auf ein erleichtertes Ausatmen ließ er mir keine Zeit für weitere Reaktionen. „Drei Watchers, drei Hallen. Lenkt sie ab."
Links von mir schnaubte Scarlett, und obwohl ich es nicht sehen konnte, wusste ich, dass sie die Augen verdrehte. „Wir teilen uns nicht auf." Obwohl unsere Venen alle mit Adrenalin vollgepumpt sein müssten und ich kaum länger auf einem Fleck stehen konnte, fand Chad den Nerv, ein lässiges Grinsen auf seine Lippen zu zaubern. „Ach, ich wusste gar nicht, dass du sich so sehr nach mir sehnst..."

Er erntete nicht mehr als ein Knurren, bevor Scar die Tür ansteuerte, aus der unser Cousin eben noch gekommen war. Seine Mundwinkel zogen sich für einen Moment noch weiter auseinander, dann wurde er wieder ernst: „Die Treppe runter, dann die beiden Tunnel. Ich kümmere mich um die hier." Mehr Informationen brauchte ich nicht – schon wieder im Laufschritt, folgte ich meiner Schwester. Sie lief jetzt schneller als gerade eben noch, Abstand zu Chad war eben doch antreibender als die Aussicht, Fremde zu verprügeln. Ich sah gerade noch, wie sie die letzten drei Stufen übersprang und ohne einen zweiten Blick in einem der Eisenbahntunnel zu verschwand.
Ich war drauf und dran, die letzten Stufen nach unten zu nehmen, da fuhr ich auf den Fersen herum.

Von oben erklangen Schritte, und sie gehörten ganz sicher nicht zu meinem Cousin. Ich sprang eilig so leise wie möglich einige Stufen hoch, um mich gegen die Wand am Treppenknick zu pressen. Der Schatten des Fremden eilte ihm voraus, seltsam langgezogen durch das Licht, das von oben kam. Obwohl ich kein Geräusch machte, hielt die Person plötzlich inne, und ich hielt unwillkürlich den Atem an. Mein Herz klopfte heftig, aber der rationale Teil meines Hirns versicherte mir, dass er das unmöglich gehört haben konnte... und mein eigener Schatten lag definitiv außer Sichtweite.

Aber sie hatte mir schon Mehreres gezeigt, was ich eigentlich für unmöglich gehalten hatten. Dennoch zuckte ich überrascht zusammen, als die leise Stimme ertönte: „Hunter?"
Meine Hände ballten sich schmerzhaft zu Fäusten, bevor sie sich entspannten. Ich atmete hörbar aus, nachdem mein Herz einen Schlag ausgesetzt hatte, und trat von der Wand weg. „Sier!"

Da stand sie, eine Hand auf dem hölzernen Treppengeländer rechts von mir, ihre Augen furchtsam geweitet. Ihre rechte Hand hatte sie um ihren Bauch geschlungen, als würde sie ihren Cardigan zu eng wie möglich um sich haben wollen. Ihre Jeans wirkte ebenfalls nicht sonderlich warm, und mein Blick glitt unwillkürlich zu ihrem Hals, wo sich eine Gänsehaut andeutete.
„Du-", fing ich völlig verblüfft an, unterbrach mich dann aber sofort selbst. „Wolltest du dich nicht in Sicherheit bringen?" Meine Aufmerksamkeit wandte sich sofort wieder von der Spanierin ab, zum Flur hinter ihr, obwohl ich sowieso nichts erkennen konnte.

„Ich war in Ahadis Büro." Wieder einmal wurde ich überrascht, dass Sierras Stimme viel weniger angespannt war als meine. Als ich meinen Fokus wieder auf sie richtete, atmete sie tief durch und schien sich tatsächlich etwas zu entspannen. „Ich dachte mir, Ahadi wird nicht dort sein, wenn ihr... was auch immer ihr gemacht habt. Sein Büro sollte hier der sicherste Ort sein." Auf ihren Lippen breitete sich ein sanftes Lächeln aus, und ich spürte, wie meine Schultern wieder etwas fielen. „Kluges Mädchen", murmelte ich in einem ungewollt belegten Ton.

Ohne weiter darüber nachzudenken, dass meine Familie mich gerade brauchte und wir in der Mitte eines Kampfes mit einem jahrelang verfeindeten Clan waren, stieg ich die zwei Stufen hoch, die mich von Sierra trennten. Denn sie gehörte auch zu meiner Familie, und ich brauchte sie. Als ich ihren kleinen Körper an mich zog und tief den fruchtigen Duft ihrer Haare einatmete, klopfte mein Herz endlich wieder in einem stetigen, ruhigen Tempo.

***

Hunter verdient einen Moment der Ruhe im Kampf, meint ihr nicht? Nun, er wird ihn brauchen. Oder auch nicht. Je nach Betrachtungsweise.😉

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