Hunter ~ Reifen

Die Fremde hatte zwei Vorteile, als sie Chad in einen Zweikampf verwickelte: Erstens hatte sie ein Messer, und zweitens war sie frei von Skrupeln.
Ta, mein Cousin schien nicht gewillt, ihr auch nur einen Vorteil zu lassen.

Auch er trug schwarze Handschuhe, allerdings keine im Nano-Tech-Stil, die auch Scar hatte. Nein, T'Chada hatte seine von Shuri bekommen, mit ausfahrbaren Klauen „für den Notfall". Er war recht großzügig, was diese Definition von Notfall anging, und setzte seine tödlichen Waffen jetzt selbstverständlich gegen die Blonde ein.
Mit verschränkten Armen lehnte ich mich gegen die Säule und bereute, den Kampf nicht selbst übernommen zu haben. Nur, weil ich den diplomatischen Weg vorzog, hieß das längst nicht, dass ich nicht fähig war, eine einzelne Frau zu besiegen.

Und da ich von meinem Beobachtungsposten sehr wohl sah, dass die Fremde schon einige Schnitte an Armen und Oberkörper hatte einbüßen müssen, manövrierte ich mich vorsichtig hinter sie. T'Chada, der sich gerade unter einem Messerstich hinwegduckte und der Blonden eine tiefe Wunde am Oberschenkel mitgab, ließ sich durch meine Anwesenheit nicht beeindrucken: Sein nächster Schlag riss ihre Bauchdecke auf, und sie ging zu Boden – noch im Fallen ihr Messer hebend. Das fiel ihr aber auch gleich wieder aus der Hand, als ich sie mit einem einzigen gut gezielten Schlag ins Land der Träume schickte.

„Was sollte das? Ich hatte alles unter Kontrolle", beschwerte Chad sich, die Klauen bereits wieder eingefahren. Doch ich starrte viel zu entsetzt auf die Bewusstlose, um dazu einen Kommentar abzugeben. Ihre abgewetzte Kleidung war getränkt von ihrem eigenen Blut, und obwohl die Schnitte oberflächlich sein mussten, machte es das nicht weniger schlimm. Von ihrem Sturz auf den kalten Steinboden blutete auch ihre Schläfe, und ein kleines Rinnsal zog sich durch ihre schmutzig-blonden Haare, die nun ausgebreitet wie ein Fächer um ihr eckiges Gesicht lagen. 

„Du hättest sie umgebracht!" Ich war fassungslos, doch mein Cousin zuckte abwehrend die Schultern, ein undefinierbares Blitzen in den Augen: „Und sie hätte uns umgebracht. Wo ist der Unterschied?"
„Der Unterschied? Ist das dein Ernst? Sie ist eine Verbrecherin, du bist ein Superheld, oder so ähnlich. Das ist es doch, was uns ausmacht!" Meine Stimme überschlug sich beinahe, als ich mir mit beiden Händen durch die Haare fuhr und mich zwingen musste, nicht unruhig auf und ab zu tigern. Ja, vielleicht war das schwarz-weiß gemalt, aber hier ging es doch ums Prinzip!

Chads Augen funkelten, doch er gab keinen weiteren Kommentar ab und zeigte mir die kalte Schulter, mit den Händen in den Hoodietaschen nach draußen gehend. Ich schüttelte mit zusammengepressten Lippen den Kopf, als er gegen eine Säule trat, und zückte verkrampft mein Starkphone für Polizei und Krankenwagen.
Die Rückfragen und den Bericht reichte ich gleich an Morgan weiter – schließlich hatte ich mich noch um einen bockigen Prinzen zu kümmern. Keine schöne Aufgabe.

„T'Chada!"
Meine eigene Stimme klang etwas befremdlich in meinen Ohren – sie war dunkler als sonst und vibrierte vor unterdrücktem Ärger. Ich blinzelte kurz gegen das Sonnenlicht, das nach der Dämmerung in der Kirche plötzlich viel zu grell schien. Es dauerte einen Moment, bis ich meinen Cousin ausgemacht hatte, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite gegen eine Hauswand gelehnt stand, alle Aufmerksamkeit auf sein Handy gerichtet.
Leise fluchend schob ich mich an einer Familie mit zwei quengelnden Kleinkindern vorbei, wartete kurz, bis der Lieferwagen vorbeigefahren war und näherte mich dann meinem Cousin an. Die Gedanken kreisten unaufhörlich in meinem Kopf, denn es gab keine Worte für das, was er in der Kirche vorgehabt hatte. Aus Ermangelung an Sätzen zog ich meine Augenbrauen zusammen und verschränkte direkt vor ihm stehend die Arme. „Los, wir müssen noch zum Bahnhof."

Er sah nicht einmal auf, als er missbilligend mit der Zunge schnalzte: „Was hast du bitte für einen langen Atem? Ich hab' absolut keinen Bock mehr." Für einen winzigen Moment weiteten sich meine Nasenflügel, dann verdrehte ich die Augen: „Für mich ist das Alltag. Gewöhn' dich besser schnell daran. Und jetzt komm."
Ich duldete keine Widerrede, drehte mich einfach um und ging.

Nach einem kurzen Blick auf mein Starkphone beschloss ich, nach der Hauptstraße noch einen Abstecher über das Bus-Depot zu machen – großer Platz, geräumige Hallen, viele Transportmittel. Könnte gut genutzt werden von jeglichen Banden.
Abschätzend scannte ich die Menschenmenge vor mir auf den Bürgersteigen neben der Jamaica Avenue, dann eilte ich mit gesenktem Kopf über die Straße. Ich hörte es hinter mir Hupen, drehte mich aber nicht um – auch so war mir klar, dass T'Chada mir fluchend nacheilte.

„Du scheinst ja doch nicht ganz so dämlich zu sein", nickte mein Cousin mir zu, als er federnd neben mir landete. Wir waren über den Zaun des Depots geklettert, doch die Heimlichkeit schien umsonst zu sein: Der staubige Asphalt lag weitläufig und still vor uns.
Nur mäßig interessiert zog ich eine Augenbraue in Richtung Chads hoch, der mit den Schultern zuckte: „Wenn wir was finden, womit sie Sachen transportierten, dann hier." „No shit, Sherlock", hatte ich dafür nur übrig und scannte den Platz.

„Okay, sieht ziemlich clean aus... Aber das ist ja laut Morgan auch kein Hotspot. Kontrollieren wir die Gebäude."
Ich joggte voran, bis zum nächsten Zaun, der die Reparaturhallen vom Busplatz trennte. Davor standen lange Reihen von Doppeldeckern, Omni- und Autobussen, alle in relativ neuem Zustand – nicht unser Zuständigkeitsbereich.
Erneut kontrollierte ich meinen Scan, dann nickte ich Chad zu: „Uns interessieren die vier hinteren Hallen, die scheinen seit einiger Zeit keine Wartung gesehen zu haben. Laut Beschreibung Abstellgaragen, wir teilen uns auf. Ab Halle 7 ist alles mit Personal überfüllt, also sei leise."

Nun, um das einmal vorwegzunehmen: Meine Arbeit war schnell erledigt. Rein, Infrarot-Scan, raus.
Mein Cousin jedenfalls schien sich etwas dämlicher anzustellen, denn nach fünf Minuten genervten Wartens kam er mir entgegen – ein Rad vor sich her rollend.
„Was genau", warf ich einen skeptischen Blick auf den ächzenden Prinzen, „ist das?"
„Ein abgenutztes, aber neues Rad von einem abgenutzten, aber alten Bus", schnappte T'Chada zurück, „Die sollen es im Labor untersuchen und meinetwegen Gummi von der Straße abkratzen, um die Proben zu vergleichen, aber ich meine, wir haben gefunden, was wir gesucht haben."

Ich atmete tief durch.
Nur mit Mühe gelang es mir, meine eigene Wut zurückzudrängen, dann kehrte ich meinem Cousin den Rücken zu: „Gut, dann nimm es mit. Nächster Halt: Belmont Pk."
Es knallte dumpf, als Chad das Rad zu Boden fallen ließ. „Ist das dein verdammter Ernst? Warum mache ich das hier eigentlich mit?"
Mein Kiefer krampfte sich zusammen, und durch zusammengebissene Zähne zischte ich: „Weil du die Möglichkeit hast, die Welt ein Stück sicherer zu machen."
„Und warum habe ich diese Möglichkeit, Hoodwink? Warum haben wir sie?" Vermutlich unterbewusst war der Black Lion zwei Schritte auf mich zugegangen, die Hände zu Fäusten geballt.
Ich presste kurz die Lider zusammen, wohl wissend, was jetzt kommen würde.
„Weil unsere Eltern sie uns gegeben haben", schnaubte er prompt, „weil sie und alle Welt von uns erwarten, Gutes zu tun. Nur deshalb haben sie mich hierhergeschickt, und ich habe keinen Bock mehr!"

„Das hatten wir bereits", meinte ich kühl, „bist du jetzt fertig?"
Es kostete mich einige Kontrolle, nur abwartend eine Augenbraue hochzuziehen. Scars spöttische Stimme erklang in meinem Kopf: „Lotusblüte. Du bist eine Lotusblüte, Brüderchen – der ganze Dreck perlt einfach an dir ab."
Danke, Schwesterherz, sehr hilfreich.

Ja, T'Chada war fertig: Er fuhr seine Krallen aus, drehte sich auf den Fersen herum und verschwand über den Zaun.
Wie war das, positiv denken?
Wenigstens war Scarlett nicht dabei gewesen, sie hätte ihn umgebracht.

Mich dennoch nur mühsam beherrschend wählte ich Morgans Nummer: „Wise Girl, kurz Zeit?"
Morgan hatte gar keine Chance, den Anruf abzuwählen, ich hatte mein Hologramm in ihre Wohnung gepflanzt. Innerhalb von Gramps' Cottage fühlte ich mich sofort wohler, und mein Atem wurde tiefer. Direkt neben dem gemütlichen Kamin stand meine Cousine, in Strickpullover und Jeans – beruhigend normal.
„Das klingt nicht gut", seufzte sie, „also ja."
„Ich stehe mit einem 22,5-Zoll-Reifen in der Pampa, Chad ist abgehauen, der Bahnhof noch nicht kontrolliert."
Ich stieß die Worte hastig aus, aus Angst, einen etwas unschönen Auftritt hinzulegen, wenn ich genauer über ihre Bedeutung nachdachte. Morgan ließ einen erneuten Stoßseufzer los, wirkte aber nicht sonderlich überrascht.
„Alles klar, oder auch nicht... Lass den Reifen an Ort und Stelle liegen und triff dich mit den anderen, selbst wenn was am Bahnhof gewesen sein sollte, ist es dafür jetzt sowieso zu spät. Nate wird demnächst noch einen Kontrollgang vornehmen, ich schick dir den Standpunkt."
Mit meinem müden Hirn dauerte es eine Weile, bis ich begriffen hatte, dass sie den Standpunkt meiner Schwester meinte.
Kurz fuhr ich mir durch die Haare, dann nickte ich knapp und kehrte in die triste Realität zurück.

***

Chad kann man schon echt gernhaben, oder? Nächsten Dienstag verbreitet er noch mehr schlechte Laune, aber freut euch drauf, dass er da ganz schnell auf eine eiskalte Wand stoßen wird.😉

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