Hunter ~ Plan
Sobald ich die Turnhalle betreten hatte, war mich eine seltsame Art der inneren Ruhe überkommen. Eigentlich sollte ich gerade auf dem höchsten Adrenalinlevel sein, war im Begriff, meine Familie vollständig wiederzusehen. Aber das hohe, helle Gebäude wirkte so normal, dass ich mich im ersten Moment fühlte, als würde ich lesen. In eine andere, zwar fremde, aber trotzdem seltsam vertraute Welt eintauchen, die aus meinen Erinnerungen und meiner Vorstellungskraft geschmiedet wurde...
Gemeinsam mit Luke war ich als erstes durch die Schiebetür in den Vorraum in die Halle geschlichen, doch noch vor den Umkleiden waren wir zu den Treppen auf die Empore abgebogen. Und ich war erst in der Realität angekommen, als mein Blick auf Scar gefallen war...
Sie war der Anker, der mich immer wieder zurückziehen würde. Ein einziges Mal hatte ich mich auf einer längerfristigen Mission in einer Illusion verloren, als wir eine Organisation in Argentinien infiltriert hatten, die Menschen mit besonderen Fähigkeiten als Sklaven verkaufte. Nach Monaten der Arbeit im Geheimen hatte ich für einige Tage nicht mehr gewusst, wo die Grenzen zwischen Hunter Stark und Luis Martin, dem hochgewachsenen Schwarzhaarigen, lagen. Als Scar nachgekommen war, als Austauschschülerin zum Alibi-Internat, hatte ich ihr ernsthaft erklärt, dass ich als Junge nicht mit ihr auf einem Zimmer schlafen konnte. Bewusst daran erinnert, dass wir Zwillinge waren, hatte ich mich erst wieder, nachdem sie mir eine gepfeffert hatte.
Jetzt war sie zu weit weg, um mich physisch zu berühren, aber meine Psyche hatte sie sofort in ihrer Gewalt, als ich vorsichtig ans Geländer der Empore trat. Es ging mir gerade bis zur Hüfte und war aus durchsichtigen Kunststoffscheiben, mit einem hölzernen Handlauf – es behinderte meine Sicht auf Scar unten auf der Tribüne nicht im Geringsten.
Sie saß auf der mittleren der drei Stufen, die gegen die holzverkleideten Wände irgendwie plastisch und kühl wirkten. Aber meine Schwester hob diesen Anblick in ihrem buntgestreiften Strickpullover um ein Vielfaches. Da sie ihre dunkelblonden Haare ausnahmsweise in einen Zopf geflochten hatte, sah ich sogar von hier oben ihre grünen Augen, als ich langsam begann, auf der Empore umherzustreifen.
Sobald sie ihren Kopf um Millimeter gedreht und unsere Blicke sich für einen Wimpernschlag getroffen hatten, war es, als hätte sie mich mit einem Eimer Eiswasser aus einem Albtraum geholt. Ich schnappte nach Luft, sog tief den Sauerstoff ein und war plötzlich wieder ganz da.
Ich spürte das glatte, makellose Holz unter meinen Fingern, als ich meine Hand langsam über das Geländer gleiten ließ. Meine Nase fing diesen einzigartigen Turnhallengeruch auf, der irgendwie gleichzeitig neu und abgestanden wirkte, und ich hörte das leise Tappen meiner Halbstiefel auf dem grauen Boden.
Meine Augen fielen zielgerichtet auf Chad, der nur zwei Meter entfernt von Scar stand und mit weißer Kreide die Tafel bekritzelte, auf der eigentlich Trainingstaktiken angezeichnet wurden. Also entweder hatte einer von beiden das Leben des anderen bedroht und sie waren unter Erpressung hier, oder mein Cousin hatte tatsächlich einen verdammt guten Grund, warum er ohne Vorwarnung bei den Geweihten aufgetaucht war...
Letzteres schien der Fall zu sein, denn als ich mir seine Zeichnungen näher ansah, erkannte ich, dass er mir gerade den Plan öffentlich erklärte. Angespannt trat ich einen Schritt vor, umklammerte mit den Fingern den Handlauf vor mir, und meine Schuhspitzen berührten die Kunststoffscheiben. Vor ein Nikolaushaus hatte Chad eine Krone, eine Glühbirne und einen Greifvogel skizziert – und zwar erstaunlich gut, er war schon immer unser bester Grafiker gewesen. Queenie, Wise Girl und Black Sparrow würden also am Haupthaus eine Ablenkung starten, während Jolly Rogers – der Totenkopf in der oberen rechten Ecke, der mit einem Feanorischen Nia versehen war – sich um unsere kleine Cousine kümmern würde.
Löwe, Schneeflocke und Fragezeichen – tja, hintergehen ließ sich schwer zeichnen – malte Chad eilig an die rechte Seite der Tafel, mit einem Pfeil zur Hinterseite des Hauses. Noch während er eilig die Buchstaben schrieb, las ich die wichtigste Information mit: Illusion. Und ein Pfeil zu Jolly Rogers. Davon dann ein Hinweis zum Auto, das Nia hoffentlich in die Arme ihres Vaters bringen würde.
Ich stieß die Luft aus, von der ich gar nicht gemerkt hatte, dass ich sie angehalten hatte, und löste meine verkrampften Finger vom Geländer. Als ich weiterschlenderte, waren meine Bewegungen flüssig und kontrolliert, aber in meinem Inneren war ich angespannt. Der Plan klang plausibel, aber es würde schwierig werden, Jolly Rogers in einen der Geweihten umzuwandeln. Peggy hatte keine Ahnung, wie die Dynamik zwischen den Mafiosi war, und wir konnten nicht garantieren, dass der Doppelgänger niemandem auffallen würde. Der Plan war genauso riskant und ungewiss, wie jede andere Möglichkeit gewesen wäre. Wir würden also das Beste daraus machen.
Luke patrouillierte auf der anderen Seite der Empore, direkt über Chad und Scar, die scheinbar gelangweilt irgendwas auf ihrem Handy tippte. Vermutlich irgendwelche Codes an Morgan unter einer falschen Emailadresse. Mein Cousin dagegen war schon wieder dabei, die Tafel abzuwischen – und als vom Eingangsbereich her Schritte kamen, musste er sich sichtlich zusammenreißen, seine langsamen Bewegungen beizubehalten.
Ich war auf meinem Kontrollgang jetzt an der kurzen Seite der Halle angekommen, so, dass ich links von mir meine Verwandten im Blick hatte und rechts die Tür. Ich war halb verdeckt von einigen dicken, langen Seilen, die eigentlich zum Kraftklettern gedacht waren, jetzt aber in ihrer Halterung bis ganz an den Rand der Halle zurückgezogen waren, um nicht zu stören.
Dennoch hatte ich einen guten Blick auf den Eingang, aus dem jetzt Jonah, Luca und Ashe eilten, die nach einem kurzen Orientierungsblick sofort die Halle durchquerten. Ihre hastigen Schritte hallten in dem großen Raum wider, in dem wir anderen vier plötzlich auch wie erstarrt waren. Die drei unterschiedlichen Trittgeräusche setzten sich zusammen zu einer Kakophonie an dumpfen Tönen, die in der leeren Turnhalle viel lauter wirkten als überall sonst, fast, als wäre eine Herde an Beutetieren auf der Flucht. Aber zumindest Ashes Montur machte deutlich, dass sie hier diejenige war, die den Jägerpart übernahm.
Die Blondine hielt nicht bei meiner Schwester inne wie Jonah und Luca, sondern stieg direkt die Stufen herauf, sodass sie genau unter ihrem Zwilling zum Halten kam. Der hatte seine kräftigen Arme so verschränkt, dass die Finger seiner rechten Hand auf dem Pistolenholster an seinem Gürtel ruhten, und er lehnte sich leicht gegen das Geländer – so nah wie möglich an Ashe.
Nur ein paar Sekunden, nachdem auch Jonah sich ruhig neben Scar gesetzt hatte und Luca sich mit festem Stand vor den Stufen platziert hatte, kam der Grund herein, wegen dem sich die drei gerade so beeilt hatten. Zuerst fiel mein Blick auf zwei Wachen, die beide ihre Gesichter verhüllt hatten – einer mit braunem Sweatshirt und einer dunklen Mütze, die er sich tief in die Stirn gezogen hatte, der andere im klassischen schwarzen Hoodie. Sie schienen beide groß und kräftig zu sein und teilten sich sofort auf, nachdem sie den Raum betreten hatten, aber ihre Köpfe blieben gesenkt. Ich vermutete einfache Gorillas in ihnen, die mit purer Muskelkraft auf alles losgehen würden, was verdächtige Geräusche machte.
Die Bodyguards, die hinter ihm blieben, sahen da wesentlich gefährlicher aus. Sie trugen ähnliche Kleidung wie die Geweihten auch, und ihre Gesichter waren unverdeckt. Einer von ihnen hatte so kurz geschorene Haare, dass ihre Farbe nicht erkennbar war, der andere war etwas auffälliger mit dunklem Hautton und schwarzen Locken.
Er selbst... war ein Gesicht, das man nicht vergaß.
Seine langen schwarzen Haare waren zu einem niedrigen Zopf zurückgebunden, und die unglaublich dunklen Augen funkelten über einer prominenten Hakennase. Er hatte ein breites Kreuz, über dem sich eine Jeansjacke spannte, und seine Füße steckten in schwarzen Bikerstiefeln. Um seine kräftigen Beine schlotterte eine Jogginghose, die ihm zusätzlich zum metallenen Ring im linken Ohr ein sehr klischeehaftes Aussehen verlieh.
Obwohl Shurikens Lächeln genauso schmierig war wie seine lackschwarzen Strähnen und er keine sichtbare Waffe trug, lief mir bei seinem Anblick ein Schauer den Rücken hinunter.
Dieser Mann bedeutete Schwierigkeiten.
***
Was meint ihr... läuft hier alles glatt oder gibt es einen Haken? Es steckt hier nichts sonderlich Wichtiges dahinter, schließlich ist das noch nicht der Höhepunkt. Aber mich interessiert, was ihr denkt.😉
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