Hunter ~ Partizipien

Es war wie ein Wirbelsturm.
Die silberne Lanze zog ihre Kreise über den weißen Hintergrund, hinterließ Spuren: Dunkelblaue Verwirbelungen, in einem hypnotisierenden Rhythmus. Enger wurden die Kreise, enger und enger, näherten sich dem Auge des Sturms...

„Hunter!"

Ich zuckte kurz zusammen und hob dann etwas mühsam den Blick von meinem Deutschheft. Unter den wütend zusammengezogenen Augenbrauen meines Lehrers ließ ich die Kulimiene einfahren, die so fleißig sinnlose Kreise gezogene hatte, und lehnte mich mit einem leichten Grinsen zurück.
„Mr. Pratt?"
„Sehe ich für dich aus wie ein Kunstlehrer?"
Provokant wanderte mein Blick über den Vierzigjährigen, dann zuckte ich mit den Schultern. „Nicht im Geringsten."
„Dann wende doch bitte deine Aufmerksamkeit wieder meinem Unterricht zu, der da heißt Deutsch."

Fast unhörbar seufzte ich.
Mr. Pratt war prinzipiell in Ordnung, sein Unterricht war meist locker, aber... es war Freitag, letzte Stunde. Auch wenn Sprachen mir leichtfielen, niemand hielt seine Konzentration jetzt noch beisammen. Und jetzt musste ich mich auch noch anstrengen, denn wenn mein Deutschlehrer am Schuljahresanfang schon einen schlechten Eindruck gewann, zog sich das für gewöhnlich bis zum nächsten Halbjahr. Ich spreche aus Erfahrung.
„Wissen Sie, tatsächlich drehen meine Gedanken sich gerade um Deutsch. Sie sagten vorhin, Sie seien es bedauerlicherweise gewöhnt, von Schülern nicht ernstgenommen zu werden." Hoch lebe das Stark-Gedächtnis. „Dem könnte ich Abhilfe verschaffen."

Schräg vor mir drehte sich eine Blondine leicht um und lächelte mir vorfreudig zu. Sie wussten, dass die letzte Viertelstunde des Unterrichts sinnlos verstreichen würden. Ich grinste nur und wandte meinen Blick wieder den hochgezogenen Augenbrauen Mr. Pratts zu: „Nun, beweisen Sie Ihren Schülern Ihre Fachkompetenz, dann bleibt der Respekt nicht lang fern. Analysieren wir doch einmal Ihren Satz, oder insbesondere dieses ‚gewöhnt', das mich dann doch ein wenig stört. Die Grundform: Sich gewöhnen an, ein einfaches Verb, das den Akkusativ verlangt, nicht wahr?"

Vergesst den Akkusativ gleich wieder, ein klarer Fall von professionell klingender, unnötiger Information. Doch mein Lehrer nickte mit verschränkten Armen.
„Rein von der Satzstruktur bräuchten Sie doch aber ein Partizip, oder? ‚Ich bin gewöhnt' kann es so also nicht geben, weil ‚gewöhnen' einen Vorgang beschreibt. Es könnte etwas wie ‚Ich habe mich daran gewöhnt, von Schülern nicht ernstgenommen zu werden' heißen. Das wäre dann ja die normale Perfektform. In Ihrem Fall braucht es das Partizip II, also ‚Ich bin gewohnt'."

Was sollte ich sagen?
Mein triumphierendes Lächeln gefiel ihm nicht. Jetzt also das Entschärfen meiner kleinen Rede: „Schauen Sie nicht so sauertöpfisch drein, die Hälfte der Idioten in diesem Kurs hat sowieso nicht verstanden, was ich gesagt habe. Die andere Hälfte ist übrigens zur Wohnheimfeier am Sonntagabend eingeladen, Sie auch, Mr. Pratt."
Eine Hälfte der Klasse lachte.
„Also, dann sollten Sie vielleicht die Partizipien noch einmal erklären."

Für den Rest der Stunde entwarf Mr. Pratt ein Tafelbild, wir entspannten uns und fotografierten es nach dem Klingelzeichen ab. Gut gerettet, würde ich sagen.
Die Blondine, Amy Summers, baute wieder Blickkontakt auf, und mit einem Zwinkern fuhr ich mir durch die dunkelblonden Haare. Sie mochte einen Freund haben, aber ich hatte hier einen Ruf zu verlieren.
Ich hatte nie viel tun müssen, um als attraktiv zu gelten: Die grünen Augen, von meinem Dad geerbt, waren ein unschlagbares Argument, und wenn man regelmäßig mit Captain America trainierte, kamen die Muskeln ganz von selbst.
Ahm... streicht das ‚ganz von selbst', Cap war als Trainer unerbittlich.

Grob stopfte ich Kuli und Heft in meinen Rucksack, warf ihn mir über die linke Schulter und sah dann Amy entgegen, die selbstverständlich noch das Gespräch mit mir suchte. Kurz wog ich die Risiken ab – ich könnte mich auch einfach verabschieden, um meine Schwester nicht warten zu lassen – entschied mich dann aber doch für die angenehmere Beschäftigung. Die Laune meines Zwillings war heute sowieso im Keller.

„Nicht schlecht, Stark", meinte Amy und strich sich beiläufig eine Strähne hinters Ohr.
„Stets zu Diensten, Walker." Eine freundliche Erinnerung, dass ich nicht viel von ihrer Beziehung hielt: Ihr Freund, Luca Walker, war nicht die hellste Birne am Leuchter.
Prompt verdrehte Amy auch die Augen: „Ich hab' nicht vor, ihn zu heiraten."
„Dann brauchst du ihn ja Sonntag auch nicht mitzubringen", zuckte ich die Schultern. „Das hätte er eh nicht gerafft."
Amy zog eine Augenbraue hoch: „Er hat andere Qualitäten."

Bah. Manchmal verfluchte ich das Stark-Gedächtnis, das mit einer hohen Imaginationsfähigkeit einherging.
„Bin ich froh, dass ich die Perfektion in Person bin", grinste ich ein wenig ironisch, „Intelligent und gutaussehend."
„Und so bescheiden", kicherte Amy, dann warf sie mir einen prüfenden Blick zu. „Wenn du bei dir daheim feierst, lass ich ihn weg."
Darüber lachte ich nur, wandte mich zum Gehen und rief über meine Schulter: „Träum weiter."
„Nur zu gern!", sollte wohl die freche Antwort sein, aber auch Amy war – Überraschung! – nicht die Klügste. Dennoch behielt ich mit einem „Solang ich in diesen Träumen vorkomme" das letzte Wort, doch kaum war ich aus der Tür heraus, verdrehte ich die Augen.
Die Feiern, die bei mir daheim stiegen, waren berüchtigt. Aber es kamen nur selten Leute in meinem Alter: Mit Tony Stark als Veranstalter war die Gästeliste streng überwacht.

Ich liebte Gramps, keine Frage. Es gab wohl kaum einen cooleren Großvater: Statt Spaziergängen im Kinderwagen hatten meine Schwester und ich Rundflüge mit dem Ironman-Anzug bekommen – später dann, als Dad es herausgefunden hatte, im Quinjet. Fliegen beruhigte.
Aber mein Familienname sorgte eben auch dafür, dass es nicht immer einfach war, wahre Freunde aus dem Strom an Bewunderern herauszufiltern. Abgesehen davon war ich mit diesem Namen sehr zufrieden: Die Alternative wäre „Lokison" gewesen – eigentlich noch ganz okay –, oder eben „Lokisdottir" bei Scarlett – ganz und gar nicht okay. Dad seinerseits hatte bei der Hochzeit Moms Namen auch nicht angenommen, aber bei ihm war die Nachnamen-Sache ja sowieso ein wenig anders.
Meine Familie war groß, chaotisch und sehr speziell.
Ich liebte sie.

***

So... Wir starten das erste Kapitel mit der Vorstellung von Hunter, einem der beiden Hauptcharaktere. Was haltet ihr von ihm?

Noch ist nichts Aufregendes passiert, und das wird auch eine Weile so bleiben. Prinzipiell stellt die erste Handvoll an Kapiteln nur derartige Charaktervorstellungen dar, und deshalb hätte ich den Vorschlag, anfangs noch zweimal pro Wochen hochzuladen. Das würde nur die ersten sieben Kapitel treffen, aber besser als nichts, oder?😉

Also, wenn ihr Interesse daran habt, dass anfangs Dienstag noch ein Kapitel kommt, meldet euch!

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top