Hunter ~ Decknamen
Die Tür vor mir war höchstinteressant. Das alte Holz wies zahlreiche Spalten und Risse auf, aber sie wirkte dennoch massiv. Beinahe schwarze Maserungen zogen sich durch das dunkle, graubraune Holz, und das Schloss an der linken Seite war von Rost überzogen. Vermutlich war die Tür daher nur angelehnt, wie schon bei meinem ersten Besuch hier.
Meine rechte Hand hatte ich zu einer angespannten Faust verkrampft, und die eckigen Kanten des kleinen Päckchens in ihrem Inneren pressten sich in meine Haut. Die Packung Patronen war genau das, weshalb ich jetzt hier war – ich sollte sie zurückbringen, hatte sie gestern schließlich nicht gebraucht.
„Zurück" hieß in dem Fall allerdings „zur Isobuta"...
Über mich selbst die Augen verdrehend gab ich mir einen Ruck und trat schnellen Schrittes in den Raum des Horrors, ohne noch länger zu zögern.
Drinnen... Erwartete mich ein unerwarteter Anblick.
Das langgezogene Zimmer war noch immer vollgestellt bis auf den Gang in der Mitte, aber an dessen Ende, auf dem schwarzen Ledersessel, stand die Isobuta. Ihre dürren Arme waren ausgebreitet, sodass der schwere weiße Mantel weit flatterte. Unter ihr befand sich Sierra mit dem Rücken zu mir, die über ihrem bordeauxroten Sweatshirt eine gepanzerte schwarze Weste trug – garantiert kugelsicher.
Ich war auf der Stelle erstarrt, als die dunklen Augen beider Frauen sich auf mich gelegt hatten. Die Nasenflügel der Isobuta weiteten sich, dann stieß sie ein heiseres Krähen aus. „Stillstehen habe ich gesagt!"
Sie packte ihre Tochter mit den klauenartigen Händen an den Schultern und drehte sie wieder um, weg von mir. Mit zusammengepresstem Kiefer trat ich näher an die beiden heran, und mein Fokus lag völlig auf Sierra, der die Isobuta nun auch noch eine Lederjacke überstreifte. Diese Kleidungsstücke passten genauso wenig zu ihr wie Daunenjacken zu Scarlett, und mit einem unhörbaren Schnauben erkannte ich, dass Sierra sich absolut unwohl fühlte. Ihr Blick war gesenkt und ihre Haltung verkrampft, ähnlich wie wenn sie das Urteil eines Lehrers nach einem Vortrag abwartete. Aber das hier war die bittere Realität, die mit Schule überhaupt nichts zu tun hatte.
„Raus hier."
Ich hätte beinahe nicht bemerkt, dass diese knappen Worte Cruellas an mich gerichtet waren, und sie hatte von ihrer Tochter auch nicht aufgesehen. Dennoch hob ich meine rechte Hand zur Verteidigung: „Ich bringe nur die Patronen wieder vorbei."
Sie zuckte nicht einmal mit der Wimper, mich völlig ignorierend: „Schätzchen, so siehst du aus wie meine Tochter!" Ich zog meine Augenbrauen hoch und ließ mein Päckchen nachlässig auf den nächsten Tisch zwischen einige Tarnjacken fallen, dann wandte ich meine Aufmerksamkeit wieder den ungleichen Frauen zu. Nein, Sierra könnte niemals so aussehen, als wäre sie mit der Isobuta verwandt – wo bei der Verrückten Boshaftigkeit lauerte, schimmerte in Sierras Augen Güte. Sie war hilfsbereit und wohl überlegt, während ihre Mutter impulsiv und egozentrisch entschied.
Und wo Cruella hässlich war, war Sierra schön.
Mein Augen verengten sich leicht, und ich spürte eine impulsive Wut in mir aufsteigen, die ich normalerweise besser unter Kontrolle hatte. „Ich gehe gleich zu Ashe und soll fragen, ob ich ihr noch was mitbringen soll", verkündete ich so laut, dass sogar die Isobuta mich nicht ignorieren konnte, und mit Genugtuung beobachtete ich, wie sie genervt kurz die Lider senkte. Auf meine Frage ging sie dennoch nicht ein: „Du solltest längst weg sein." Ihre Augenbrauen waren zusammengezogen und ihr Blick lag noch auf Sierra, aber ihre Hände hatte sie langsam an ihre Seiten sinken lassen. Die Frau sah furchtbar grotesk aus, wie sie da auf dem Ledersessel stand, der viel breiter war als sie selbst.
Sierra nutzte die Ablenkung ihrer Mutter und befreite sich eilig aus den Klamotten, die ihr einfach nicht passen wollten. Rasch war sie an meine Seite getreten: „Ich komme mit, ich habe noch... ein paar Sachen für sie."
Jetzt erwachte die Isobuta doch aus ihrer Starre: Ihr Kopf ruckte hoch und ihr Blick lag plötzlich funkensprühend auf uns, während sie entschlossen vom Sessel sprang. Ich wunderte mich noch, dass sie sich auf ihren Highheels nicht die Knöchel brach, dann hatte Sierra mich am Handgelenk gepackt aus der Tür gezogen.
Blind folgte ich ihr, als wir um die nächste Flurecke hetzten, und unser hektischer Atem prallte von den Steinmauern zurück. Sierra zögerte nicht einmal, als sie mich in eine leere Kammer zog, von der nach hinten ein weiterer Gang abzweige. Hier im Halbdunkel konnte ich sie kaum erkennen, doch ihre Augen blitzten – und ihr Atem ging genauso rasch wie meiner
Kurz schwiegen wir noch, schnappten nur beide nach Luft, und mit einem Mal wurde mir bewusst, dass sie immer noch mein Handgelenk umklammert hatte. Die Stelle erschien mir trotz der Kühle des Raums heiß, und meine Brust hob und senkte sich nur noch schneller.
Dann fing ich den erschrocken-gespannten Blick von Sierra auf – und mit einem Mal brachen wir beide in Gelächter aus.
„Das war..." Ich japste nach Luft, konzentrierte mich auf den Sauerstoff anstelle des sinnlosen Satzes, den ich sowieso nicht hätte beenden können. Immer wieder brachte ich einen Schwall an rauem Gelächter heraus, der Sierras klares Lachen merkwürdigerweise perfekt ergänzte.
Durch den Gang, der weiter nach hinten führte, flackerte fahles Licht herein, das das Mädchen vor mir kaum erleuchtete. Trotzdem konnte ich mir lebhaft vorstellen, wie ihre Mundwinkel zuckten und ihre fein geschwungenen Lippen sich kräuselten, als ihr Kichern langsam nachließ. Sierra ließ sich an der Seitenwand herabsinken und zog die Knie an, anscheinend immer noch in positiver Stimmung: „Ich kann nicht glauben, dass ich ihr tatsächlich entkommen bin!" Ihre Stimme bebte noch immer leicht vor Amüsement, obwohl das Thema eigentlich ernst war. „Sie versucht seit Tagen, mir schusssichere Mafiakleidung anzudrehen..."
Ich prustete leise, nicht nur vor Vergnügen wegen der etwas sinnlosen Flucht, sondern auch, um die verklebten Strähnen aus meiner Stirn loszuwerden. „Du kannst vermutlich alles tragen und trotzdem noch zart und anmutig aussehen." Ich warf ihr ein charmantes Grinsen zu, das sie im Dämmerlicht vermutlich nur halb erkennen konnte. Trotzdem sah ich, wie sie sich eine Strähne hinters Ohr strich, und ihr Atem wurde hörbar ruhiger – während mein eigener sich beschleunigte. Derartige Sätze waren typisch für mich, ich verhielt mich hier völlig natürlich – aber Hunter Stark durfte nicht hier sein, vor allem nicht in der Gegenwart einer Freundin.
„Danke", riss Sierras leise Stimme mich aus meinen Gedanken, „Aber ich fühle mich nur in meinen eigenen Klamotten wohl."
Ihre Stimme hatte einen verzweifelten Unterton, und mit aller Gewalt schob ich die Überlegungen zu meiner Tarnung nach hinten. Sie brauchte meine Hilfe, obwohl ich ausnahmsweise nicht wirklich wusste, wie ich sie mit Worten trösten sollte. Also nickte ich einfach verständnisvoll und ging in die Hocke, um mit ihr auf einer Höhe zu sein. Meine Knie knackten leise, und ich verzog kurz das Gesicht. „Ist nicht einfach mit ihr, hm?" Auch ich dämpfte meine Stimme jetzt. „Ich habe sie zwar anfangs mit Cruella de Vil verglichen, aber sie ist jetzt nicht unbedingt ein Disneycharakter..."
Sierra schnaubte und legte ihre Handgelenke auf ihren Knien ab, mich offen ansehend. „Du würdest dich wundern. Die Decknamen von Ahadi und Uru sind nach Disneycharakteren benannt, nach den Großeltern von Simba aus König der Löwen."
Überrascht fuhr mein Kopf in die Höhe. „Bitte was?! Ernsthaft?"
„Warum auch nicht?" Sierra zuckte ihre Schultern. „Im Geweihten Land sind die Löwen die unangefochtenen Herrscher und mischen sich überall ein, um das Gleichgewicht zu wahren. Das ist so ungefähr das, was Ahadi und Uru überzeugt sind, zu tun." Sie legte ihren Kopf leicht schief und musterte mich, und es überlief mich heiß, als mir klar wurde, was für einen dämlichen Anblick ich abgeben musste. Entschieden klappte ich meinen Mund wieder zu und schüttelte leicht den Kopf, um den Schock zu vertreiben.
„Deswegen wird Taka auch Taka genannt", fügte Sierra noch an, „Weil er Urus geliebter Sohn ist, der später zu Scar wird. Der böse, schwarze Löwe..."
Ihre Gedanken schweiften hörbar ab, und ich streckte meine Beine wieder durch – die Position war doch recht unbequem gewesen. So weit über Sierra stehend nickte ich ihr noch einmal zu, den wegführenden Gang ansteuernd. „Böse sind alle Menschen. Der Unterschied zu den Geweihten ist nur, dass sie hier jeden akzeptieren, egal, wie böse er ist. Und Akzeptanz ist etwas... Gutes."
Diese Worte waren nicht sonderlich lahm, aber eben auch nicht sonderlich überzeugend – ich wusste selbst nicht, was ich davon denken sollte.
Sierra jedenfalls nickte langsam, aber mir war klar, dass sie mir diese Sätze nicht abkaufte.
***
Jetzt hat sich also auch die Frage nach der Herkunft von Ahadis und Urus Namen geklärt... Aber keine Sorge, die anderen Decknamen sind nicht von Disneyfilmen geliehen, sondern selbsterfunden.😉
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