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Noch immer sauer wirft Ann sich in dem fremden Bett hin und her. Sie kann beim besten Willen keinen Schlaf finden, obwohl die Matratze wie für sie gemacht zu sein scheint.
Immer und immer wieder sieht sie Martens Grinsen, als er, ungewollt, treffsicher ihr Leben beschrieben hat. Sie hat das Geld nicht von ihrem Vater, immerhin hat sie auch ihren Stolz. Nein, ins Schwarze getroffen hat Marten bei anderen Punkten. Dinge, über die sie nicht nachdenken kann und will. Gönnt sie sich auch nur einen Moment der Schwäche, wird sie so leicht nicht mehr aus dem Tief kommen. Und die einzige, die sie bisher sicher daraus holen konnte, ist noch in Berlin.

"Ann, es ist mitten in der Nacht", geht Jess grummelnd an ihr Handy.

"Es ist vier Uhr, also praktisch Morgen", erwidert Ann.

"Ich hasse dich!"

"Nein, Jess, du liebst mich und deshalb darf ich dich anrufen, wann immer ich dich brauche." Seufzend stimmt Jess ihrer besten Freundin zu, nicht ohne zu betonen, dass sie erst vor zwei Stunden ins Bett gegangen sei.
Ann erzählt von den Geschehnisse am Vortag, verschweigt dabei jedoch, wie Marten sie eingeschätzt hat. Es trifft sie tief, dass sie scheinbar ein offenes Buch für andere Menschen ist.

"Er will jeden Monat dreihundert Euro zahlen, nur damit unser Laden sein Eingang ist?" Jess scheint skeptisch zu sein. Was gut ist, denn Ann hätte gestern fast augenblicklich zugestimmt. "Und du kannst so lange schon mal bei ihm im Laden arbeiten? Hmm..."

Geduldig wartet Ann, bis ihre Freundin sich für eine Meinung entschieden hat.
"Ich finde, dass geht alles zu einfach. Der erste Laden ist schon ein Traum, die Wohnung erst recht. Und nun macht dir ein tätowierter Hüne ein solches Angebot? Wo ist der Haken?"

"Habe ich mich auch gefragt", gibt Ann zu. "Und ich wollte erst mit dir und Tante Judy sprechen, bevor ich eine Entscheidung treffe. Ich meine, du wirst damit auch leben müssen, es sei denn, du lässt mich hängen."

"Niemals."

"Ich weiß, Jess. Nur, was soll ich machen? Sein Anmeldetresen ist riesig, er würde uns viel Platz weg nehmen. Außerdem wollte ich ein lila oder pinkes Studio, in seinem dominieren schwarz und grau. Die Frage ist, ob wir die potentiellen Kunden ansprechen, die wir ansprechen wollten."

"Die Transen?", gluckst Jess am anderen Ende der Leitung. "Vielleicht kommen diese farbenfrohen Zeitgenossen nicht zu uns, aber vielleicht andere. Grau und Lila lassen sich super kombinieren. Geh in die Verhandlung mit diesem Marten. Lass dir nicht seinen Stil aufbrummen, sondern zeig ihm deine Vorstellungen. Wenn er sich darauf einlässt, okay, wenn nicht, dann nicht."

Jess hat Recht. Warum sollte Marten nur seinen Willen durchsetzen? Sicher wird es ihm ganz gut tun, nicht gleich alles zu bekommen. Allerdings macht er auf Ann nicht den Eindruck, als würde er je mit sich verhandeln lassen. Es könnte also durchaus interessant werden. Vorausgesetzt er will nach ihrem gestrigen Abgang überhaupt noch mit ihr reden.

"Was liegt dir sonst noch auf dem Herzen?", fragt Jess, als es bei Ann klingelt. "Wer klingelt um vier Uhr Morgens bei dir?"

"Ich hab kein Ahnung. Bleib bloß in der Leitung und ruf die Polizei wenn nötig", flüstert Ann und schleicht zur Wohnungstür.

"Warum flüstern wir?", will Jess ebenso leise wissen.

"Keine Ahnung, vielleicht, damit keiner merkt, dass ich zu Hause bin." Ann muss sich ein wenig strecken, um durch den Spion gucken zu können. "Es ist Marten."

"Wieso?"

"Jess, keine Ahnung wieso! Ich hab die Tür noch nicht geöffnet", zischt Ann. "Soll ich die Tür öffnen?"

"Klar, aber bleib am Telefon."

Ann lässt die Sicherheitskette an der Tür, öffnet diese dann so weit es die Kette zulässt.

"Hey Girly", grüßt Marten sie grinsend und viel zu laut für diese Uhrzeit. "Lass mich rein, ich muss pissen."

"Lass ihn rein", ertönt Jess Stimme viel zu laut an ihrem Ohr. "Du könntest heißen besoffenen Sex haben und ihm dann deine Bedingungen unterjubeln. Zwei Fliegen mit einer Klappe. Ruf mich nachmittags an. Luv u!"

Als Ann das nun stumme Telefon sinken lässt, löst sie zeitgleich die Kette und öffnet schließlich die Tür.

"Findest du es nicht ein bisschen dreist, hier zu dieser Uhrzeit einfach aufzutauchen? Nur um mein Klo benutzen zu können?"

Marten tritt an ihr vorbei, drückt ihr einen Kuss auf die Wange und geht ins Bad. Als wüsste er genau, welchen Weg er einschlagen muss. Als wäre ihm die Wohnung nicht fremd.
Moment, denkt Ann, wie zum Teufel ist er ins Haus gekommen?

"Wie zum Teufel bist du ins Haus gekommen?", will sie, an die Wand neben der Toilettentür gelehnt, wissen. Die Spülung geht, danach hört sie, wie Marten sich die Hände wäscht. Zumindest ist er nicht eklig, denkt sie.

"Ich habe einen Schlüssel", sagt er schulterzuckend, als er aus dem Badezimmer tritt. Dicht vor ihr bleibt er stehen, stützt sich mit einer Hand über ihrem Kopf ab. "Hi." Marten verzieht seinen Mund zu einem Grinsen. Seine Augen beginnen dabei zu leuchten. Seine Fahne nach Alkohol ist fast unerträglich.

"Hallo", erwidert Ann, entfernt sich aber von ihrem Gast und geht ins Wohnzimmer. Es gefällt ihr nicht, dass ihr potenzieller neuer Geschäftspartner betrunken bei ihr auftaucht. Noch weniger gefällt ihr, dass er sich offensichtlich in dieser Wohnung auskennt. "Warum bist du hier, Marten?"
Die Frage ist durchaus berechtigt, doch will Marten sie nicht beantworten. Er könnte sie auch gar nicht beantworten, selbst wenn er wollte.

Er war, nachdem Ann verschwunden war, noch lange im Studio, hat mit Adam ein Bier nach dem anderen getrunken, bis der Kühlschrank leer war. Dann hat er sich, zu Fuß natürlich, denn Adam hat ihm den Schlüssel abgenommen und in den Safe geschlossen, auf den Weg nach Hause gemacht. Eigentlich kein weiter Weg, doch Marten ging weiter. An seinem Haus vorbei, direkt in die Gegend, die er so sehr hasst. Er hat alle Schlüssel noch an dem Schlüsselbund, war überrascht, als CJ ihm sagte, sie würde die Wohnung nun vermieten. Sie wollte die Schlüssel, doch er hat sie noch behalten. Er wollte nie wieder einen Fuß in diese Wohnung setzen.
Und doch steht er jetzt hier, mitten in einem Wohnzimmer, was ihm nur noch vom Grundriss bekannt ist. Alle Möbel wurden ausgetauscht, nichts sieht mehr so aus wie vor fünf Jahren. Besser so, denkt Marten und lässt sich auf das Sofa fallen.
Mit genervtem Blick beobachtet Ann ihn, man sieht ihr an, dass sie tausend Fragen hat.

"Marten, ernsthaft, was willst du hier?" Sie gibt nicht auf. "Es ist mitten in der Nacht, ich muss morgen viel erledigen. Also sag einfach, was du hier machst und dann verschwinde wieder."

"Vielleicht will ich mich für mein Verhalten vorhin entschuldigen", sagt Marten, noch immer mit diesem Grinsen im Gesicht. "Vielleicht will ich dich aber noch mehr provozieren, damit du richtig ausflippst und mir zeigst, wer du wirklich bist. Vielleicht wollte ich sehen, was aus der Wohnung geworden ist. Vielleicht will ich sehen, ob man bei dir eine schnelle Nummer bekommt." Ungeniert greift Marten sich durch die Jogger an seinen Penis. Ann kann kaum glauben, was er da gerade von sich gegeben hat.

"Raus", sagt sie und deutet auf die Tür. Doch Marten bewegt sich nicht, er lässt den Kopf in den Nacken fallen und lacht aus tiefster Seele. Es war nur Show, schießt es Ann durch den Kopf. Er wollte sie aus der Reserve locken.

"Girly, ich fick doch keine kleinen Mädchen", lacht er noch immer. "Und eine schnelle Nummer bekomme ich aufm Kiez einfacher. Mach dir keinen Kopf. Ich war wirklich nur auf dem Weg nach Hause und musste dringend pissen."

"Okay, das ist mir echt zu doof. Ich geh wieder schlafen", erklärt Ann, geht in ihr Schlafzimmer und knallt die Tür zu. Sie hört Marten noch etwas rufen, ignoriert ihn aber. Eigentlich müsste sie ihn rausschmeißen. Doch bei seinem Körperbau wird sie wohl nichts ausrichten können. Sport ist für sie ein notwendiges Übel, nichts, was sie aus Leidenschaft ausübt.

An Schlaf ist jetzt jedenfalls überhaupt nicht mehr zu denken, weshalb Ann sich etwas anderes anzieht - unfassbar, dass sie nur im Top und einem Brazilian-Slip im V-Shape Stil die Tür geöffnet hat. Sie greift sich eine kurze schwarze Jeans, die auch nur minimal mehr bedeckt als ihre Unterwäsche, und eine rosa, leicht durchsichtige Longbluse. Sie will und muss heute im Studio etwas schaffen, damit die Handwerker, sofern sie welche findet, loslegen können und nicht erst groß aufräumen. Zuerst muss Ann sich allerdings einen Supermarkt suchen, damit sie sich mit Besen, Kehrschaufel und Müllsäcken ausstatten kann.

Fertig angezogen geht sie ins Bad, putzt sich die Zähne und kümmert sich dann um ihr leichtes Makeup und ihre Haare. Bevor sie sich schminkt, dreht sie ihre lange Mähne locker auf große Wickler, feuchtet sie mit einer Sprühflasche ein wenig mit Wasser an. Auf viel Makeup verzichtet Ann heute, denn sie will im Laden arbeiten, also muss Mascara und eine getönte Tagespflege reichen. Ihre leicht angefeuchteten Haar föhnt sie schnell, ehe sie die Wickler wieder herauszieht. Sie liebt die Beachwaves, die dabei immer entstehen.

"Ich dachte, wir duschen wenigstens zusammen", ertönt Martens Stimme, als Ann das Bad verlässt und in die Küche geht.

"Sei doch still und geh in deine Wohnung", erwidert sie leise.

"Du bist süß, wenn du zickig bist." Ann zuckt zusammen, als Marten direkt hinter sie tritt und ihr ins Ohr flüstert.

"Zu blöd, dass du nicht süß bist. Und rutsch mir nicht immer so auf die Pelle, das wird langsam peinlich, wenn ich dich immer wieder stehen lasse." Ann blickt sich suchend um, doch in dieser Küche gibt es wahrhaftig keine Kaffeemaschine. "Was zum Teufel!?", flucht sie, als sie auch in den letzten Schrank geschaut hat.

"Die Eigentümerin hält nicht viel von Kaffee", erklärt Marten. Ann verharrt. Eigentümerin? CJ sagt etwas von einem Mann. "Komm, ich ruf uns ein Taxi und spendier dir einen von Starbucks."

"Ich habe dafür keine Zeit", jammert Ann. "Ich muss endlich im Laden anfangen. Jo hat mich gestern schon genug abgehalten."

"Was ist das zwischen euch eigentlich?", will Marten wissen. "Ich meine, mir ist egal, was er so treibt, aber du solltest wissen, dass er heiraten will und zwei Kinder hat."
Verwirrt schaut Ann ihren Gast an. Was will er denn da andeuten? Dass sie mehr als einen Kumpel in Jo sehen würde? Nie und nimmer. Schon gar nicht mit dieser Alkohol-Plautze.

"Ich mag ihn als Freund. Als ich vor zwei Tagen hier ankam, war er der netteste Mensch, den ich, abgesehen von Jess und Tante Judy, je getroffen habe. Auch wenn er aussieht, als würde er jeden umnieten, der ihn auch nur anschaut, war er doch nett und hilfsbereit." Ann geht mit saurer Miene wieder ins Bad holt ein transparentes Spiralzopfgummi und steckt es in ihre Shopper.

"Hör mal, es tut mir leid, was ich gesagt habe", ergreift Marten wieder das Wort. "Ich ruf uns jetzt ein Taxi, aber bitte, ich brauche dringend einen Kaffee, wenn ich irgendwas heute zustande bringen will. Mir reicht auch ein Kaffee von McDonalds."

"Die haben einen guten Cappuccino", lenkt Ann ein. Für diesen Moment gibt sie klein bei. Das darf ich nachher in den Verhandlungen nicht passieren.

"Scheiße, nein, mein Tresen wird doch nicht lila", empört sich Marten eine Stunde später. Er steht neben dem Loch in Anns Laden, ein Bein stützend gegen die Wand gelehnt, die Arme vor seiner breiten Brust verschränkt.

"Nicht der Tresen, der wird grau, die Deko darauf. Ich möchte die Deko aussuchen, damit mein Studio nicht aussieht, als wäre es aus deiner Großzügigkeit entstanden." Ann fegt zum zweiten Mal den großen Raum aus, doch er will nicht sauberer werden. Vielleicht muss sie doch eine Firma das ganz übernehmen lassen. "Und wir müssen erst die schriftliche Genehmigung des Eigentümers abwarten. Ohne die reiße ich hier nichts raus." Seufzend lässt sie den Besen, den Marten ihr geliehen hat, auf den Boden fallen, nimmt ihre Tasche und geht hinaus in die Sonne.

Die Treppen der beiden Läden sind nicht nebeneinander, im Prinzip liegt der ganze Laden, den Ann gemietet hat, dazwischen.
Ann lehnt sich gegen das rostigen Geländer, zündet sich eine Zigarette an.
"Wir sollten die ganze Aufteilung überdenken", sagt sie, als Marten die drei Stufen hinunter geht, vor ihr stehen bleibt und sie mustert. "Ich habe hinten einen separaten Raum, damit bräuchtest du nur noch eine kleinere Wand einziehen lassen. Außerdem könnt man dieses Stück Mauer", sie deutet auf den Bereich, der neben dem Schaufenster bis zu Martens Eingangstür reicht, "von innen als Empfangsbereich gestalten. Ein geschlossener Bereich, mit einer Art Schwingtür oder so ein Ding, was man nach oben öffnet, wie in Kneipen."

Als Ann wieder zu Marten schaut, stockt ihm fast der Atem. Ihre Augen sprühen vor Ideen und Begeisterung, sie ist in ihrem Element. Warum nur ist sie Nageldesignerin und keine Innenarchitekten? Sie war erst zwei Mal hier, konnte den Laden noch gar nicht so genau anschauen.

"Natürlich müsste auch bei euch drüben das Farbkonzept geändert werden. Nicht, dass ihr ein erkennbares hättet - nicht böse gemeint." Lächelnd winkt Marten ab. Sie haben kein Konzept, das war bei Eröffnung auch gewollt. So muss man sich keine Gedanken um Dekoration und den ganzen Scheiß machen. "Ich will mein Studio weitestgehend in lila-Tönen mit grauen Akzenten schmücken. Vielleicht auf deiner Seite grau mit lila Akzenten."

"Lila ist schwul und mein Laden ist zu einhundert Prozent hetero", grummelt Marten.

"Oh keine Angst, niemand zweifelt deine Männlichkeit oder Potenz an", schmunzelt Ann. "Aber wenn du den Durchbruch der Wand willst, musst du Kompromisse machen. Ansonsten heißt es bye bye Loch."

Sie ist ein spitzohriges Luder, schießt es Marten durch den Kopf. Sie hatte ihn schon, als sie überhaupt das Thema von sich aus angesprochen hat. Er würde allem zustimmen, wenn er nur ein wenig mehr Ladenfläche bekommt. Er kann sich nicht erinnern, dass jemand in den letzten fünf Jahren so leichtes Spiel bei ihm hatte, wie Ann. Sie ist niedlich, wie sie ihre Haare zu so einem unordentlichen Nest hochgebunden hat, damit sie ihr nicht immer ins Gesicht fallen. Schade nur um die wirklich geilen Locken, in die er schon im Taxi greifen wollte.

Es hat Marten einiges an Selbstdisziplin gekostet, es nicht zu tun. Ann ist noch ein ... na ja, Kind nicht mehr, aber sie ist ihm nie und nimmer gewachsen. Weshalb er ein guter Geschäftspartner sein will und muss. Mehr darf mit ihr nicht passieren. Da ist es auch egal, dass er immer wieder ihren Hintern vor Augen sieht, als sie sich in ihre Motorhaube gebeugt hat. Oder dass er ganz genau weiß, was sie unter der viel zu kurzen Jeans trägt.
Nein, absolut nicht hilfreich.

"Alles klar", stimmt er zu. "Ich organisiere die Handwerker und du übernimmst die Bauleitung sozusagen. Die Kosten teilen wir auf."
Ann überrascht es, dass Marten so schnell zustimmt. Ein bisschen mehr diskutieren hätte sie schon lustig gefunden. Doch sie will sich nicht beschweren, drückt ihre Zigarette in dem kleinen Aschenbecher, der auf dem Fensterbrett steht, aus und hält ihrem Geschäftspartner die Hand hin. Einen Moment mustert Marten die Hand skeptisch, schlägt aber schließlich ein.
"Jetzt lass uns in mein Studio gehen und sehen, wo wir vorerst deinen Bereich einrichten."

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