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"Danke für den Tip", grummelt Ann, entfernt sich einige Schritte von Marten. So nah neben ihm zu stehen ist ihr unangenehm. "Wie es aussieht, brauche ich jetzt nicht nur einen Handwerker, sondern auch einen Mechaniker."
Marten mustert sie von oben bis unten. Die Kleine ist heiß, aber nicht viel älter als 20, eben ein Mädchen, wie er sich gestern schon dachte.
Gern würde er ihr anbieten, seinen Mechaniker anzurufen, doch will er wirklich, dass dieses lila Ungetüm weiterhin seinen Parkplatz besetzt?
"Die Krücke bekommst du sicher nicht mehr ans Laufen", prophezeit er, um einen gleichgültigen Ton bemüht.
"Was?" Mit funkelnden Augen dreht Ann sich zu ihm um, lässt die Motorhaube wieder hinunter knallen. "Meine Henriette wird nicht einfach aufgegeben, damit das klar ist. Außerdem hat der Verkäufer am Kutschi gesagt, als ich ihn fragte, ob sie sicher die Fahrt bis nach Hamburg schafft, dass das noch drin ist. Also, ich bin mir sicher, dass es nichts wildes ist."
"Süße, der Typ hat dich verarscht", stellt Marten trocken fest. "Aber was soll man auch von einem Berliner Girly erwarten. Wahrscheinlich bist du in einem ebenso kurzen Rock auf seinen Schrottplatz gegangen, hast mit den Wimpern geklimpert und gedacht, er schenkt dir ein zuverlässiges Auto. Sag mir eins, Süße, hat der Wagen Klima? Wie lange hat er noch TÜV? Wie alt sind die Reifen?"
Ann schaut Marten in die blauen Augen, merkt, wie sie vor Scham und Wut rot anläuft. Sie hatte tatsächlich das gleiche Kleid an, als sie vor drei Wochen das Auto gekauft hat. Aber es musste doch alles so schnell gehen und sie wollte so wenig Geld wie möglich ausgeben. Und vielleicht geht die Klimaanlage von Henriette nicht mehr, was solls? Sie fährt sowieso lieber bei offenen Fenstern.
"Dachte ich es mir." Marten wendet sich ab, geht in das Tattoostudio und kommt wenige Augenblicke später wieder hinaus.
"Jo? Hast du ein Auto?", ruft sie ihrem netten neuen Bekannte zu.
"Er hat getrunken", mischt sich Marten ein und deutet auf die Bierflasche, die immer neben Jo zu stehen scheint. "Steig ein." Er deutet auf die Beifahrertür, aus der eben noch John ausgestiegen ist.
"Sorry, ich kann wirklich nicht mehr fahren", entschuldigt sich Jo, trinkt dabei den nächsten Schluck. Ihr war auch vorher bewusst, dass er nicht mehr fahrtüchtig ist, immerhin hat er in der vergangenen Stunde, die sie beisammen gesessen haben, eine Flasche nach der anderen geleert. Aber vielleicht hätte er ihr sein Auto geliehen. Okay, unwahrscheinlich.
Ann holt ihre Tasche aus dem Auto und geht auf den schwarzen Mercedes zu. In ihr flattert etwas, was sie nicht zuordnen kann. Soll sie wirklich bei diesem Kerl einsteigen, den sie jetzt das zweite Mal getroffen hat? Und will sie, dass er nicht nur weiß, wo sie arbeitet, sondern auch, wo ihre Wohnung ist?
"Wohin?", will Marten wissen, als Ann endlich eingestiegen ist. Da sie keine Ahnung hat, wie die Straße heißt, in der das Hotel liegt, schaltet sie ihr Navi auf dem Handy ein. "Miese Gegend", kommentiert Marten.
"Ich hatte gestern nicht viel Auswahl." Sie fragt sich, wie sie wohl ihre Sachen ohne Auto dort wegbekommen soll. Ob ein Taxi sehr viel berechnet?
"Was wolltest du an einem Sonntag im Laden?"
"Ich muss mit den Arbeiten schnellstmöglich anfangen, wenn ich noch in diesem Jahr eröffnen will", erklärt Ann. "Heute wollte ich mit dem anfangen, wofür ich keinen Handwerker brauche. Außerdem muss ich die Einrichtung noch bestellen und für meine Freundin, die bei mir arbeiten wird, brauche ich auch noch eine Wohnung. Das frisst Zeit und Geld, was ich nicht unendlich zur Verfügung habe." Erst jetzt, da sie es ausspricht, wird Ann bewusst, dass das alles stimmt und das die Situation unter ihrer Kontrolle bleiben muss. Wenn sie es zulässt, sich weiterhin von Jo derart ablenken zu lassen, wird die Zeit knapp.
"Wir haben Juni, du hast noch Zeit, bis das Jahr zu Ende ist", versucht Marten das Positive zu sehen. "Hast du denn irgendwas, womit du jetzt schon arbeiten könntest?"
"Ich habe meine Pinsel und Feilen, doch alles andere wollte ich mir neu kaufen. Lampen, Tische, Stühle ... eigentlich fehlt es an allem. Aber ich kann nichts einkaufen, wenn der Laden nicht fertig ist." Marten hält vor dem Hotel, lässt den Motor laufen, dreht sich Ann zu. Innerhalb der nächsten Sekunden muss er sich entscheiden, was er genau will. Wenn er ihr wirklich das vorschlägt, was ihm gerade durch den Kopf geht, könnte er sie verschrecken, oder sich eine Klette ins Haus holen.
"Wie lange dauert die Lieferung, wenn du dir erstmal nur einen Tisch und was du sonst so brauchst, bestellst?"
"Puh, keine Ahnung, ich schätze eine Woche, wieso?" Ann sucht in Martens Augen nach etwas. Sie kann nicht einmal benennen, was das genau sein soll.
"Was machst du jetzt noch?" Verwirrt von dem Themenwechsel schaut Ann in an. Was soll sie jetzt schon noch groß vorhaben?
"Ähm, keine Ahnung. Ich ruf mir ein Taxi, das mir hoffentlich die 5 Koffer in meine neue Wohnung fährt. Dort werde ich mich übers Handy schlau machen, wie schnell ich WLAN in die Wohnung bekomme und dann muss ich nach einer Firma suchen, die mir den Laden auf Vordermann bringt." Marten lässt den Motor des Autos verstummen, ohne den Blick von Ann abzuwenden. Sie hat irgendetwas an sich, was in ihm den Helfer weckt. Das muss aufhören, sagt er sich. Er ist nicht der nette Typ von neben an. Er ist generell kein guter Typ. Gewalt, Alkohol und Drogen gehören zu seinem Alltag, wenn er nicht gerade mit seinen Jungs abhängt. Falsch, gerade wenn er seine Zeit mit ihnen verbringt, sind das die Attribute, die sein Leben bestimmen. Marten selbst kommt damit gut klar, auch mit sich selbst. Doch er weiß auch, dass die Menschen in seinem Umfeld viele Probleme mit seiner Art haben. Selbst sein eigener Cousin hat vorhin noch ausgesprochen, was alle denken. Dass sie die Schnauze voll von ihm haben. Seine Laune wird und wird nicht besser. Selbst wenn es gute Momente gibt, in denen er auch mal lachen kann, überwiegt doch der negative Teil in ihm. Was ein einzelner Tag doch alles zerstören kann.
"Du brauchst kein Taxi, ich bin schon hier, dann kann ich auch warten", erklärt er. "Wenn du einen eigenen Laptop hast, kannst du im Studio alles organisieren." Ann nimmt dankend an. Ihr Handydisplay ist zwar recht groß, doch ist es angenehmer, auf dem Laptop alle Angebote zu vergleichen. Nickend schnallt sie sich ab und verlässt den Wagen. Zu ihrer Überraschung steigt auch Marten aus, verriegelt das Auto und geht neben ihr in das Hotel.
Schweigend fahren die beiden in den vierten Stock. Ann ist froh, dass sie noch nicht viel Zeit hatte, sich hier einzurichten. Sie ist nicht unordentlich, aber ein gewisses Chaos herrscht dann doch immer. Schnell packt sie die wenigen Habseligkeiten, die sie aus den Koffern holen musste, zusammen und stellt einen Koffer nach dem anderen neben die Zimmertür. Keine fünfzehn Minuten später ist alles gepackt.
"Jetzt muss ich nur noch auschecken", sagt Ann, mehr zu sich selbst, als zu Marten, der nicht wirklich eine Hilfe war. Zwar hat er versucht, einige Sachen für Ann einzupacken, jedoch hat es ihr mehr Arbeit bereitet, ihm zu sagen, wo was hingehört, als das es schneller gegangen wäre. Dennoch ist sie für sein Angebot dankbar.
"Ich bring die Sachen ins Auto." Marten geht mit den ersten beiden Koffern zu seinem Wagen, den er zuvor auf dem Gehweg vor dem Hotel hat stehen lassen. Scheint sein Ding zu sein, denkt Ann.
Das Auschecken dauert länger, als Ann dachte. Der Portier scheint jede Taste seiner Tastatur einzeln suchen zu müssen. Nachdem Ann vier Mal erklärt hat, dass sie sich ganz sicher sei, schon nach einer Nacht das Hotel verlassen zu wollen, kann sie endlich bezahlen und zu Marten nach draußen gehen.
"Entschuldige, aber der Typ kann seinen Job nicht richtig machen", erklärt sie, als sie sich in den Wagen setzt. In der Zeit, die sie an der Anmeldung verschwendet hat, hat Marten ihr gesamtes Gepäck ins Auto gebracht. Wieder stellt Ann das Navi ein.
"Die Gegend passt schon besser zu dir", erklärt Marten grinsend, wenngleich er sich fragt, wie sie sich eine Wohnung in dem Teil von Itzehoe leisten kann. Die Straße ist nicht weit vom Studio entfernt, aber man kann die Menschen von dort und aus den Häusern rund um seinen Laden nicht miteinander vergleichen.
"Es war ein wahrer Glücksgriff", gibt Ann zurück. "Ich habe auch erst gedacht, dass die Miete weit über meinem Budget liegen wird, aber die Wohnung ist günstiger, als man glaubt. Allerdings sollte ich schnell zusehen, dass ich das Studio eröffnen kann, sonst muss ich mir was anderes suchen." Wenn Ann so darüber nachdenkt, war es tatsächlich fast schon zu einfach, diese Wohnung zu finden. Noch dazu möbliert und so günstig. Sie sollte CJ fragen, wer der Eigentümer ist und warum die Wohnung bei diesem Preis überhaupt frei war.
Eine Stunde später sitzt Ann wieder auf der Treppe vor dem Tattoo-Studio, das, wie sie mittlerweile weiß, Marten gehört. Jo und John sind verschwunden. Ann hat sich entschieden, die Sonne zu genießen und hat sich deshalb mit ihrem Laptop nach draußen verzogen, nachdem Marten ihr das WLAN eingerichtet hat.
Nun versucht sie zum gefühlt tausendsten Mal die Menge der Artikel aus dem Warenkorb zu verringern. Doch bei jedem Artikel denkt sie, dass sie ihn brauchen wird, wenn erst ein paar Kundinnen bei ihr sind. Jede Frau hat einen anderen Geschmack und will sich sicher nicht mit Kompromissen zufrieden geben.
"Kommst du voran?" Am späten Nachmittag tritt Marten zu ihr nach draußen. Die Sonne geht langsam unter, versteckt sich schon hinter einem hohen Dach.
"Schleppend", gesteht Ann. "Ich bringe es nicht übers Herz, die Hälfte der Sachen aus dem Warenkorb zu löschen. Ich werde alles brauchen."
Eine Weile sitzen die beiden schweigend nebeneinander, jeder scheint seinen Gedanken nachzuhängen. Ann riskiert immer wieder einen kurzen Blick zu Marten. Seine Augen sind geschlossen, die Arme stützt er auf seinen Oberschenkel ab. Er sieht müde aus, denkt Ann, als würde er nachts nicht zur Ruhe kommen. Zu gern wüsste Ann, was ihn wachhält oder ob sie sich vielleicht irrt. Die Vergangenheit hat schon gezeigt, dass sie Menschen meist falsch einschätzt.
"Ich wollte dich noch was fragen", bricht Marten nach einer Weile das Schweigen. "Vielmehr ein Angebot machen."
"Ich bin ganz Ohr."
"Wir haben schon lange den Wunsch, unser Geschäft zu vergrößern, können die Miete für deinen Laden aber nicht komplett selbst übernehmen, weshalb wir es auch nie bekommen haben. Ich würde gern die Anmeldung in deinen Laden verschieben, damit ich in unserem großen Raum noch zwei Kabinen einbauen lassen kann."
"Deshalb das Loch in der Wand", stellt Ann fest. Marten nickt, wenngleich ihm das klaffende Loch in der Wand ein wenig unangenehm zu sein scheint. Denn es stimmt nicht ganz, dass er deshalb das Loch hinein gemacht hat. An dem Abend war er wütend. So unglaublich wütend, dass er vermutlich wieder im Gefängnis gelandet wäre, wenn er nicht im Studio gewesen wäre.
"Keine Glanzleistung von mir", gibt er gelassen zu. "Jedenfalls würde ich dir, bis dein Studio fertiggestellt ist, die Möglichkeit geben, in meinem Laden bereits anzufangen. Dafür machen wir den Durchbruch, unsere Anmeldung kommt in deinen Bereich und ..."
"Und? Was denn noch?" Ann kann sich ein Lachen nicht verkneifen. Bisher würde Marten mehr davon profitieren als sie selbst.
"Und wir zahlen dir dreißig Prozent der Miete", beendet Marten seine Verhandlung. Ann blickt in den Himmel, versucht mit ihrem schlechten Mathekenntnissen einen Dreisatz hinzubekommen. "Das macht knapp 290 Euro."
"Das wusste ich", grinst Ann, überlegt dann weiter. 290 Euro, nur, damit die Anmeldung in ihrem Laden wäre. "Wie sind eure Öffnungszeiten?" Das ist ein wichtiger Punkt. Sie will sich keine Gedanken machen müssen, dass noch vor ihr Leute in ihrem Laden sind, sich womöglich an ihren Produkten bedienen.
"Meine Jungs arbeiten nur nach Termin. Wir haben keine Laufkundschaft, zwei Mal im Jahr machen wir ein Walk-in. Die sind von langer Hand geplant und die wirst du immer rechtzeitig erfahren."
"Darf ich darüber schlafen?" Am liebsten würde Ann vom Fleck weg zusagen. Doch diese Entscheidung muss sie nicht allein tragen. Jess wird ein Teil des Ladens sein, irgendwann wollen sie als Partnerinnen das Geschäft führen. Außerdem muss Ann Tante Judy mit ins Boot holen. An das Geld waren schließlich Bedingungen geknüpft. Nicht viele und auch keine großartig erwähnenswerten. Dennoch fühlt Ann sich dazu verpflichtet, Tante Judy in eine solch wichtige Entscheidung einzubeziehen.
"Klar", stimmt Marten zu. "Ich hol dich morgen früh ab, dann reden wir." Ann nickt, widmet sich dann wieder ihrem Laptop. Erst als Marten sich eine Zigarette anmacht und Ann diese reicht, beschließt sie, das Geschäft einen Moment ruhen zu lassen.
"Wieso das Loch?", will sie wissen. Sein Antwort vorhin war ihr zu schwammig. Marten zieht die Augenbrauen tief zusammen, offensichtlich spricht Ann ein Thema an, was ihm nicht behagt.
"Angestaute Wut", antwortet er, obwohl Ann nicht mehr damit gerechnet hat.
"Wut über wen?"
"Über ein Mädchen, wie du eines bist, dass zu viele Fragen gestellt hat." Obwohl er lacht, merkt Ann, dass Marten zu kochen beginnt. Ob nun, weil sie sich nach dem Grund des Loches erkundigt hat oder weil eben dieser Grund noch tief in ihm verankert ist, vermag sie nicht zu sagen.
"Was denkst du eigentlich, wie alt ich bin?", lenkt sie vom Thema ab. "Du hast gestern schon Mädchen gesagt, auf eine abfällige Art. Du bist doch selbst erst höchstens Ende 20."
"Danke für die Blumen, aber ich bin im letzten Jahr dreißig geworden", lässt Marten den Themenwechsel zu. "Ich denke, du bist gerade so Volljährig, hast von Daddy ein bisschen Kohle bekommen und darfst nun Ladeninhaberin spielen, bis es dir zu doof wird. Du bist das typische Berliner Girly, dass in Zehlendorf, geschützt vor all dem Bösen aufgewachsen ist. Einzig deine Klapperkiste passt nicht ganz ins Bild. Es sei denn..." Marten mustert Ann von der Seite. Ihre Miene hat sich verfinstert, sie sieht aus, als würde jeden Moment eine Bombe in ihr hochgehen.
"Es sei denn?"
"Es sei denn, du bist eines der besonders verwöhnten Gören, die ihr Gutes Taschengeld gespart haben und irgendwann von zu Hause abzuhauen. Aber warum? Um Daddy zu verärgern? Oder um einem Leben zu entfliehen, was dir mehr genommen als gegeben hat? Denn Geld allein macht dich nicht glücklich. Es macht vieles leichter, aber die tiefsitzenden Probleme kann es nicht wieder wett machen."
Ann kann dem intensiven Blick von Marten nicht standhalten. Eigentlich kann sie sogar keinen Augenblick länger hier sitzen und diesem Hobbypsychologen weiter zuhören. Natürlich hat er nicht recht, doch ganz falsch liegt er auch nicht. Was tun? Flucht nach vorn, offen mit der Vergangenheit umgehen? Oder, wie immer, Schwanz einziehen, die arrogante Zicke raushängen lassen und verschwinden?
"Du hast so was von keine Ahnung", zischt Ann, nachdem sie die Entscheidung getroffen hat. Sie klappt den Laptop zu, macht die Zigarette an der Treppe aus, greift sich ihre Tasche und steht auf. "Ich bin übrigens vierundzwanzig", sagt sie, dreht sich um und verschwindet um die nächste Ecke.
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