23

Wenige Minuten später steigt Ann vor dem Tattoostudio wieder aus dem Auto. Sie dreht sich nicht um, wirft lediglich kraftlos die Tür zu und bleibt stehen, wartet, bis Robert davon gefahren ist.

"Zum Teufel, wo bist du gewesen?" Marten kommt aus dem Studio gestürmt. "Scheiße, Ann, warum bist du aus dem Wagen von diesem Pisser gestiegen?" Doch die Angesprochene kann nicht antworten. Sie ist sich sicher, öffnet sie jetzt den Mund, wird nur ein elendiger Schluchzer heraus kommen. Stattdessen starrt Ann an Marten vorbei. In der Tür tauchen Jess, Jo und Lisa auf.

"Kannst du mich weg bringen?", flüstert Ann gerade laut genug, dass Marten sie hören kann. Ihre Stimme bricht, sie vermag nicht mehr zu sagen, ob das wirklich nur der Regen auf ihren Wangen ist.

"Wohin auch immer du willst", erwidert der, bis eben noch stinksaure, Hüne, legt einen Arm um Anns Taille und führt sie zu seinem Mercedes.
Ann versinkt in ihre Gedanken, kann nicht ausmachen, ob Marten noch mit ihr spricht. Alles in ihr scheint wie auf Autopilot zu sein, nichts ergibt einen Sinn und doch ist alles wahr.

Marten lenkt den Wagen auf die Straße, schaltet die Heizung ein, damit Anns und seine eigene Kleidung schneller trocknet. Immer wieder huscht sein Blick zu ihr. Er hat sich noch nie derart verloren gefühlt. Das Gefühl, ihr nicht helfen zu können, droht ihn zu übermannen. Wo geht sie für gewöhnlich hin, wenn sie nicht mehr weiter weiß? Er selbst landet immer wieder am gleichen Ort. Da sie ohnehin seit mehreren Minuten kein Wort mehr gesagt hat, fragt Marten Ann gar nicht erst, ob sie einverstanden ist.

"Was machen wir hier?" Ann erwacht aus ihrer Starre, als Marten den Wagen vor dem Haus seiner Eltern abschaltet. "Wir können deine Eltern doch nicht einfach stören." Mit all ihrer Kraft versucht Ann empört zu klingen. Doch alles, was sie schafft ist ein Flüstern, ein klägliches noch dazu.

"Ich störe sie nie und ich wusste nicht, wohin ich dich bringen soll", erklärt Marten, steigt aus und geht schnellen Schrittes um den Wagen. Ann hat die Tür noch nicht geöffnet und als Marten es für sie übernimmt, kämpft sie erneut gegen Tränen an.

Wieder legt er ihr den Arm um, stützt sie, denn ihre Schritte sind schwach und unsicher. Zu gern würde Marten alles, was vor noch einmal einer Stunde zwischen ihr und Robert vorgefallen ist, herausquetschen. Aber er ist nicht dumm und er hat Ann schon kennengelernt. Je mehr er nachfragen würde, desto mehr würde sie sich vor ihm verschließen.

"Mama", ruft er ins Haus, kaum das die Tür geöffnet ist. "Mama!"

"Herschafftszeiten, warum schreist du denn so?" Birgit kommt um die Ecke gesaust, bleibt abrupt stehen, als sie Ann erblickt.
Ohne ein Wort zu sagen geht sie auf die Blondine zu, schwingt ihre Arme um sie und hält Ann.

Tränen strömen aus ihren Augen, in wenigen Sekunden ist Birgits Shirt an der rechten Schulter ganz nass. Doch es scheint, als könne Ann nie wieder aufhören zu weinen.
"Sch, sch Liebes", flüstert Birgit ihr zu. "Nichts auf der Welt kann so schlimm sein. Komm, ich mach dir meine berühmte heiße Schokolade." Marten scheint nicht nur für seine Mutter wie vergessen zu sein. Auch Ann wendet den Blick nicht noch einmal ihm zu. Sie lässt sich in die Küche ziehen, während Marten etwas verloren in der Tür stehen bleibt.

"Ich muss Chopper schnell holen", ruft er und verschwindet.

Ann trinkt die Schokolade, genießt die Wärme, die sich immer weiter in ihrem Körper ausbreitet. Birgit drängt sie nicht zum Reden, im Gegenteil, es ist, als würde auch sie die Stille genießen.
Irgendwann sind die beiden auf die Terrasse gegangen. Der Regen ist vorbei, die Wiese zu ihren Füßen glitzert in dem schwachen Sonnenlicht des Abends. Bald wird es dunkel, doch weder Birgit noch Ann wollen wieder rein gehen.

"Dein Sohn ist zu gut für diese Welt", bricht Ann schließlich den Stille. "Ich weiß gar nicht, wie ich ihm und auch dir für diese Flucht heute danken soll."

"Gar nicht, Liebes. Wir helfen, wo wir können. Mein Marty sieht vielleicht nicht mehr danach aus, aber früher war er everybodys Darling." Birgit schmunzelt und zündet sich eine Zigarette an. Die Schachtel schiebt sie zu Ann herüber, die dankend die Einladung annimmt. "Ich glaube allerdings, dass du recht hast. Marty ist zu gut für die Welt. Deshalb gerät er auch immer wieder in diese Situationen. Ich weiß nicht mehr, wie oft die Polizei schon bei uns auf der Matte stand. Er ist kein Unschuldslamm, Gott bewahre. Aber wenn man ihm richtig zuhört, dann hört man, dass seine Absichten meist die besten waren. Auf eine recht dümmlich Weise. Aber was solls."

Birgit zuckt mit den Schultern, starrt in den Himmel. Der Mond ist bereits zu sehen und vereinzelte Sterne lassen sich auch ausmachen. Wenn jetzt eine Sternschnuppe käme, Birgit wüsste nicht, was sie sich wünschen sollte.

"Er ist ein Guter", ergreift Ann wieder das Wort. "Und ich wünschte ... ich wünschte, er würde eine Frau finden, die ihn verdient." Das sie selbst gern diese Frau wäre, verschweigt Ann. Und nach den neusten Umständen sollte sie sich so weit von Marten entfernen, wie es nur geht. Robert war da nur allzu deutlich.

Natürlich bereut sie ihre impulsive Handlung. Wie konnte sie nur so dumm sein und sich auf ein Gespräch mit ihm einlassen? Doch nun ist es zu spät für hätte, wäre und wenn. Sie sitzt in der Klemme. Und es scheint nur einen einzigen Weg zu geben, um niemanden zu gefährden. Sie will die, die sie liebt oder liebt könnte, schützen. Und wenn es bedeutet, dass ihr eigenes Herz in tausend Teile zersplittert.

"Ich glaube, dass er da auf dem besten Weg ist." Birgit schaut nicht zu Ann rüber, ist sich aber sicher, dass das, was zwischen den Zeilen gesagt wurde, bei Ann ankommt. "Jetzt lass uns etwas kochen, Marty und sein Vater werden sicher gleich da sein und ich sag dir, wenn die beiden nicht regelmäßig gefüttert werden, kann es nur schlimm enden."

Ann ist Birgit in der Küche keine große Hilfe, doch sie findet Gefallen daran, der älteren Frau zuzusehen. Stundenlang könnte sie hier stehen, auf Kommando die Soße rühren und einfach nur in Gesellschaft sein. Hatte ihre eigene Mutter jemals gemeinsam mit ihren Töchtern gekocht? Vermutlich nicht.

Während des Essens ist Ann wieder ganz still. Sie lauscht den Geschichten, die Martens Eltern zu dessen Leidwesen kundtun, versucht an den richtigen Stellen zu lachen und nicht zu sehr in ihre eigene Welt zu verschwinden.
Spät am Abend steigt sie dann wieder in den Mercedes.

"Danke", sagt sie, als der Wagen sich in Bewegung setzt. Instinktiv greift Marten nach ihrer Hand, doch die junge Frau zieht sie weg. Sie muss Abstand gewinnen, damit ihre nächsten Entscheidungen nicht zu sehr weh tun. "Könntest du mich nach Hause bringen? Also in meine Wohnung? Ich sollte mich doch mal wieder um meine beste Freundin kümmern. Immerhin ist sie nur wegen mir hier."

"Klar." Marten will nicht mit ihr diskutieren. Sicher geht ihr viel durch den Kopf und wahrscheinlich ist Jess da einfach die richtige Wahl, um alles zu ordnen und verarbeiten zu können.
Also setzt er Ann auf dem Parkplatz vor ihrem Haus ab. Ihre Tasche hat er aus dem Studio mitgebracht.

Während Ann auf das Haus zugeht, bleibt Marten nichts, als ihr nachzusehen. Er hat gleich, als er wieder in sein Elternhaus trat, gespürt, dass sich zwischen ihnen etwas verändert hat. Er kann es nicht benennen, doch es fehlte etwas. Ann hat ihm keine verstohlenen Blicke zugeworfen, sie hat ihn kein einziges Mal berührt. Dabei hatte sich sogar eine Art Händchen halten zwischen ihnen eingeschlichen.

Kopfschüttelnd und innerlich unruhig startet Marten wieder seinen Wagen und fährt los. Nicht nach Hause, schießt es ihm durch den Kopf. Alles dort schreit förmlich nach den letzten Tagen der Zweisamkeit. Vermutlich liegt sogar ihr Schlafshirt noch in seinem Bett.

Marten biegt an der nächsten Kreuzung nach rechts ab, in die entgegengesetzte Richtung zu seiner Wohnung. Heute Nacht kann er dort nicht sein. Zum wiederholten Mal macht er sich klar, dass in seiner Wohnung vermutlich keine Frau auf lange Sicht bleiben wird.

Sein Weg führt Marten zu John. Er hat seinen Cousin eine Weile nicht gesehen, weiß, dass er ihn nicht fragen wird, was zum Teufel heute passiert ist. Natürlich wird John bestens informiert sein, schließlich gab es genug Zeugen. Doch sein Cousin interessiert sich nur selten für die Angelegenheiten anderer. Es sei denn, man spricht es einfach aus. Dann ist John immer für seine Familie da.

Und Marten soll Recht behalten. Er schläft auf der Couch, leiht sich etwas zum Anziehen, was durch die ähnliche Statur kein Problem ist und fährt am nächsten Morgen gemeinsam mit John zum Studio. In der ganzen Zeit sprechen sie nicht mehr als zehn Sätze miteinander.

Das Studio ist bereits geöffnet, was Marten sofort misstrauisch werden lässt.
Jess steht am Fenster, starrt mit leerem Blick hinaus. Als sie Marten erkennt, stürmt sie aus dem Laden, rennt fast auf ihn zu.

"Hat sie sich bei dir gemeldet?", ruft sie ihm bereits auf der Treppe entgegen.

"Wer?"

"Die First Lady, du Genie", zickt Jess ihn an. "Hat Ann dich angerufen? War sie bei dir oder ist es noch?"

"Nein", erwidert Marten mit zusammengezogenen Augenbrauen. "Ich habe sie abends bei ihrer Wohnung abgesetzt und seither nicht mit ihr gesprochen."

"Verdammte Scheiße!" Jess stürmt wieder in den Tattooshop, Marten und John hintendrein. Sie greift nach ihrem Handy, flucht laut auf, als sie es auf den Empfangstresen knallt. "So eine Verfluchte..."

"Was ist eigentlich los?", unterbricht John die mitlerweile zitternde Frau. "Hast du sie denn nicht gesehen gestern?"

Jess schüttelt den Kopf. Sie ist am Vorabend mit Lisa und Jo Essen gegangen, unwissend, dass Ann zu Hause schlafen wollte. Als sie schließlich nach Hause kam, hat Ann schlafend in ihrem Bett gelegen.
"Und heute morgen war sie weg, ihre Kommode stand offen und der Großteil ihrer Klamotten sind weg."

"Könnte sie bei ihm sein?" Marten will sich gar nicht erst vorstellen, dass sie wirklich zu Robert gegangen sein könnte.

"Niemals. Ich befürchte ..."

"Was, Jess?" Auch John ist nun die Sorge um ihrer aller neuen Freundin anzusehen.

"Ich glaube, wir werden sie so schnell nicht wieder sehen."
Mit dieser Antwort will Marten sich nicht zufrieden geben. Er zieht sein eigenes Handy aus der Tasche, will Ann anrufen. Doch als er den Bildschirm entsperrt, sieht er die drei eingegangenen Nachrichten.

Marten, es tut mir so leid.

Sag Jess, dass ich mich bald bei ihr melde und frag sie bitte, ob sie auf meinen Laden aufpassen kann.

Ich wäre so gern die Frau, die dich verdienst. Du warst ... bist der beste Mann, den ich in meinem neuen Leben hätte kennenlernen können. Doch ich bin ganz offensichtlich nicht in der Lage, dir zu geben, was DU verdienst. Eine sorgenfreie Frau, die ihren Traum leben kann. Vielleicht irgendwann. Man sieht sich doch immer zweimal, oder?

Marten geht auf die Couch zu, die ihm am nächsten steht und lässt sich darauf nieder. Ann ist gegangen. Sie wird nicht so bald wieder kommen und er selbst hat keine Ahnung, wo er sie suchen könnte.
Etwas in ihm zerfällt, ein nicht genanntes Gefühl durchströmt ihn.

Plötzlich taucht ein Taschentuch in seinem Blickfeld auf.
Jess steht vor ihm, hat Tränen in den Augen. Erst jetzt wird ihm bewusst, dass er weint.
Der große, starke, vorbestraft Mann sitzt auf einer schwarzen Ledercouch und weint. Wegen einer Frau. Nein, wegen eines Girlys, dass sich klammheimlich davon gemacht hat. Das nicht den Arsch in der Hose hatte, um sich zu verabschieden.

Hätte er sie denn dann gehen lassen? Oder hätte er ihr endlich gesagt, was er für sie fühlt? Nämlich, dass er dabei ist, sich zu verlieben. In Ann, das Berliner Girly, dass sich keine Sekunde von ihm einschüchtern gelassen hat.

"Ich könnte mir vorstellen, wo sie ist", sagt Jess leise und setzt sich neben Marten. "Sie hat immer davon geträumt, mal raus aus Deutschland zu kommen. Sie braucht sicher nur eine kurze Auszeit."

"Scheiß drauf", erwidert John. "Man macht sich nicht einfach vom Acker. Sie weiß, dass wir uns Sorgen machen. Sie ist ein egoistisches Miststück."

Marten springt von der Couch auf, schmettert sein Handy mit voller Wucht gegen die Wand und verlässt das Studio. Für heute will er niemanden mehr sehen und auch nicht sprechen. Für letzteres müsste er sich ohnehin erst einmal ein neues Telefon kaufen.

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