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"Deine Eltern sind wunderbare Menschen", erklärt Ann in der Abenddämmerung. Sie und Marten sind seit Stunden draußen, geben Chopper die Gelegenheit, sich richtig auszupowern.
"Stimmt." An einer Bank bleibt Marten stehen, setzt sich und zündet zwei Zigarette an. "Sie sind die einzigen Menschen auf dieser Welt, denen ich zu 100 Prozent vertraue", fügt er hinzu, als Ann eine der Zigaretten entgegennimmt.
"Was ist mit John?" Ann setzt sich dicht neben Marten, er legt, einem Impuls folgend, seinen Arm um ihre Taille. Einen Augenblick ist es still zwischen den Beiden. Sie beobachten Chopper, wie er immer wieder zum Wasser rennt, zurück zu Marten kommt und die Szenerie wiederholt.
Der Himmel zieht sich zu, die Wolken werden immer dunkler, die Luft kühlt herunter. Doch sie wollen noch nicht nach Hause, wollen noch nicht daran denken, dass morgen ein ganz normaler Arbeitstag sein wird.
"John ist mein Cousin und ich liebe ihn", antwortet Marten seiner Begleiterin schließlich. "Aber er ist durch seine Musik und allem drum herum nicht unbedingt der verlässlichste Mensch. Wenn er zu Hause ist, keine Termine anstehen, kann ich auf ihn zählen." Ann stimmt ihm still zu. Ihr ist schon öfter aufgefallen, wie unregelmäßig die Besuche von John, Jo und Co im Laden sind. Lisa ist zu einer Stammkundin und Freundin geworden und Ann hat ihr viel zu verdanken. Doch ihren Verlobten sieht man nur noch selten.
Eine Weile beobachten Marten und Ann rauchend den spielenden Hund. Als es beginnt zu tröpfeln, machen sie sich schließlich auf den Weg zum Auto zurück. Gemeinsam lassen sie den Abend mit Pizza, Bier und einem Film ausklingen.
"Jedenfalls wohne ich jetzt vorerst bei ihm", berichtet Ann einige Tage später ihrer besten Freundin. "Du hast die Wohnung also für dich."
Jess blickt überrascht von der Hand ihrer Kundin auf. Die Lieferung aller fehlenden Dinge für den zweiten Nagel-Bereich wurden nach und nach geliefert und Ann nutze in den vergangenen Tagen jede freie Minute, um ihrer Freundin einen perfekten Arbeitsplatz bieten zu können.
"Du wohnst bei ihm?", wiederholt sie misstrauisch. Beide versuchen Marten nicht namentlich zu nennen, um irgendwelche Tweeds oder ähnliches zu vermeiden.
"Nur vorübergehend", betont Ann. "Er will mich nur in Sicherheit wissen, bis wir sicher sein können, dass von Robert keine Gefahr ausgeht." Ann kann diese Erklärung noch so oft wiederholen, es klingt auch in ihren eigenen Ohren falsch. Man zieht nicht zu einem Mann aus praktischen Gründen. Zumindest war das immer ihr Standpunkt.
Schweigend arbeiten die Frauen weiter, führen Smalltalk mit ihren Kundinnen und setzten sich danach für eine Zigarette in die frische, aber trockene Herbstluft.
"Meinst du wirklich, Robert wird hier auftauchen? Vielleicht habe ich ihn genug verwirrt."
"Ich bin mir unsicher", gesteht Ann. "Für Estelle war es ein leichtes, mich hier zu finden. Wieso sollte sie ihrem zukünftigen Schwager verheimlichen, wo er mich finden kann? Vielleicht war der Junggesellenabschied in den Club von Martens Freund nicht mal ein Zufall."
Wie auf Kommando fährt im gleichen Moment Martens Mercedes vor. Als er aussteigt, springt Chopper an ihm vorbei, direkt auf Ann zu.
"Hallo mein Süßer Schatz."
"Girly, keine Spitznamen für Chopp", seufzt Marten theatralisch. "Oder hast du mich gemeint?" Er wackelt grinsend mit den Augenbrauen.
"Sorry, Marten, aber ich sehe nur einen süßen Schatz und der hat vier Beine." Ann streichelt weiter den Hund, schaut nicht mehr zu dem Hünen auf.
Überhaupt kommt es Marten so vor, als würde sie ihm seit Sonntag aus dem Weg gehen. Am Montag hat sie auf der Couch geschlafen, wodurch Marten sich schlaflos hin und her wälzte. Dienstag früh ist Ann losgegangen, noch bevor sein Wecker überhaupt angegangen ist. Daraufhin hat es zwischen ihnen ordentlich, in der kleinen Küche des Studios, geknallt. Sie haben sich angebrüllt, einem Impuls folgend schmiss Ann sogar eine Tasse nach Marten.
Die wenigen Worte sind die ersten, die Ann an ihn richtet. Die vergangenen knapp 24 Stunden hat sie Marten mit Schweigen bestraft. Für ihn völlig unverständlich, immerhin sind sie sich emotional auch näher gekommen. Und Marten hat schon fast zu hoffen begonnen, es würde für ihn doch noch Hoffnung geben.
Hoffnung, für eine Frau der Mann sei neu können, den sie verdient.
Hoffnung, seine Vergangenheit hinter sich lassen zu können.
Hoffnung, dass auch ein Bösewicht zur Abwechslung ein Happy End erfährt.
"Okay." Marten lässt die Freundinnen allein, pfeift nach seinem Hund, der sofort seine neue Freundin vergisst und zu seinem Besitzer rennt. "Guter Hund", flüstert Marten.
Im Studio verweilt Marten kurz, blickt durch das große Schaufenster nach draußen. Wie kann sie ihm seine Sorge nur so übel nehmen, fragt er sich. Ist er es vielleicht falsch angegangen? Hätte er sie nicht überreden sollen bei ihm zu bleiben?
Schwer seufzend wendet Marten sich ab, versucht sich mit Arbeit abzulenken.
"Hey, wir wollen uns gleich eine Pizza bestellen, wollt ihr auch etwas?" Ann steht in der Tür zur kleinen Küche und schaut in die Runde. Am Tisch hat sich das ganze Team des Tattoostudios versammelt, um eine schnelle und kurze Besprechung zu halten. Die Jungs rund um Martens Cousin haben angekündigt, sich ein einheitliches Tattoo stechen zu lassen. Nun ist es an den Artists, ihnen einige Vorlagen zu entwerfen. "Sorry, habe ich euch unterbrochen?" Ann wirkt ehrlich verunsichert auf Marten. Er erlaubt sich, die Frau ihm gegenüber einen Moment zu betrachten. Sie trägt eine schwarze Leggings, rosa Nikes und einen ebenfalls rosa farbenen Longpulli. Ihre langen Haare sind wieder einmal zur Hälfte in einem unordentlichen Dutt zusammen gebunden, der Rest fällt ihr in lockeren Wellen über die Schultern.
Marten kommt nicht umhin, die Mienen seiner Kollegen und Angestellten zu betrachten. Sie alle haben einen ähnlichen Ausdruck im Gesicht - Ehrfurcht. Keiner von ihnen hat bisher versucht bei Ann zu landen. Sie sehen sie als Kollegin. Dennoch gewinnt in Marten die Sorge immer mehr Raum, SIE könnte sich je für einen der anderen interessieren.
Draußen geht die Türglocke, doch keiner kann auch nur den Hauch eines Gespräches zwischen Jess und dem Neuankömmling hören. Es ist merkwürdig, besonders als wenige Augenblicke später erneut die Glocke geht.
"Warte hier", sagt Marten zu Ann, ehe er gefolgt von Adam nach vorne geht. Kurz darauf kommen beide wieder herein, Marten schiebt Ann recht unsanft in die Küche. "Bleib bitte hier. Robert ist draußen und spricht mit Jess. Ich hole dich, sobald er weg ist."
Nun ist es soweit, schießt es Ann durch den Kopf, als Marten, gefolgt vom gesamten Team, die Küche verlässt und die Tür schließt. Sie schließen nie die Küchentür, es ist ein ungeschriebenes Gesetz.
Doch will sie sich wirklich verstecken? Will sie Robert so viel Macht über sich zugestehen?
Stur, wie sie nunmal ist, schüttelt Ann den Kopf und tritt zu den anderen, die vor dem Fenster mit verschränkten Armen stehen.
Marten ist draußen, hat sich neben Jess gestellt, die wild gestikulierend mit Robert spricht.
In diesem Augenblick läuft es Ann eiskalt den Rücken hinunter. Martens Anblick wirkt so einschüchternd auf sie, würde sie ihn nicht kennen, sie würde schreiend weg laufen.
Plötzlich macht Robert einen Schritt auf Jess zu, packt sie am Arm. Marten kommt Anns Freundin sofort zu Hilfe. Doch reflexartig stürmt Ann aus dem Laden.
"Rühr sie nicht an", ruft sie, als sie auf der oberen Stufe der Minitreppe stehen bleibt.
"Sieh mal einer an." Grinsend macht Robert einen Schritt zurück, lässt von Jess ab. "Ich dachte mir schon, dass der Gorilla und deine billige Freundin dich versuchen zu verstecken."
Noch einen Schritt weg von Jess, einen näher an Ann. Anns Hände werden nass vor Angstschweiß, doch sie zwingt sich, nicht zurückzuweichen. "Hallo, Annelie."
"Was hast du hier zu suchen?", fragt Ann vermutlich die dümmste Frage, die sie hätte stellen können. Selbstverständlich ist Robert wegen ihr hier. Muss sie das wirklich noch aus seinem Mund hören?
"Wir sollten ein Stück gehen." Robert hält Ann die Hand hin, als würde er tatsächlich daran glauben, sie könnte diese ergreifen. Neben Ann ertönt ein tiefes Knurren. Mit einem Blick nach unten entdeckt sie Chopper, der mit angelegten Ohren dicht an ihrem Bein steht, ohne sie wirklich zu berühren. Der Hund ist bereit, jeder Zeit seiner Freundin beizustehen.
"Ich habe zu tun", erklärt Ann. Ihre Stimme klingt nicht halb so fest, wie sie es gern hätte.
"Du wirst zehn Minuten erübrigen können." Robert bittet nicht und Marten wird das Gefühl nicht los, dass er dadurch seinen Willen bekommen wird.
"Robert, ich habe keine Zeit. Ich habe Kundinnen, die nicht gern warten."
"Gut, ich warte." Zielsicher geht er auf einen schwarzen Porsche Panamera zu, steigt ein, lässt aber die Tür offen. Natürlich hat er entgegengesetzt der Fahrtrichtung geparkt, halb auf dem Bürgersteig, wie es sonst nur Marten macht, wenn er nicht lang bleibt. Zu gern würde Ann das Ordnungsamt rufen, doch sie weiß, das bringt sie nicht weiter. Robert ist hartnäckig und er wird nicht gehen, ehe Ann mit ihm gesprochen hat.
Sie wirft einen Blick auf ihre rosegoldene Smartwatch. Die nächste Kundin, Lisa höchstpersönlich, kommt erst in einer Stunde. Vielleicht sollte sie es einfach hinter sich bringen.
"Girly, lass uns rein gehen." Ann zuckt leicht zusammen, als Martens tiefe Stimme sie aus ihren Gedanken holt. Er steht dicht vor ihr, schirmt sie vor Roberts Blicken ab. "Soll ich dich weg bringen? Egal wohin?"
Martens Angebot ist verlockend, doch Ann kann sich keinen Ort vorstellen, wo er sie hinbringen könnte. Klar, er hat seine Möglichkeiten und mittlerweile weiß Ann auch ein wenig über seine Vergangenheit. Doch selbst er wird es nicht schaffen, Ann unbemerkt an Robert vorbeizuschleusen.
"Danke, aber das ist nicht nötig", flüstert Ann, schenkt Marten noch einen Blick, ehe sie wieder das Studio betritt. Die Jungs, die gerade noch vor dem Fenster gestanden und alles beobachtet haben, sitzen wieder in der kleinen Küche und gehen die Entwürfe durch.
Als Lisa eine Stunde später das Studio betritt, steht der Porsche unverändert auf dem Gehsteig.
"Das ist mal ein Schlitten", lacht sie. So kann man den runden 200000 Euro teuren Wagen auch bezeichnen. Ann weiß noch genau, wie aufgeregt Robert war, als er den Wagen konfigurieren durfte. Natürlich mussten alle dabei sein. Unangenehm. Zumindest für Ann.
"Entschuldige mich kurz", bittet Ann und verlässt das Studio. Sie musste den Moment nutzen. Marten ist auf Toilette gegangen, die Artists sitzen noch immer in der Küche und Jess kann ihre Kundin nicht einfach allein lassen.
Schnellen Schrittes geht Ann an dem Porsche vorbei, um die nächste Ecke und läuft immer geradeaus. Alles in der Gewissheit, dass der schwarze Porsche ihr folgen wird. Und tatsächlich taucht er nach wenigen Minuten neben ihr auf.
"Steig ein", ruft Robert durch das heruntergelassene Fenster.
"Da drüben ist ein Park. Er ist immer voll und unübersichtlich. Stell dein dämlichen Auto ab und steig aus." Von Robert wird Ann sich nichts mehr sagen lassen. Schon gar nicht, wenn er versucht sie zu verängstigen.
Nichtsdestotrotz staunt Ann nicht schlecht, als Robert ihre Anweisung befolgt. Mit ein wenig Abstand zu einander betreten sie die Parkanlage, die, wie Ann gesagt hat, ziemlich voll ist. Überall sieht man Menschen, ob allein, mit Kindern oder mit Hunden. Auf den Wiesen liegen mehrere Decken, verschiedene Gruppen an Jugendlichen spielen Fußball oder werfen sich ein Frisbee zu. Es könnte alles so idyllisch sein.
"Was willst du hier?", ergreift Ann das Wort. Sie sollten diese Unterhaltung schnellstmöglich hinter sich bringen.
"Ich hole dich nach Hause. Deine Eltern sind krank vor Sorge, Estelle benötigt deine Hilfe für die Hochzeit im Mai und wir sollten unsere Verlobung planen." Robert spricht mit ruhiger Stimme auf Ann ein. Glaubt tatsächlich daran, dass Ann genügend Angst vor ihm hat, um nachzugeben.
Doch sie hat sich in den vergangenen Monaten verändert. Ann ist stärker geworden, selbstsicherer.
"Ich werde nirgendwo hingehen", sagt sie, schaut dabei wieder über die großen Wiesen hinweg.
"Ann, lass es mich so ausdrücken: Du wirst wieder mitkommen, eine gute Tochter, eine bessere Schwester und eine stumme Verlobte sein", zischt Robert, packt Ann am Oberarm und geht mit einem Lächeln auf den Lippen mit ihr weiter. Sein fester Griff schmerzt Ann, doch sie weigert sich, dies Robert zu sagen. "Weigerst du dich, bleibt dir nur eins."
"Und zwar?"
"Du wirst verschwinden. Und diesmal richtig. Du wirst Deutschland verlassen, deinem Gorilla-Freund und deinem lächerlichen Nagelstudio den Rücken kehren. Du wirst dich nie wieder bei deiner Familie melden."
"Spinnst du? Warum sollte ich das machen? Ich habe hier ein Leben, Freunde und eine Zukunft." Wütend bleibt Ann stehen, kann nicht fassen, mit welcher Selbstverständlichkeit Robert die Forderung hervorgebracht hatte.
Als er sich zu ihr herüber beugt, seine Lippen fast ihre Ohrmuschel berühren, bleibt Ann fast das Herz stehen. Seine folgenden Worte lassen ihr das Blut in den Adern gefrieren. Es läuft Ann heiß und kalt den Rücken herunter, jeder Muskel ist angespannt.
Robert zieht einen dicken Umschlag aus der Innentasche seiner Jacke und klopft damit drei Mal in seine linke Handfläche.
Ann muss ihm einige Minuten in die Augen gestartet haben, denn als er weiter spricht, zuckt sie heftig zusammen.
"Wie entscheidest du dich, Annelie?"
Eine einzelne Träne rinnt Ann die Wange herunter, tropft schließlich von ihrem Kinn herunter auf den Boden.
Weit entfernt ist ein Donnern zu hören, wenige Sekunden später beginnt es zu Tröpfeln. Der Himmel weint gemeinsam mit Ann, als sie den weißen Umschlag entgegen nimmt. Der Regen wird heftiger, bis es in Strippen gießt.
"Gutes Mädchen", sagt Robert und führt die still schluchzende, völlig durchnässte Ann zu seinem Porsche.
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