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"Das musst du dir mal vorstellen! Da klafft ein Loch in der Wand!" Ann muss immer wieder an den Typen, dessen Namen sie noch immer nicht weiß, denken, der ihr den Laden am vergangenen Tag aufgeschlossen hat. Aus unerfindlichen Gründen ist sie davon überzeugt, dass er für das Loch verantwortlich ist. "Aber egal, der Laden ist super und ich hatte sofort alles vor Augen. Nur der Platz bereitet mir Sorgen. Wir werden nicht mehr als drei Tische hinstellen können. Das heißt, wir brauchen eigentlich nur eine Stelle ausschreiben. Oder eben keine volle Stelle, dafür zwei, die sich zeitlich abwechseln." Der Gedanke, dass nur sie und Jess in dem Studio arbeiten, kam ihr bisher nicht. Sie haben immer davon gesprochen, dass sie mindestens zwei Stellen ausschreiben, vielleicht die Frauen sogar selbst anlernen wollen. Doch der Platz des Studios lässt es eigentlich nicht zu.
"Und wenn du doch noch weiter suchst? Vielleicht doch in Hamburg, wo du ja eigentlich hin wolltest?" Ann überlegt kurz.
"Nein. Der Laden ist spitze, die Lage ist super und allein in den zwei Stunden, die ich dort war, habe ich mehrere Mädels und Frauen mit Gel oder Acryl - Nägeln gesehen. Ich bin dann noch ein wenig spazieren gegangen. In der Nähe ist kein Studio, aber ein kleines Einkaufszentrum und viele Wohnhäuser." Ann sinnt über den vergangenen Tag. Sie wäre dumm, wenn sie den Laden nicht mieten würde. Sogar mit dem Gedanken, einen Durchbruch aus dem Loch in der Wand zu machen, könnte sie sich anfreunden. Wenn sie doch nur wüsste, mit dem sie genau darüber sprechen muss.
Als sie sich von Jess verabschiedet hat, geht sie in das kleine Badezimmer des noch kleineren Hotelzimmers. So kurzfristig konnte sie nicht wirklich viele Ansprüche stellen. In etwa einer halben Stunde trifft sie sich erneut mit CJ, die ihr auch bei der Wohnungssuche behilflich sein möchte. Angeblich hat sie schon die perfekte Wohnung für Ann. Jess kann vorerst dann bei ihr unterkommen, bis CJ auch für sie eine Wohnung gefunden hat. Freie Ein-Zimmer-Wohnungen sind wohl sehr selten.
Ann greift ihre Tasche und macht sich auf den Weg zu ihrem Auto, das einige Strassen entfernt steht. Die Gegend, in der das Hotel liegt, gefällt Ann ganz und gar nicht, weshalb sie schnellstmöglich wieder von hier weg will.
Dank ihres Navi findet Ann die Adresse, die CJ ihr per Whatsapp geschickt hat, recht schnell. Die Wohnhäuser sind nicht sehr groß, haben oft nur vier Parteien. Sie liegen am Ende einer Sackgasse, drei durch Schranken abgeschlossen Mieterparkplätze bieten augenscheinlich für jeden Haushalt einen Platz.
Da Ann keine Ahnung hat, ob sie einfach auf einen der Parkplätze fahren darf, sucht sie sich einen freien auf der Straße. Während sie auf die ihr genannte Hausnummer zugeht, lässt sie den Blick streifen. Alle Wohnungen haben einen Balkon, die Fassade sieht aus, als wäre sie erst vor Kurzem gestrichen worden. Nur an einer einzigen Wand hat sie ein Grafftiti gesehen. Und das war so gut gemacht, dass sich sicherlich niemand daran stört. Einen Moment verharrt Ann davor, versucht die Signatur zu erkennen. Frost meint sie zu lesen. Es lohnt sich sicher, den mal zu googeln, denkt sie sich, verschiebt es aber auf später, als sie CJ erblickt.
"Wie gefällt dir die Gegend?", will diese sofort wissen.
"Es ist so ruhig", stellt Ann fest. "Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich mir die Gegend leisten kann."
"Ganz bestimmt", versichert CJ und geht voran in einen Hausflur, in die erste Etage. "Im Erdgeschoss befinden sich zwei Wohnungen, ebenso auf dieser. Der Dachboden ist ausgebaut, steht allerdings noch leer. Wenn dir die Wohnung nicht gefällt, kann ich dir das Dachgeschoss gern auch zeigen."
Dachgeschoss?, geht es Ann durch den Kopf. Was denkt CJ, wie viel Ann bereit ist im Monat für Miete auszugeben?
Doch darüber muss sie sich keine Gedanken mehr machen, als sie die Wohnung von innen sieht. Der lange Flur führt geradewegs in ein Badezimmer. Links von Ann sind drei Türen.
"Hier vorne ist die Küche, dann ein kleinerer Raum und neben dem Bad ist das Wohnzimmer mit dem großzügigen Balkon", erklärt CJ und öffnet eine Tür nach der anderen. "Wie du selbst festgestellt hast, ist die Gegend sehr ruhig, dennoch erschwinglich. Hier wohnen eher gut betuchten Menschen, die nicht viel mit Drama am Hut haben. Ich kenne einige Eigentümer der Wohnungen schon länger. Der Inhaber dieser ist ein feiner Kerl, der leider optisch Hier überhaupt nicht rein passt. Er weiß das und fühlt sich in seiner Gegend zum Glück wohl genug, dass er dieses Objekt als reine Investition sieht."
Nickend geht Ann an ihrer Maklerin vorbei, inspiziert die Wohnung bis ins kleinste Detail. Die Küche ist recht groß, an das Fenster kann man ohne weiteres einen Tisch und zwei Stühle stellen. Der schlauchförmige Raum hat zu beiden Seiten Arbeitsplatten, einen sehr neu wirkenden Herd und andere Einbaugeräte. Nur eine Waschmaschine, deren Anschluss neben der Spülmaschine zu erkennen ist, fehlt.
Die hellgrauen Schränke, die viele vermutlich für ein dreckiges weiß halten würden, haben keine Griffe. Ann schätzt, dass alles über Druck funktioniert, traut sich jedoch nicht, es auszuprobieren.
Der dunkel graue, ja fast anthrazit farbene Fliesenboden glitzert mit jedem Schritt unter ihr. Die feinen, schimmernden Glassplitter sind ebenmäßig eingearbeitet.
Ann tritt wieder auf den Flur, lässt die abgezogenen Dielen unbeachtet, betritt stattdessen den nächsten Raum.
Das von CJ als klein bezeichnete Zimmer bietet genug Platz für ein Kingsize Bett und einen Kleiderschrank. Wenn Ann gut abmisst, passt vielleicht noch eine Kommode hinein. Es wäre schön, wenigstens ein paat eigene Möbel hier zu haben. Über die, wie auch im Flur, abgezogenen Dielen würde sie einen flauschigen Teppich auslegen lassen.
Erneut nickend geht sie ins Bad. Es ist klein, aber sehr stilvoll eingerichtet. Die bodengleiche Dusche wird durch zwei Glasscheiben halbwegs verschlossen. Man muss leicht um die Ecke und an dem großen Waschtisch vorbei, um unter die Regenbrause zu kommen. Das ganze Bad ist am Boden mit den gleichen dunkeln Fliesen der Küche versehen worden, die Wände schimmern in einem weiß, wie ihn sonst nur Perlen haben. Die Toilette wurde unter dem Fenster montiert, was Ann aber nicht weiter interessiert. Klo ist schließlich Klo.
Zu guter letzt hat sie sich das Wohnzimmer mit Balkon gelassen. CJ hatte vorhin ein wissendes, fast überlegendes Leuchten in den Augen, als sie von dem Balkon sprach. Als wüsste sie genau, dass sie spätestens dann eine neue Mieterin hat.
Auch hier finden sich die Dielen wieder, die mit jedem Schritt leicht knarren. Im letzten Zimmer wartet eine große Fensterfront, eine schiebbare Balkontür so wie ein komplett eingerichtetes Wohnzimmer. Samt Flatscreen.
"Die Möbel kosten vermutlich extra?", wendet sich die dunkelblonde Frau an ihre Maklerin.
"Nicht doch", versichere CJ. "Nur wenn etwas defekt ist, muss selbst ein neues Gerät oder Möbelstück besorgt werden. Ansonsten gehört alles zum Mietpreis."
Es ist zu schön, um wahr zu sein. Beim besten Willen kann Ann sich nicht vorstellen, dass jemand dieses Schmuckstück zu einem solchen Spottpreis vermietet. Noch dazu mit den ganzen Möbeln.
"Ich nehme sie", erklärt Ann der Maklerin inbrünstig und dreht sich um die eigene Achse. "Ich wäre blöd, wenn ich ein solches Angebot nicht annehmen würde." CJ stimmt nickend zu und holt einen braunen Umschlag aus ihrer großen Shopper. Wortlos reicht sie Ann das Päckchen und entschuldigt sich, um telefonieren zu gehen.
Neugierig öffnet Ann den Umschlag, zieht einen Mietvertrag und eine pinkenen Kuli heraus. Die Farbe würde sich toll für ihr Logo machen, denkt die junge Frau, während sie alles überfliegen und schließlich auf der letzten Seite unterschreibt.
"Dann darf ich dir hiermit deine Schlüssel überreichen", erklärt CJ, als sie wieder in das Wohnzimmer tritt. "Einer für unten, einer für oben, einer für den Keller, sowie einer für den Briefkasten. Die Schranke geht mittels einer Funkfernbedienung auf, es gibt keine festen Plätze, Hauptsache keine Fremden parken ihre Autos dort. Dann verabschiede ich mich."
"Ich komme noch mit runter, ich wollte noch mal zum Laden fahren", sagt Ann und greift nach ihrer Tasche. Sie kommt nicht umhin, sich noch ein letztes Mal - für die nächsten Stunden - die Wohnung anzusehen. Ein Traum, ein wahrer Traum.
Eine Viertelstunde und drei Runden um den Block später hat Ann endlich eine Parklücke vor dem Laden gefunden. Vielmehr steht sie wieder genau gegenüber des Tattoostudios und besetzt vermutlich wieder den angeblichen Parkplatz des Riesen, den sie am Vortag kennenlernen durfte.
Er war anders, als jeder Mann, den sie bisher kennengelernt hat. Seine Augen, strahlend blau, aber irgendwie verhangen. Die vielen Tattoos, die sich bis auf die Kopfhaut zogen. Und dann dieses Lächeln, von dem man nicht klar sagen kann, ob es ehrlich oder ein sicheres Zeichen für eine schizophrene Psychose ist. Und Ann ist sich nicht sicher, ob sie das rausfinden will.
Sie verriegelt ihre Henriette winkt Jo zu, der erneut auf der Treppe sitzt und raucht. Bisher dachte Ann immer, auch Tattoostudios wären Sonntags geschlossen. Es hat sie schon gewundert, dass CJ ihr heute die Wohnung gezeigt hat.
"Rauchst du mit mir eine?", ruft Jo, als sie schon fast den Schlüssel ins Schloss gesteckt hat.
"Später, jetzt muss ich arbeiten", entgegnet sie lächelnd und geht rein.
Das Chaos hat sich seit dem Vortag nicht verändert. Der Boden ist dreckig, die Wände brauchen dringend einen neuen Anstrich. Bis auf eine. Die könnte eine neue Mauer vertragen. Seufzend geht Ann in die hinteren Räume. Hier sind zwei Toiletten, eine kleine Kochnische und ein kleines Zimmer zu finden. Aus diesem wird sie definitiv das Lager machen. Es ist gerade groß genug für ein paar Regale und einen Kühlschrank für die Gele. Wobei nein, schüttelt Ann den Kopf. Die muss sie zentral bei den Tischen lagern.
Im Prinzip fängt Ann bei Null an. Sie hat kein fertiges Studio, keinen Kundenstamm, niemanden, den es wirklich interessiert. Außer den zwei wichtigsten Menschen in ihrem Leben. Jess und Tante Judy. Mehr braucht man auch eigentlich nicht.
"Los, mach eine Pause!" Mit einem schrillen Schrei fährt Ann zusammen, als sie wieder in den Hauptraum kommt.
Jo hat die Folie vom Loch gerissen und lehnt nun auf den kaputten Steinen in ihren Laden hinein.
"Zieh den Kopf lieber da weg, nicht, dass dir das Haus gleich draufknallt."
"Das Loch ist seit einem Jahr in der Wand, warum sollte ausgerechnet jetzt das Haus einstürzen?" Jo amüsiert sich sichtlich über sie. "Lass uns eine rauchen."
"Ich habe noch gar nicht richtig angefangen", versucht Ann zu argumentieren. Doch sie hat die Rechnung ohne Jo gemacht. Nachdem er alle möglichen Hilfsmittel, die man für diese Baustelle benötigt, abgefragt hat und Ann zu jedem einzelnen Punkt mit nein antworten muss, knickt sie ein.
"Wir kennen einen Maler, besser gesagt einen Alleskönner, der dir sicher ein gutes Angebot für die Renovierung macht." Ann sitzt nun schon über eine Stunde mit Jo auf der zweiten von drei Stufen. Obwohl sie weiß, dass sie noch ihre Sachen aus dem Hotel holen und noch auschecken muss, hat sie keinen Eile, hier zu verschwinden. Trotz seines abschreckenden Äußeren, ist Jo bisher der netteste Mensch, den sie in Itzehoe getroffen hat. Neben CJ.
"Ihr?"
"Marten, ich, John, egal, es läuft auf den gleichen Typen hinaus." Jo nippt an seinem Bier, bietet Ann die nächste Zigarette an. Bei den ersten dreien hat sie noch versucht abzulehnen, doch Jo kann sehr bestimmend sein, sodass sie fleißig seine Zigaretten raucht, anstatt ihre eigenen aus der Tasche zu holen.
"Ist die letzte, ich muss noch meine Klamotten aus dem Hotel holen", sagt sie, während sie den Rauch auspustet.
Bevor Jo antworten kann, hält der schwarze Mercedes vom Vortag wieder genau vor ihnen auf dem Bürgersteig.
"Verflucht, stell dich nicht mehr auf meinen Parkplatz!", donnert der Hüne los, als er den Wagen verlässt. Auf der Beifahrerseite steigt ein ebenso großer Kerl mit blonden Kringellocken aus.
"Marten", ruft er dem Fahrer hinterher, doch der Angesprochene hebt nur die Hand mit ausgestrecktem Mittelfinger in die Luft und stapfte ins Studio.
Da hat aber einer miese Laune, denkt Ann, freut sich aber auch ein wenig, nun endlich einen Namen zu dem Gesicht zu haben.
Marten ... Sohn des Mars. Ann hat sich während der Schulzeit stark für Astrologie und Mythologie interessiert, weshalb sie fast jedem Namen eine Bedeutung zuordnen kann.
"Was machen wir bloß mit dem Arsch?", reißt Blondlocke Ann aus den Gedanken. "Seine Laune wird immer ätzender. Ich hab da echt kein Bock mehr drauf." Verstimmt schaut er Jo an.
"Dann mach deinen verschissenen Führerschein, John und lass dich nicht mehr von mir durch die Gegend fahren!" Ann zuckt heftig zusammen, als Marten hinter ihr losbrüllt. Die hat nicht damit gerechnet, dass er nochmal hinaus kommt.
"Okay, das ist mein Stichwort", sagt sie und steht auf. "Danke für die Gesellschaft, Jo, wir sehen uns." Sie halten sich wieder die Fäuste hin, bevor Ann zu ihrem Auto eilt. Alle drei Männer schauen ihr nach, das kann sie regelrecht spüren.
Mit leicht zittrigen Händen, wenn jemand die Stimme erhebt, flüchtet sie immer schnellstmöglich, steigt sie in ihre Henriette.
Doch als sie den Ford Ka starten will, passiert nichts. Es leises Surren ist zu hören, mehr jedoch nicht.
"Bitte nicht", fleht sie, doch alle weiteren Versuche bringen nichts. "Du blöde Kuh, du elendige Pissnelke! Vorhin bist du doch einwandfrei gelaufen!"
Den Tränen nah zieht sie den Riegel der Motorhaube und steigt wieder aus.
"Was ist das Problem?", ruft John von der anderen Straßenseite.
"Keine Ahnung, seh ich aus wie ne Mechanikerin? Der Motor ist zumindest noch drin", giftet sie mit Blick in den Motorraum.
"Ich denke, du hättest gemerkt, wenn der Motor weg wäre", erklingt der Bariton, in dessen Genuss sie gestern schon kommen durfte, hinter ihr. Wo ist seine schlechte Laune geblieben? Plötzlich so zahm, leise und um einen ruhigen Ton bemüht?
Marten tritt noch näher an sie heran, sodass seine Jogginghose die Haut ihres Oberschenkel streift. "In dem Kleid solltest du dich hier in der Gegend nicht so bücken", flüstert er. "Man kann dir bis zu den Mandeln gucken. Nicht, dass du dich und deinen Körper verstecken musst. Aber hier hängen viele Arschlöcher rum."
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