19
"Ann, verflucht, rede mit mir, verdammte Scheiße!" Marten geht vor dem Bett auf und ab, versucht geduldig zu sein. Ann schweigt, liegt auf dem Bett und kämpft mit den Tränen. Alle paar Sekunden taucht Marten in ihrem Blickfeld auf, doch er verharrt nicht lange genug, um ihr in die Augen zu sehen. Am liebsten würde er sich die Haare raufen, wenn er sie nicht erst vor einigen Tagen recht kurz geschnitten hätte. So kommen wenigstens seine Tattoos am Hinterkopf wieder zur Geltung.
Immer wieder streicht er sich über die Stoppeln. So kurz waren sie schon lange nicht mehr.
Für einige Sekunden schließt er die Augen. Marten ist sich sicher, dass Ann ihm heute keine Antwort mehr geben wird.
"Es ist halb so wild", flüstert sie schließlich doch.
"Halb so wild?", schreit Marten sie an. "Deine beste Freundin hat diesem Lappen, ganz offensichtlich aus Angst, erzählt, du würdest in Rostock wohnen! Scheiße, Ann, das ist wild, sehr sogar. Also kneif endlich die Arschbacken zusammen und rede mit mir. Ich kann dir sonst nicht helfen." Noch immer ist Marten viel zu laut und Ann ein ums andere Mal froh, dass sie allein sind.
Er redet unbeirrt weiter auf sie ein, versichert ihr, für sie da zu sein, ihr zu helfen.
"Du kannst mir nicht helfen und ich will deine Hilfe auch gar nicht!" Ann springt vom Bett auf, sucht ihre Sachen zusammen. "Ich will einfach nur meine Ruhe."
"Weißt du, Girly, ich halte dich für äußerst taff und bisher hatte ich auch nie den Eindruck, du bräuchtest irgendjemanden auf dieser Welt. Aber jetzt verhältst du dich einfach nur dumm." Marten wird ruhiger, ist stehen geblieben, versperrt ihr erneut die Tür. Still schwört Ann sich selbst, sich dieses Mal nicht von ihm abhalten zu lassen. "Ich versuche für dich da zu sein, doch du blockst ab. Hab ich vielleicht, nachdem du den Brief kennst, nicht anders verdient", spricht er weiter. "Ich dachte wir wären mehr."
"Mehr?", fragt Ann, schaut ihm dabei fest in die Augen. "Mehr als was, Marten? Dein scheiß Brief hat hiermit nichts zu tun. Ich habe dir gesagt, dass ich dich nicht danach beurteile, wie andere dich sehen. Ich will deine verdammte Hilfe nicht, weil ich sie nicht brauche. Ich komme gut allein zurecht. Kümmere dich um deine Angelegenheiten. Und vergiss deine merkwürdige Vorstellung, wir könnten mehr als Geschäftspartner und Sexfreunde sein."
Ann will sich an Marten vorbeischieben, doch natürlich kommt sie gegen seine Muskelkraft nicht an. Etwas unsanft schubst er sie zurück, sodass sie auf das Bett taumelt.
"Ich lass dich nicht gehen, ehe du mit mir geredet hast." Marten baut sich vor ihr auf, sieht, dass Anns Lippen leicht zittern. Natürlich. Er macht ihr Angst, wie schon in seiner Wohnung, als er sie nicht allein nach Hause gehen lassen wollte.
"Ich kann nicht", flüstert Ann mit belegter Stimme. "Ich kann dir nichts sagen. Es gibt nichts zu sagen."
"Wieso nicht?" Er bleibt stur, was bleibt ihm anderes übrig. Marten braucht Antworten, will endlich verstehen, was mit Ann los ist.
"Weil es nicht geht!", schreit sie ihm entgegen. Warum versteht er denn nicht, dass es zu schwer ist? "Ich kann mich dir nicht öffnen! Es würde bedeuten, dass ich mich auf etwas, auf jemanden einlassen. Und das geht nun einmal nicht. Du würdest mir weh tun, auf so viele Arten. Ich kann mich dir nicht schutzlos ausliefern."
Der Punkt ist erreicht, Ann zerbricht innerlich.
Wie gern würde sie Marten alles aus ihrer Vergangenheit sagen, wie gern ihn bitten, nie wieder von ihrer Seite zu weichen.
"Dich verletze ich nicht", beteuert Marten und meint es auch so. Sie ist so anders, als alle Frauen, die er bisher kennengelernt hat. "Ann, ich will für dich da sein, dich vor dem Wichser beschützen."
"Aber es geht nicht", verzweifelt schreit Ann erneut auf. "Selbst wenn du deine Worte ehrlich meinen würdest, kann ich nicht. Marten, ich bin kaputt, ein Wrack. Zerstört von Menschen, die mich hätten lieben sollen. Ich habe auf die harte Tour gelernt, dass es Liebe nicht gibt, nur Geschäft und Verträge. Wie solltest ausgerechnet du mir das Gegenteil beweisen können? Ein Ex-Knacki, der lieber einen Joint raucht, als sich um seine Freundin zu kümmern? Zwei Seelen, wie wir sie haben, sollten sich weit von einander in Sicherheit bringen, ehe sie für immer verloren sind."
Ann sieht ihm fest in die Augen, sieht, wie sie ihm weh tut, das ihre Worte etwas in ihm zerreißen. Vielleicht hätten sie eine Chance gehabt. Vielleicht wäre er Gottes Entschuldigung für ihre Familie gewesen. Wer weiß? Doch mit ihren Worten hat sie jede Möglichkeit, mit Marten etwas zu versuchen, zunichte gemacht.
Bravo, Ann, applaudiert sie sich stumm. Ganz großes Kino.
Marten strafft die Schultern, seine Mimik wird regelrecht eisig, in seinem Blick liegt nichts herzliches mehr. Das war es. Das waren die Worte, die er hören musste, um aufzuwachen. Was dachte er, würde zwischen ihm und Ann sein? Hatte er wirklich erwartet, dass ein Großstadt-Girly ihr Herz einem tätowierten Typen, Ex-Knacki, hin und wieder zugedröhnten Arschloch schenken würde? Hatte er wirklich geglaubt, es wären mehr als Sex? Ann war es, die ihre gemeinsame Nacht als Zerstreuung benannte. Und er hatte gewagt zu hoffen. Wie töricht von ihm.
Er atmet tief durch, würde sie gern beschimpfen, sie so richtig runter machen. Doch damit würde er nur Emotionen ihr gegenüber zulassen. Nein, diese Blöße wird Marten sich nicht geben. Ein weiteres Mal atmet er lange ein, zählt dabei bis zehn, ehe er ausatmet. Die Wut in ihm bleibt die gleiche, nur hat er sich besser unter Kontrolle.
"Merk dir meine Worte, Girly", knurrt er regelrecht. "Du wirst Hilfe brauchen, wenn du am wenigsten damit rechnest. Aber sei gewiss, dass du sie nicht bei mir finden wirst." Mit einem lauten Krachen der zuschlagenen Tür, lässt Marten Ann allein in der Wohnung zurück.
Mit tränennassen Wangen sitzt Ann auf dem Bett und starrt die Tür an.
Marten ist gegangen. Nicht nur aus dem Zimmer, sondern auch aus der Wohnung. Auch aus ihrem Leben?
Sie hebt ihre Tasche vom Boden auf, sucht darin ihr Handy. Jess wird vermutlich schon auf ihren Anruf warten. Doch Ann zögert.
Will sie wirklich mit Jess reden?
Nein, jetzt braucht sie Antworten. Zum Beispiel auf die Frage, was zum Teufel Robert und Ralf in Hamburg machen.
Unentschlossen, obwohl sie gerade noch wusste, mit wem sie sprechen will, scrollt Ann durch ihre Telefonliste, verharrt schließlich bei dem einem Namen. Viel zu lange ist es her, dass sie miteinander geredet haben.
"Ann?" Noch bevor Ann den grünen Knopf drücken kann, erklingt Jess Stimme auf der anderen Seite der Tür. "Ann wo bist du?"
"Hier." Ann verlässt das Zimmer. Ihre beste Freundin stürmt auf sie zu, umarmt sie fest. Ann steht regungslos da, sie fühlt sich seltsam leer, seit Marten aus der Wohnung gegangen ist. Hinter Jess taucht John auf. Der hat Ann gerade noch gefehlt. Als Martens Cousin wird er fraglos auf Martens Seite stehen. Vermutlich wird auch er beteuern, ihr helfen zu wollen. Dabei scheinen sie zu vergessen, dass Ann die Jungs und ihre Freunde schon recht gut kennt. Keiner von ihnen ist geeignet, ihr zu helfen. "Ich will nach Hause", richtet Ann das Wort an Jess. "Jetzt."
"Nach Hause? Oder nach Hause?" Jess malt mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft, beobachtet ihre Freundin mit Argusaugen.
"Beides", erklärt Ann. "Ich will nach Hause nach Itzehoe, ich brauche ein paar Sachen. Dann fahre ich nach Berlin, um ein für alle Mal etwas zu klären. Und dann kann ich hoffentlich zurückkommen und in Ruhe mein Leben leben."
Ann geht an John und Jess vorbei, schaut keinem der beiden in die Augen. "Jess, ich möchte dich bitten, meine Termine zu übernehmen."
"Du fährst doch nicht etwa alleine nach Berlin?" John hält Ann am Arm zurück, hebt sanft ihr Kinn. "Jess hat mir erzählt, was bei dir abgeht. Du solltest die Konfrontation nicht allein suchen. Lass dich von Marten begleiten, ich bin mir sicher ..."
"Marten ist gegangen", unterbricht Ann ihn leise mit belegter Stimme. "Und er wird so schnell vermutlich nicht wieder mit mir reden." Was auch gut so ist. Einen kleinen Teil, vermutlich dem geringsten, von dem, was Ann geschehen ist, denkt er sich ohnehin schon. Mit dem nötigen Abstand zu Marten wird Ann ihm nie die ganze Wahrheit erzählen müssen.
"Warte, was?" John stellt sich Ann in den Weg. "Marten würde dich in dieser Situation nie und nimmer allein lassen."
"Was weißt du schon von meiner Situation?" Ann versucht einen überheblichen Blick aufzusetzen. Früher war sie gut darin, von oben herab auf andere Menschen zu blicken. "Du kennst mich nicht, John. Keiner von euch kennt mich."
"Jess hat ..."
"Jess mag dir erzählt haben, was mir passiert ist - übrigens danke für deine Verschwiegenheit", wendet sie sich kurzweilig an ihre Freundin. "Dennoch kennst du mich nicht im Geringsten. Ihr wisst nicht, wie es in mir aussieht, wie zerbrochen ich bin. Ihr könnt nicht erkennen, welche Qualen ich Tag für Tag erleiden musste und noch immer muss. Nicht einmal Jess kennt die ganze Wahrheit. Also bitte, John, halt den Mund und geh mir aus dem Weg."
Ann wendet sich ihrer Freundin zu, funkelt sie böse an.
"Ich habe mehr erwartet, Jess", sagt sie bemüht beherrscht. "Ich will gar nicht genau wissen, was du ihm erzählt hast. Aber lass es mich mal radikal freundlich auadrücken: Fick dich! Wer gibt dir das Recht, über mein Leben zu sprechen? Meine Erfahrungen mit jemanden zu teilen, den du kaum kennst?! Von meiner besten Freundin hatte ich mehr erwartet."
Sie lässt ihre Freunde stehen, verlässt die Wohnung und fährt mit dem Fahrstuhl hinab in die Tiefgarage.
Ihre Schritte hallen von den Wänden wider, es ist kalt geworden und einige Lampen sind kaputt. Gleich wird sie ihr Auto erreichen, es kann nicht mehr weit sein. Doch mit jedem Schritt, den Ann weiter geht, hat sie das Gefühl, sich immer mehr zu verlieren. Nicht nur, weil sie Marten offensichtlich verletzt hat. Sondern auch, weil sie schon wieder Angst hat.
Angst, in ihr altes Leben zurück zu müssen.
Angst, sich selbst zu verlieren.
Angst, einen besonderen Menschen bereits verloren zu haben.
Wenige Meter vor ihrem Wagen bleibt Ann abrupt stehen.
"Was machst du hier?", fragt sie leise, doch in der Stille der Garage klingt ihre Stimme äußerst laut.
"Keine Ahnung."
"Du solltest nicht hier sein." Ann versucht all ihre Überzeugungskraft in ihre Worte zu legen.
"Wo sonst sollte ich sein?" Er stößt sich vom Wagen ab, an dessen Heck er gelehnt hatte und geht auf Ann zu. "Es ist, als könnte ich mich nicht schon wieder von Dir entfernen. Als wüsste ich genau, was Du als nächstes tust. Ich kann das alles einfach nicht akzeptieren. Ich kann dich nicht allein lassen."
Er will sie in seine Arme ziehen, doch Ann weicht einige Schritte zurück.
"Nicht, bitte. Wir sollten nicht so tun, als wäre alles in Ordnung. Alles, was ich gesagt habe, meine ich auch so. Und ich weiß, dass du ebenfalls ein Mensch bist, der nicht unüberlegt Aussagen trifft." Ann greift in ihre Tasche, sucht ihren Autoschlüssel. "Ich fahre jetzt nach Hause und hole ein paar Sachen."
"Nimmst du mich mit?"
"Nein." Ann geht an ihm vorbei, ist sich bewusst, dass das letzte Wort noch nicht gesprochen ist.
"Lass es mich anders formulieren: Du nimmst mich mit und wir reden. Ohne Geschrei, ohne wütende Worte. Du sagst mir, was los ist. Und wir überlegen, wie ich dir vielleicht doch helfen kann."
Ann überlegt, lässt sich seine Worte genau durch den Kopf gehen. Die Fahrt nach Itzehoe ist nicht lang, wie viel kann sie da schon erzählen. Vielleicht muss es auch einfach ausgesprochen werden, damit ... ja, was dann? Würde es zwischen ihnen etwas ändern? Würde er sie anders behandeln? Sie verstehen? Wäre er in der Lage, ihr wirklich zu helfen?
Ann schüttelt den Kopf. Nein, es würde sich nichts ändern. Und doch alles. Denn sie wäre nicht mehr Ann, die Nageldesignerin, sonder Ann, das Opfer.
"Komm schon, es geht doch nur um eine Fahrt nach Hause."
Ann blickt auf, sucht seine blauen Augen. Sie waren das erste, was sie an ihm bemerkte. Und diese Augen waren es, die ihr das Gefühl von Vertrauen zurückgegeben haben. Kurzweilig. Sie beobachtet, wie er die Arme öffnet, sie einlädt, sich einen Moment darin fallen zu lassen. Und Ann nutzt die Chance, geht die wenigen Schritte auf ihn zu und lässt sich fest umarmen. Vermutlich zum letzten Mal, bevor sie sich für immer verlieren werden.
"Ach, Marten", schluchzt Ann an seiner Brust, erlaubt sich einen Moment der Schwäche. "Merk dir meine Worte", wiederholt sie, was er vor nicht einmal einer Stunde zu ihr gesagt hat. "Du wirst mir nicht helfen können und du wirst nicht verstehen. Und deshalb werden wir beide uns für immer verlieren."
Mit diesen Worten löst Ann sich von Marten, beide steigen in das eisblaue Auto und verlassen Hamburg.
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