18

"Lass den Mist", sagt Ann, versucht sich an Marten vorbei zuschieben. Die anderen haben die Wohnung bereits verlassen. John versicherte vorher, er würde für beide einen Drink bestellen.

"Gib mir ein paar Minuten." Er lässt nicht locker, greift nach ihrer Hand. Ehe Ann sie wegziehen kann, hat Marten sie schon erwischt, zieht sie wieder auf die Couch. Der graue Stoff ist weich, durchgessen und an einigen Stellen finden sich kleine Löcher. Und doch hat Ann sich bisher selten so schnell so heimelig gefühlt.

"Wozu? Willst du mir etwa von deiner Reise erzählen? Oder warum du plötzlich überhaupt mit den Jungs mitgeflogen bist? Oh warte, lass uns doch damit anfangen, warum du das gesamte Geschirr des Studios zerschellt hast!" Ann redet sich in Rage, fühlt sich augenblicklich wie befreit.

"Dann müssen wir bei dem Brief anfangen", geht Marten ruhig auf ihre Worte ein.

"Wozu?", will sie fast schon verzweifelt wissen. "Ich habe dir gesagt, dass ich dich nicht nach diesen Brief verurteilen werde."
Marten rutscht etwas näher an Ann heran, streicht sacht über ihre Wange. Er muss sich entscheiden. Entweder zieht er es jetzt durch, erzählt dieser wunderschönen jungen Frau von seiner Vergangenheit und was er Alessia alles angetan hat, oder er zieht jetzt den Schwanz ein und gibt sich mit der Friendzone plus zufrieden.

"Alessia und ich waren schon in der Schule ein Paar. Naja, eigentlich waren wir das nie offiziell, aber es sah für Außenstehende so aus. Sie stand an meiner Seite, hat jeden Scheiß von mir, John und den Jungs mitbekommen. Vor einigen Jahren wollte sie mehr. Sie sagte, sie kann mir nicht immer aus der Scheiße helfen, wenn sie nie richtig zu mir gehören darf." Marten reibt sich seine mittlerweile vor Nervosität schwitzige Hand an der Hose ab. Weiter, denkt er, sprich zu Ende.
"Ich war völlig stoned, kam von einer Party und wollte eigentlich nur hart vögeln, da fing sie mit diesem Palaber an. Ich frage, ob sie die Klappe halten würde, wenn ich ihr neue Möpse bezahle."

Ann wendet den Blick ab. Sie sieht in Martens Augen die pure Wahrheit. Sie kennt die Jungs, wie sie sich selbst bezeichnen, jetzt lange genug, um sicher sagen zu können, dass keiner von ihnen wirklich nett bleibt, wenn sie etwas genommen haben. Bis auf Marten.

"Du konsumierst nicht mehr", stellt sie fest, meidet weiter den Blickkontakt.

"Seit jener Nacht nicht mehr", bestätigt der blauäugige Hüne. "Doch bis dieser Tag kam, habe ich Alessia viele Schmerzen zugefügt. Seelisch, nie körperlich. Doch vermutlich macht das auch keinen Unterschied mehr." Marten fasst nach Anns Hand, rechnet mit Ablehnung, doch sie umfasst zart seine rauen Finger. "Wir haben verschiedene Immobilien zusammen gekauft, ich habe ihr die Welt gezeigt." Ganz bewusst verschweigt Marten, dass auch Anns Wohnung dazu gehört. "Doch an diesem Abend, mit dieser Frage, bin ich zu weit gegangen. Zu ihrem Glück vermutlich. Alles, was in dem Brief steht, ist die Wahrheit. Ich habe sie gebeten sich ein Hobby zu suche, ich habe ihr ihren ersten Joint gegeben. Ich war es, der mit ihr immer und immer wieder geschlafen hat und dann gegangen ist."

Langsam aber sicher glaubt Ann zu verstehen, worauf Marten eigentlich hinaus will. Sie sieht natürlich die Parallelen in den Geschichten.
"Deshalb das zerbrochene Geschirr? Weil wir einmal Sex miteinander hatten?"

"Und wegen allem", seufzt Marten. "Wegen der Art, wie du mich ansiehst. Wegen dem, was du mit mir zu machen scheinst. Scheiße, jedes Mal, wenn wir unterwegs sind, nehme ich deine Hand, als wäre ich dein Schoßhund." Mit jedem Wort wird Marten lauter. Will sie denn nicht sehen, was passiert? "Ich will dir nicht ebenso weh tun, wie ich Alessia verletzt habe. Du hast dein eigenes Päckchen."

"Was?", verwirrt blickt Ann auf. Ihr Päckchen? Wovon spricht Marten? Sie hat wohl über ihre Familie gesprochen, aber mit keiner Silbe erwähnt, was ihr eigentlich passiert ist. Bis auf Jess gibt es in ihrem neuen Umfeld niemanden, der Bescheid weiß.

"Du sagtest, du hättest dich schon zur Wehr setzen müssen", ergreift Marten wieder das Wort. "Ich dachte..."

"Hör auf zu reden." Ann steht von der Couch auf, tritt an die Balkontür und schaut auf die Stadt. Hamburg hat nichts, was Berlin ihr nicht auch geben kann, stellt sie ernüchtert fest. Ann ist froh, nicht hierher gezogen zu sein. In Itzehoe jedoch ... Sie hat sich ein Leben aufgebaut, will dieses nicht verlieren. Doch Marten will sie auch nicht missen.
"Marten, ich glaube, du interpretierst zu viel in die eine Nacht", versucht sie mit fester Stimme zu erläutern. "Ich würde mich selbst nie als ein Mädchen bezeichnen, was leicht zu haben ist. Doch an jenem Abend habe ich mehr gebraucht. Mehr als nur deine Freundschaft oder deine Schulter zum Anlehnen. Du hast mir mehr gegeben." Hinter ihr raschelt es, als Marten ebenfalls von der Couch aufsteht und neben sie tritt. "Das Leben in Itzehoe tut mir gut. Ich fühle mich, wie ich mich noch nie gefühlt habe - frei und sicher. Und dafür muss ich mich bei dir und auch bei Jo besonders bedanken. Es gibt Tage, an denen muss ich gar nicht an meine Vergangenheit denken. Das verdanke ich euch. Ich bin nicht an einer Beziehung interessiert", stellt Ann schließlich klar. "Eure Freundschaft bedeutet mir mehr, wenngleich ich gegen eine Wiederholung jener Nacht nichts hätte. Wenn du allerdings Probleme mit einer lockeren Vereinbarung hast, dann lassen wir es." Entschlossen dreht sie leicht ihren Kopf Marten zu.

"Keine Verpflichtungen?", fragt er verwirrt nach. "Keine Szenen? Keine Tränen?"

"Du warst bisher der einzige, der eine Szene gemacht hat", grinst Ann.
Ihre Blicke treffen sich, für einen Moment scheint es, als würde die Welt aufhören sich zu drehen. Keiner sagt etwas, niemand bewegt sich.

"Verdammt", flucht Marten schließlich, wendet sich ab und verlässt das Wohnzimmer.

"Was ist?", ruft Ann ihm hinterher.

"Ich bin hart wie ein Stein", erklingt Martens Antwort. "Entweder du kommst mit rüber ins Bett oder ich kümmere mich allein darum!"
Ann lacht leise auf, schüttelt den Kopf und setzt sich in Bewegung. Eine bessere Besiegelung ihrer beiden Worte kann sie sich nicht vorstellen.

Mit zwei Stunden Verspätung betreten Marten und Ann schließlich den Club. Es ist brechend voll, die Luft zum Schneiden dick. Die vielen Menschen tanzen dicht an dicht, reiben sich mitlerweile mehr aneinander als alles andere. Sofort fühlt Ann sich unwohl, klammert sich regelrecht an Martens Arm. Erst, als sie fast an dem Tisch ihrer Freunde sind, lässt sie von ihm ab.

Nachdem sie Marten bei seinem Problem Abhilfe geleistet hat, haben sie sich noch über den heruntergefallenen Geschirrschrank unterhalten. Sie sind sich einig, dass andere nicht den Eindruck bekommen sollen, sie seien ein Paar. Daher wollen sie auf Körperkontakt in der großen Runde verzichten.

"Meine Güte, da seid ihr ja endlich!" Jess klopft neben sich auf die Bank. Ann lässt sich nicht zwei Mal bitten. Sie lässt den Blick durch den Club schweifen, während sie an Jess' Cocktail nippt.

Marten nimmt auf der anderen Seite des Tisches Platz, begrüßt Jo mit einem Klopfen auf die Schulter. Beim Näherkommen ist ihm bereits eine Gruppe piek-feiner Typen aufgefallen. Sie sitzen nur zwei Tische weiter, fallen durch ihre Poloshirts und Pulunder auf wie bunte Hunde. Einer von ihnen hat, wie Marten zunächst dachte, Jess fixiert. Doch je näher Ann dem Tisch kam, desto deutlicher wurde, dass Ann den Blick auf sich zog.

Ein ungutes Gefühl beschleicht Marten, während er die Gruppe von sechs Männern beobachtet. Zwei kommen ihm merkwürdig bekannt vor, doch er kann sie nicht recht einordnen. Wo hat er sie nur schon gesehen?

"Digga, was starrst du die Typen so an? Stehst du jetzt auf Männer?" Jo legt einen Arm um Marten. "Scheiße, sind das Lackaffen." Stumm stimmt Marten seinem Kumpel zu. Die jungen Männer sind wirklich Lackaffen, wenn man sie mit allen anderen Männern im Club vergleicht.

"Zwei kommen mir bekannt vor, aber ich weiß nicht warum."

"Scheiß drauf", sagt Jo, klopft seinem Freund auf die Schulter und unterhält sich wieder mit den anderen. Doch Marten kann sich nicht konzentrieren. Nur am Rande bekommt er mit, dass seine Freunde nicht mehr allzu lange machen wollen. Die Jungs haben Hunger und die Mädels werden langsam müde. Nur Jess scheinbar nicht. Sie drängeln schon seit mehreren Minuten darauf, dass Ann unbedingt mit ihr wieder auf die Tanzfläche gehen soll.

Kurz muss Marten überlegen, wie lange er schon auf seinem Platz sitzt und die Gruppe am Nachbartisch anstarrt. Ein Blick auf die Rolex, die John ihm zum letzten Geburtstag geschenkt hat, bestätigt seine Befürchtung. Er hat mehrere Stunden des Abends verpasst.
Ann ziert sich, sagt, ihr würden die Füße weh tun. Auch alle anderen wirken äußerst müde. Bis auf Jess.

"Na schön, du blöde Nervensäge", willigt Ann schließlich ein. Sie steht von ihrem Tisch auf, dreht sich und erstarrt. Innerhalb weniger Sekunden lässt sie sich wieder auf die Bank fallen und murmelt irgendetwas. Jess, die nicht nur fit wie ein Turnschuh, sondern auch rotzevoll ist, braucht einen Augenblick, um es ihrer Freundin wieder gleichzutun. "Verdammt Jess, jetzt setz dich endlich wieder hin", zischt Ann.

Kurzerhand steht Marten auf, setzt sich auf den freien Platz zu Anns Rechten und legt schützend den Arm um sie. Mit seiner Nase streicht er ihr über die Wange, damit es für Außenstehende aussieht, als würde er sie liebkosen. Am Ohr macht er halt.
"Wer sind die Kerle und warum siehst du aus, als würdest du jeden Moment den Tisch vollkotzen?" Er flüstert in ihr Ohr, streicht dabei ihre Haare sanft beiseite.

"Kerle, die ich hier nicht erwartet hätte. Ich hatte gehofft, sie überhaupt nie wieder zu sehen." Marten linst zu den Männern, bemerkt, dass Bewegung in die Gruppe kommt.

"Lehn dich an mich und schau nicht auf, bis ich dir Bescheid sage", flüstert er wieder direkt in Anns Ohr und drückt leicht ihren Kopf an seine Schulter. Ann macht, wie ihr geheißen, als die Stimme, von der sie nie wieder hören wollte, direkt neben ihrem Tisch immer lauter wird.

"Alter", lallt eine andere, ihr viel zu vertraute Stimme. Sie kann nur ahnen, warum sie sich hier aufhalten. "Ihr seid doch diese ... diese Jungs." Er lacht über seine Wortfindungsstörung. "Ich meine, ihr seid die mit den Zahlen ... 187. Geile Musik macht ihr .... wirklich ... geiles Zeug!" Ann gibt alles, um nicht aufzuschauen. Marten spürt, wie sie ihren zitternden Körper an den seinen presst. Sein Hals fühlt sich feucht an und auch seine Schulter ist merkwürdig klamm. Ann weint, was ihn wütend werden lässt.

"Jess?" Ann versteift sich, wenn es überhaupt möglich ist, noch mehr an Martens Schulter. Er hebt leicht den Kopf, will sehen, vor wem Ann scheinbar so große Angst hat. Als er die Gesichter nun so nah vor sich hat, erkennt er die Brüder. Robert und Ralf von Baumbach oder so ähnlich. Der eine ist mit Anns Schwester verlobt, der andere stand immer gefährlich nah an Ann.

"Robert?" Jess weiß nicht so recht, wohin mit sich, vermeidet es, in Anns Richtung zu sehen.

"Und ich dachte, du wärst in Itzehoe gelandet. Zumindest erzählt deine Mutter das jedem, der es hören will. Wie geht es Ann?"

"Ne, Itzehoe hat nicht zu uns gepasst", erklärt Jess und klingt dabei erstaunlich nüchtern und fröhlich. "Wir sind dann doch nach Rostock gegangen. Ich bin nur übers Wochenende in Hamburg. Endlich mal wieder Zeit mit meinem Freund verbringen." Marten beobachtet, wie Jess ihre Hand auf Johns Arm legt. Das hat auch noch keine gebracht. Wäre Ann nicht neben ihm, würde es die Situation sogar lustig finden. Doch in diesem Moment hofft er nur, dass Robert und Ralf schnellstmöglich verschwinden, damit er Ann sicher hier raus bringen kann.

"Alter, Robert, sie ist mit Bonez zusammen." Ehe Ralf sich weiter darüber freuen kann, steht John auf, zieht Jess mit auf die Beine. Scheinbar hat auch Martens Cousin bemerkt, dass hier was nicht ganz koscher ist.

"Wir wollten gehen", sagt er an Robert gewandt. "Wir fahren noch heute nach Rostock." Mit diesen Worten verlassen Jess und John den Tisch. Zu Martens Glück, folgt den beiden die betrunkene Gruppe.
Marten nimmt Anns Hand zieht sie vom Stuhl. Wieder verlässt er den Club mit ihr durch den Hintereingang. "Ich ruf uns schnell ein Taxi", sagt er zu ihr. Ann nickt nur, lehnt sich wieder an ihren Fels und schließt die Augen.

Verdammt war das knapp, denkt sie sich und ist einmal mehr froh, dass Jess eine gute Reaktion in brenzlig Situationen hat. Sie verliert nur selten die Nerven.

Das Taxi fährt vor und bringt Ann und Marten in die Wohnung. Es ist noch ruhig, alle Zimmer sind leer. Ann schreibt ihrer Freundin, lässt sich anschließend seufzend auf das Bett fallen. Die Decke ist noch ein einziger Haufen. Weder sie noch Marten hatten früher an dem Abend die Muße, das Bett noch zu machen. Sie lässt sich auf das Kissen nieder, atmet den Duft von Martens Parfüm ein.

"Warum hast du solch große Angst vor dem kleinen Fatzke?" Martens Stimme ist ihr ganz nah. Und obwohl sie weiß, dass er die Anspannung sicher gern loslassen würde, die ihre Angst im Club in ihm ausgelöst hat, ist seine Stimme weich. Er will lediglich Antworten und vielleicht ist es an der Zeit, dass sie ihm, zumindest einen kleinen Teil, anvertraut.

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