17
Zeit vergeht, erst Tage, dann Wochen. Und plötzlich ist es mehr als ein Monat.
Der Sommer neigt sich langsam dem Ende, Itzehoe strahlt nicht mehr mit der Sonne um die Wette. Überhaupt wirkt nun alles trist und grau.
Ebenso Anns Laune. Tag ein Tag aus sitzt sie an ihrem Nageltisch, kann sich kaum mehr vor Kunden retten. Sie muss immer wieder Frauen wegschicken, wenngleich einige bereit wären, mehr als das doppelte für eine Modellage zu zahlen. Einfach, um dem scheinbar exklusivem Klientel anzugehören. Dabei sind 50 Prozent ihrer Kundinnen Freundinnen von Lisa. Man könnte sagen, sie hat das große Los gezogen.
Ann kann gar nicht sagen, wie dankbar sie ihrer neuen Freundin ist. Lisa hat überall kostenlos Werbung für Ann gemacht, wodurch ihr Terminkalender schnell voll war. Vermutlich sollte sie sich nach einer Verstärkung umsehen.
Doch all die positiven Ereignisse können die dunklen Wolken in ihrem Kopf nicht verdrängen.
Marten kam abends vorbei, brachte Jess Taschen, sagte kein Wort zu Ann und verschwand wieder. Erst Tage später erzählte Lisa ihr, dass er sich sehr kurzfristig entschlossen hatte, doch nach LA zu fliegen.
Nun verfolgt Ann seine Insta-Story, wie eine Bessene, nur, um hin und wieder seine Stimme zu hören. Armselig, ja, das traf es genau. Sie fühlte sich armselig. Dachte sie vor Wochen noch, hin und wieder Sex mit Marten würde ihr ausreichen. Doch nun merkt sie von Tag zu Tag mehr, wie sehr seine Abwesenheit tief in ihrem Herzen Risse hinterlässt.
"Süße, komm rein, es ist zu kalt." Jess steht hinter Ann an der Studiotür, zieht ihre Strickjacke fester um den Körper. Warum Jess noch immer hier ist, versteht Ann nicht und Jess schweigt dazu.
"Ich rauch nur noch eine", erwidert sie, dreht sich um und beachtet ihre beste Freundin nicht weiter. Hinter ihr ist ein Seufzen zu vernehmen, ehe die Tür ins Schloss fällt.
Ja, Ann ist zur Zeit nicht sie selbst. Sie ist geknickt, raucht viel zu viel und isst zu wenig. Ihr fehlen die Auseinandersetzungen mit ihrem Geschäftspartner, sie sehnt sich regelrecht danach, sich an seine Schulter zu lehnen, nachdem sie sich angeschnauzt haben.
Immer wieder fragt sie sich, wann die Jungs wohl wieder kommen. Und, wie Marten sie dann behandeln wird.
Er war bei ihrer letzten Begegnung sauer, keine Frage. Doch hätte Ann gern mit ihm darüber geredet.
Was bedeutet es, wenn er so aus der Haut fährt? Ist es ein allgemeiner Beschützerinstinkt? Oder hat es direkt mit ihrer Person zu tun?
"Du holst dir noch den Tod hier in der Kälte, Girly!" Geschockt hebt Ann den Blick. Wie sehr sie die Stimme vermisst hat.
Marten lehnt an seinem Auto, lächelt sie an, als wäre er nur eben Zigaretten holen gewesen.
"Unkraut vergeht nicht", scherzt Ann, doch das Lachen bleibt ihr im Halse stecken, als sich die Beifahrertür öffnet und eine Platinblondine aussteigt. Ihre falschen Haare sind zu dicken Zöpfen geflochten, ihre Brüste werden nur knapp von einem Top bedeckt. Die graue, leicht glitzernde Sweathose liegt tief auf ihren Hüften, als sie um das Auto herumgeht und Martens Hand ergreift. Wäre Ann nicht von ihrem Auftauchen geschockt, würde sie die Fremde um ihre Klamotten beiden. Immer trägt Ann oft nicht viel mehr.
"Scheiße, ist das kalt. Wären wir bloß in LA geblieben." Ihre Stimme ist tiefer, als Ann erwartet hätte. Sie klingt wie eine junge Bonnie Tyler.
Marten beobachtet Ann bei jedem Schritt. Er bemerkt, dass sie sich leicht versteift, als er ihr näher kommt, kurz bei ihr stehen bleibt.
"Schön dich zu sehen, Girly", sagt er, küsst ihre Wange und zieht seine Begleitung mit ins Studio.
Ann zieht ein letztes Mal an ihrer Zigarette, ehe sie den beiden folgt. Sie ist wirklich ziemlich durchgefroren und in etwa 10 Minuten kommt die letzte Kundin des Tages.
"Wow, es sieht super hier aus!" Marten dreht sich zu Ann um, reckt einen Daumen in die Höhe und lächelt sie strahlend an. War er etwa in LA beim Bleeching? Die Bauarbeiten waren fast abgeschlossen, den Empfangsbereich hat Ann am vergangenen Wochenende fertig gestellt. Der dunkelgraue Tresen hat verschiedene Lila Akzente bekommen, unter anderem eine lila-glitzernde Spardose in Form eines Highheels. Jess hatte ihn im Internet entdeckt und Ann als eine Art Einweihnungspräsent geschenkt.
"Ja, nächste Woche kommen die letzten Feinheiten, dann ist es endlich fertig", erklärt Ann, geht an den beiden Neuankömmlingen vorbei zu ihrem Tisch. Schnell gibt sie vor ein wenig aufzuräumen, um Marten nicht anschauen zu müssen.
"Ich bin übrigens Tammy", ergreift die Frau an Martens Seite das Wort. Ann schaut auf, muss sich kurz sammeln. Ihr letzter Termin heute hat sich mit dem gleichen Namen angemeldet. "Ich denke, dann bist du Ann? Ich hab einen Termin."
Ann nickt, geht auf Tammy zu und reicht ihr leicht zittrig die Hand.
"Hi, ja, ich bin Ann. Setzt dich doch schon mal, kann ich dir etwas zu trinken anbieten?" Schneller als jeden, den sie kennt, schaltet Ann wieder in den Profi-Modus. Schließlich geht sie in die kleine Küche, um für Tammy einen Kaffee zu holen. Jess folgt ihr, schließt leise die Tür hinter sich.
"Alles okay?", flüstert sie. Ann stützt sich neben der Kaffeemaschine ab, atmet mehrere Male tief durch, ehe sie ihre beste Freundin ansieht.
"Ist das seine Freundin, was denkst du?" Ann merkt, wie ihr die Tränen in die Augen schießen, versucht sie wegzublinzeln.
"Keine Ahnung." Jess zuckt hilflos mit den Schultern. Sie hatte schon geahnt, dass Ann mehr für Marten empfindet, als sie zugeben will. "Soll ich die alte Modellage schon mal entfernen? Dann hast du noch ein paar Minuten, um dich zu sammeln. Geh einmal um den Block, dann geht's sicher wieder."
Dankbar fällt Ann ihrer Freundin um den Hals. Sie schnappt sich eines Tasse, gießt Kaffee ein und greift nach zwei kleinen Kaffeemilch-Döschen.
"Ich bin gleich wieder da", entschuldigt sie sich, während sie Tammy die Tasse reicht. "Meine Freundin Jess wird schon mal mit dem Fräsen beginnen, ich brauch nur 10 min, dann übernehme ich wieder."
Ohne eine Antwort abzuwarten verlässt Ann das Studio.
Während sie die Straße entlang geht, versucht sie sich zu sammeln. Was solls?, fragt sie sich immer wieder. Dann scheint er eben eine Frau gefunden zu haben. Warum kann Ann dann nicht mehr richtig atmen?
"Girly!" Ann widersteht dem Drang, sich nach Marten umzudrehen. "Warte doch mal."
"Was gibt's?", fragt sie gespielt gelassen.
"Ist alles okay? Wo willst du hin?" Marten mustert die Frau ihm gegenüber, versucht aus ihrer Flucht schlau zu werden.
"Ich habe leichte Kopfschmerzen und wollte nur eben eine kleine Runde gehen, um keine Tablette nehmen zu müssen", schwindelt sie. "Ich bin gleich zurück."
Sie starren einander an, wie an dem Tag, als Ann das erste Mal auf seinem Parkplatz stand und er deshalb pampig wurde. Es kommt Ann wie eine Ewigkeit vor, doch will sie nicht diejenige sein, die den Blick abwendet.
"Okay", sagt Marten, streicht ihr eine lose Haarsträhne hinter das Ohr. Ann weicht zurück, zu gut fühlt sich diese leichte Berührung an.
"Ich muss jetzt rein, sonst muss Jess die Modellage machen und dafür zahlt Tammy sicher nicht." Ann geht wieder auf das Studio zu, lässt Marten im einsetzenden Nieselregen stehen.
"Wahnsinn, die sehen spitze aus", freut sich Tammy seit gefühlt dreißig Minuten. Schon längst ist Ann mit der Modellage fertig, hat schon alles aufgeräumt und sich von Adam für heute verabschiedet, doch Marten und Tammy sitzen immer noch auf einem der schwarzen Sofas. "Die Mädels werden ausflippen, wenn sie hören, dass du auf Wochen ausgebucht bist. Und das zu dem Preis. Ehrlich, Ann, du solltest teurer werden."
"Die Preise sind schon gut kalkuliert", gibt Ann genervt zurück. "Und wenn ich erst jemanden für den zweiten Tisch gefunden habe, kann ich auch mehr Kunden betreuen."
"Du arbeitest hier gar nicht?", wendet Tammy sich an Jess.
"Genau genommen schon, sofern Ann mich noch hier haben will", lächelt Jess verlegen in Richtung ihrer besten Freundin. Anns Augen weiten sich, ihr Herz beginnt schneller zu schlagen.
"Ernsthaft?" Jess nickt nur, kommt nicht zum Antworten, als Ann kreischend auf sie zurennt. Die Freundinnen springen auf und ab, fallen dabei fast um, weil sie sich noch immer umarmen.
"Was feiern wir?"
"John!", quiekt Jess und stürmt auf ihn zu. "Wir feiern, dass ich doch meinen Teil der Abmachung einhalte." Niemand scheint so richtig zu verstehen, wovon Jess redet. Einzig Marten nickt Ann zwinkernd zu, als sich ihre Blicke kreuzen. Bei ihm hat Ann ihren Frust herausgelassen, als sie noch dachte, Jess würde ihr nie nach Itzehoe folgen.
"Das schreit nach einer Party auf dem Kiez", steigt Tammy kreischend mit ein. Ann verharrt, sucht erneut Martens Blick. Nie und nimmer wird sie mit ihm und Tammy feiern gehen und dann auch noch in der gleiche Wohnung schlafen. Nein, auf gar keinen Fall.
"Super!", fällt Jess ihr unwissend in den Rücken. Von einer Sekunde zur anderen kommt Bewegung in die Runde. John schickt eine Nachricht in die WhatsApp-Gruppe der 187, sagt allen Bescheid, dass sie sich später im üblichen Club treffen. Auch Adam sagt zu, denn er ist mit seinem Samstagskunden fast fertig.
"Wir holen euch in einer Stunde ab", bestimmt Marten. Seine Stimme erlaubt keine Widerrede. Ann kennt die Stimmlage, will ihm jedoch nicht kleinbeigeben.
"Danke, aber wir fahren selbst", gibt sie selbstbewusst zurück. "John, ist es möglich, dass ich meinen Wagen auch bei euch in die Tiefgarage stelle?" Sie wendet sich absichtlich von Marten ab, weil sie ganz genau weiß, wie schlecht er damit umgehen wird. Marten ist nicht der Typ, der ohne weiteres eine Planänderung akzeptiert.
"Klar, Alex hat gerade abgesagt, sein Platz ist leer. Wenn du mich mitnimmst, lasse ich dich höchstpersönlich in die Garage. Bei den beiden Turteltauben fahre ich sicher nicht mit." Er deutet auf seinen Cousin und Tammy. Sie kicherte albern, Marten hingegen funkelt finster zurück.
Ann stimmt sofort zu und macht sich gemeinsam mit Jess auf den Weg nach Hause.
Keine zwei Stunden später sitzt Ann auf dem Fahrersitz ihres neuen Gebrauchten. Sie hat den Suzuki Swift gesehen, sich verliebt und ihn gekauft. Das Eisblau schimmert im Sonnenlicht, wenngleich der Herbst Einzug hält. Der Kofferraum könnte im allgemeinen größer sein, zum Einkaufen reicht es aber.
"Seit wann hast du wieder ein Auto?", fragt John, als sie die Autobahn erreichen.
"Kurz nachdem ihr nach LA geflogen seid", berichtet Jess, als Ann schweigend auf die Straße blickt. Sie will John nicht erzählen, wie sehr ihr der fast schon private Chauffeur gefehlt hat. "Wir sind tagelang vor Öffnung des Studios zu den unterschiedlichsten Händlern gegangen. Als wir diesen Schatz gefunden haben, war es um uns geschehen."
"Wie hast du ihn getauft?" John mustert Ann, wie sie im Rückspiegel sehen kann. Sein Grinsen ist fast schon ansteckend. Aber eben nur fast.
"Lars", antwortet sie und wartet ab, ob John allein dahinter kommt.
"Der Eisbär?" Nickend reckt Ann den Daumen der rechten Hand in die Höhe. Zu einem Eisblauen Auto passt eben nur ein Eisbär.
"Hier die Schlüssel zur Garage und Wohnung. Maxwell wird mich später noch mitnehmen. Wir können leider nicht die ganze Nacht mit euch feiern." Unbeteiligt blickt John aus dem Fenster, zeigt, dass er keine weitere Auskunft geben wird.
Die Fahrt ist schneller vorbei, als Ann lieb ist. In der Tiefgarage steht bereits Martens Mercedes, doch von den Insassen ist nichts zu sehen.
"Sie warten oben", erklärt John und deutet auf den Fahrstuhl.
In der Wohnung angekommen setzen sich die drei zu den bereits Anwesenden ins Wohnzimmer. John zündet drei Zigaretten gleichzeitig an, reicht erst Ann und dann Jess eine.
Ann beobachtet, wie er Jess zu zwinkert, als sie ihm lächelnd den Glimmstängel abnimmt. Es beschleicht sie das Gefühl, dass Jess nicht nur wegen ihr hier bleiben will.
Marten kann den Blick nicht von Ann wenden. Er hatte gehofft, dass die Zeit in LA ihm den Kopf frei werden lässt. Doch es ist alles anders. Und doch ist alles beim Alten. Er sieht sie an und muss automatisch an Alessias Brief denken. Und wie Ann, nachdem sie ihn gelesen hatte, sich neben ihn ins Bett gelegt hat. Sie wollte nicht darüber reden, wenngleich es für Marten unglaublich wichtig ist, dass sie versteht.
"Können wir dann los?" Tammy erhebt sich, geht auf die Tür zu. Maxwell, der in seinen Haaren lustige Zöpfe aus Amerika mitgebracht hat, springt auf, greift Tammys Hand und gemeinsam verlassen sie die Wohnung.
"Ich sag euch, die Fahrt mit den beiden war die Hölle." Anton steht ebenfalls auf, geht langsam auf die Tür zu. "Ich hoffe, sie fahren mit jemand anderem zurück."
Ann versucht zwanghaft den Blick nicht zu Marten schweifen zu lassen. Er hat Tammy also nur zum Studio gefahren. Sie schienen so vertraut. Vermutlich sind sie es auch, immerhin ist Maxwell einer seiner engsten Freunde.
Auch John erhebt sich, zieht Jess mit auf die Beine. Nun bleibt Ann nichts anderes übrig, als sich der Gruppe anzuschließen. Natürlich ist ihr aufgefallen, dass lediglich Anton allein die Wohnung verlassen hat und sie und Marten übrig sind.
"Wir kommen nach", ruft er seinem Cousin zu, stellt sich vor Ann, sodass sie nicht aus dem Wohnzimmer kommt.
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