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"Bleib locker, du kommst nicht zu spät."

"Nicht? Du hast versprochen, dass ich mich noch umziehen kann." Ann sitzt schlecht gelaunt auf dem Beifahrersitz und versucht die schlafenden Jess und John hinter sich zu ignorieren. "Das alles nur, weil die beiden faule Schweine sind", schreit sie in Richtung Rückbank. Keiner rührt sich.

"Ann, wir haben massig Zeit", wiederholt Marten ungeduldig. "Ich warte unten auf dich und bringe dich zum Studio. Die beide lassen wir im Auto ausnüchtern."
John hat in der Wohnung noch ordentlich ins Glas geguckt und als Marten am nächsten Morgen ins Zimmer kam, lag Jess quer auf dem Bett, John auf dem Boden und um sie mehrere Bierflaschen.

Seine Beifahrerin entspannt sich natürlich nicht. Alle paar Sekunden blickt Ann auf die Uhr, was Marten selbst immer ungeduldiger und angespannter werden lässt. Sie haben kein Wort über den Brief gesprochen. Auch nicht darüber, warum er ihn überhaupt mit Ann geteilt hat.
"Wegen gestern", will Marten das Thema dahingehend wechseln, nachdem er sicher ist, dass die Schnapsleichen auf der Rückbank wirklich schlafen.

"Wir müssen nicht darüber reden", erklärt Ann leise. "Ich danke dir von Herzen für dein Vertrauen. Aber du musst mir nichts erklären. Ich verurteile niemanden für seine Vergangenheit."
Kurz schaut Ann in Martens blaue Augen. Wie gern würde sie ihm das gleiche Vertrauen entgegenbringen und ihm von ihrer Vergangenheit erzählen. Doch das geht nicht. Sie darf kein Risiko eingehen. Es ist schlimm genug, dass sowohl die Wohnung, als auch das Studio über ihren echten Namen laufen. Für ihre Schwester war es ein Leichtes, sie zu finden. Warum sollte es für andere also schwerer sein?

"Okay." Marten konzentriert sich voll und ganz auf die Straße. Fast kommt es Ann vor, als wäre er gekränkt. Doch was soll sie zu diesem Brief sagen? Es ist nicht schön, wie Marten darin dargestellt wird. Ann möchte lieber das Bild von ihm behalten, was sie sich die letzten Wochen machen konnte. Ein Bild von einem mürrisch Mann, dessen Laune sekündlich umschlagen kann. Ein Mann, den man vermutlich lieber nicht gegen sich aufbringt, der aber gleichzeitig auf seine Leute aufpasst, wie ein Hund auf seine Herde. Wie ein Krieger auf sein Gefolge.

Ann beobachtet die Landschaft, die an ihnen vorbei zieht und seufzt.
"Wie schön es sein muss, in einem kleinen Ort zu leben, wo jeder auf jeden Acht gibt", flüstert sie. "Wo man sein Auto und sein Haus nicht abschließen muss, weil niemand auf die Idee kommen würde, dich auszurauben. Wo man einfach nur lebt. Mit Freunden und Liebe."

Marten ist sich unsicher, wie er reagieren soll. Ann wirkt mit einem Mal unendlich traurig. Er drosselt die Geschwindigkeit ein wenig und greift nach ihrer linken Hand. Er schiebt sanft seine Finger zwischen Anns und legt die miteinander verbundenen Hände auf seinen Oberschenkel. Mehr braucht es für Ann gerade nicht, um von den aufkommenden düsteren Gedanken abgelenkt zu werden.

"Ich wusste, dass wir zu spät kommen!" Ann schmeißt mit voller Wucht die Tür des schwarzen Mercedes zu und stapft auf das Studio zu. Sie hat nur noch zehn Minuten Zeit, ehe die erste Kundin, eine Freundin von Lisa, kommt.

"Es tut mir leid", ruft Marten ihr hinterher. Verflogen ist bei beiden die innere Ausgeglichenheit und der Frieden.

"Oh, dir tut es leid!? Ja dann, ist das natürlich alles halb so wild", blafft sie ihn an. "Du musst ja jetzt auch nicht hoffen, dass du nicht stinkst, während du Nägel modellierst!"

"Im Bad steht ein...", versucht Marten zu Wort zu kommen, wird von Ann jedoch unterbrochen.

"Das ist ein verdammtes Männerdeo!" Sie lässt das Gitter hochfahren, froh, dass Adam noch nicht im Studio ist. So kann sie vielleicht noch eine schnelle Katzenwäsche vornehmen.

"Herr Gott, Annelie!", erklingt Jess Stimme hinter den beiden. "Du führst dich ja schrecklich auf. Du kannst was aus meinem Koffer nehmen."
Jess klopft leicht auf den Kofferraum, bis Marten einen kleinen Knopf auf der Funkfernbedienung drückt, woraufhin sich dieser automatisch öffnet. Jess zieht den Koffer heraus und betritt damit den mittlerweile geöffneten Shop. "Wow, es ist super geworden", staunt sie. Ann hatte ihr hin und wieder Bilder der Umgestaltung geschickt. Doch Fotos wurden dem Fortschritten nicht gerecht.

Ann sagt nichts, zieht ihre Freundin schweigend in den hinteren Bereich. Da das Bad zu eng für sie beide ist, gehen sie in die Küche und öffnen den Koffer. Sofort entdeckt Ann ein Kleid.
"Das ist doch meins", grinst sie ihre Freundin an.

"Falsch", korrigiert Jess lachend. "Ich habe es gekauft und du hattest es mir geklaut." Ann nimmt es an sich, beginnt Hose und Top auszuziehen. Gerade öffnet sie den BH, denn unter dem figurbetonten Neckholder-Kleid mit geradem Abschluss kann sie unmöglich einen tragen, als Marten zur Tür hereinkommt.

"Warum ziehst du dich aus?", fragt er, etwas zu laut und knallt die Küchentür zu. "Adam oder John hätten rein kommen können."

"Vielleicht drehst du dich mal um?", greift Jess ein. Doch auf Martens "nichts, was ich nicht schon gesehen hätte", bleibt ihr nur noch der Mund offen stehen. Schulterzuckend und grinsend verlässt sie den Raum. Ann ist sich sicher, dass sie spätestens heute Abend Rede und Antwort stehen muss.

Erwartungsvoll starrt Marten zu Ann, versucht dabei seinen bereits harten Schwanz zu ignorieren. Wie kommt sie auf die Idee, die Tür unverschlossen zu lassen, während sie sich hier auszieht?
"Meine Güte", runzelte Ann die Stirn und zieht sich das Kleid über den Kopf. Sie streicht über den Jersey-Stoff, bewundert von oben die Color-Blocking-Optik, die von Creme über Taupe zu Rosa verläuft. "Du machst hier eine ganz schöne Welle. Wenn du nicht reingekommen wärst, wäre ich viel schneller fertig gewesen." Ann schmeißt ihren BH in Jess Koffer, zieht die Kulturtasche heraus und sucht darin nach einem Deo.

"Ich mache eine Welle?", donnert Marten los, wieder viel zu laut wie Ann findet. "Hier hätte wer weiß wer reinkommen können und dann? Meinst du, jeder, der hier ein und aus geht muss deine Titten sehen? Und wenn sich ein Kunde hierher verirrt hätte? Und keiner weiter da gewesen wäre? Was, wenn der dich dann versucht hätte zu vögeln? Immer noch lustig?" Bedrohlich baut Marten sich vor Ann auf.

Schock ist in ihren Augen abzulesen. Jedoch weniger über die tatsächlichen Worte, als über die Art und Weise, wie er mit ihr redet. Sie wusste ja bereits, dass Marten sich manchmal nicht so ganz unter Kontrolle hat, doch das geht zu weit.
"Pass mal auf", zischt sie, aufs äußerste angespannt. "Du kannst mir glauben, ich habe schon ein paar unschöne Erfahrungen in meinem Leben gemacht und ich habe mich zu wehren gelernt. Und ich habe alles überstanden. Also bitte, tu uns beiden einen Gefallen, halte dich zurück und hör auf mich anzubrüllen."
Ann will ihn stehen lassen, dreht sich an der Tür jedoch noch einmal zu Marten um. "Und versuch nie wieder, mir mit solchen Aussagen Angst zu machen."

Die Tür knallt hinter Ann ins Schloss, zurück bleibt ein verblüffter Marten. Er wollte ihr eigentlich keine Angst machen. Er war nur überrascht, wie ungeniert Ann sich umgezogen hatte. Vermutlich ist ihm bei ihrem halbnackten Anblick tatsächlich eine Sicherung durchgeknallt. Wütend über sich selbst, holt Marten aus und schlägt mit der geballten Hand in den Küchenschrank, der ihm am nächsten ist. Mit einem lauten Rumps fällt der Schrank von der Wand und sein Inhalt zerschellt auf dem Boden.

Mit gefährlich düsterer Miene verlässt Marten die Küche, verabschiedet sich von niemandem. Stattdessen geht er geradewegs auf sein Auto zu, lässt den Motor aufheulen und rast davon.

Ann sitzt schon an ihrem Tisch, ist dabei, die alte Modellage ihrer Kundin mit dem Fräser bis auf eine kleine Restschicht zu entfernen. Sie will nicht darüber nachdenken, was Martens Worte in ihr ausgelöst haben.
Ja, zunächst hat sie sich verarscht und bevormundet gefühlt. Doch als sie an ihrem Tisch Platz genommen hatte, war der erste Ärger schon verflogen. Er macht sich Sorgen um sie, stellt Ann widerwillig fest. Er will nicht, dass irgendwer ihren Körper zu Gesicht bekommt. Wenngleich er offenbar keine Probleme hat, sie anzusehen.

"Was hast du getan, dass Marty Emotionen zeigt?", will Anns Kundin, Kathi, wissen. Von Lisa weiß Ann, dass Kathi mehr oder weniger von einem Fangirl zu einer Freundin geworden ist. Doch sicher wird Ann ihr keinen Grund zum Tratschen liefern.

"Er hat nur wenig geschlafen", erklärt sie deshalb ruhig und widmet sich wieder ihrer Arbeit.
Mit gekonnten Bewegungen trägt sie nacheinander Dehydrator und Primer auf.

"Bist du seine Neue Bettgefährtin?" Kathi will scheinbar dringend neuen Gossip hören.

"Nein, wir sind Freunde", gibt Ann ruhig zurück. Gleichzeitig gibt sie die Hoffnung auf, ihre Kundin könnte das Thema ruhen lassen.
Während der Primer lufttrocknet zeigt Kathi Ann ein Bild mit einem Designbeispiel. Der klassische Babyboomer wird dabei von floralen Nailwraps ergänzt. Ann zeigt der Frau ihr gegenüber verschiedene Varianten, schnell ist das Passende gefunden.

"Freunde, mh!?", nimmt Kathi das Thema wieder auf. "Marten hat keine weiblichen Freunde. Er hat Fick-Freundinnen. Aber mehr auch nicht."

"Gut zu wissen", sagt Ann und schaut hilfesuchend zum Sofa, auf dem Jess und John sitzen und Ann beobachten. Doch die zwei schweigen. Wie gern Ann in ihre Köpfe sehen würde. Warum eilt ihr niemand zur Hilfe?

"Also, wenn du mich fragst", nimmt Kathi den Faden wieder auf. "Marten hat was für dich übrig. Was in den letzten Jahren nicht ein einziges Mal vorkam. Ich würde ihm jedenfalls eine Beziehung von Herzen gönnen."

Ann hat eine Antwort auf der Zunge liegen. Allerdings ist es besser zu schweigen, wenn man eine Kundin sich gegenüber sitzen hat. Das Nagelstudio kann nur anfangen zu laufen, wenn man sie empfiehlt.
Also schweigt sie, lässt sich die Worte von Kathi durch den Kopf gehen. Vermutlich hätte jeder vorhin daraus geschlossen, dass sich ein Paar gestritten hatte. Doch sie waren kein Paar und werden es auch niemals sein. Das hatte Ann von Anfang an klar gemacht.

Nach Kathi hat Ann noch zwei weitere Kundinnen. Jess bleibt geduldig auf dem Sofa sitzen, trinkt Kaffee, blättert in Zeitungen und unterhält sich mit John. Ann fällt auf, dass er erstaunlich lange hier ist. Normal taucht John auf, wirbelt eine Menge Staub auf und verschwindet wieder. Allerdings ist seine Mitfahrgelegenheit ja einfach abgehauen.

"Ihr fliegt nach LA?", staunt Jess plötzlich laut. "Wann geht es los? Und für wie lange? Oh, ich will irgendwann auch mal dorthin."
Ann weiß um den großen Traum ihrer Freundin. Als junges Mädchen wollte Jess immer ein Studio in Miami haben. Irgendwann reichte ihr dann auch die Küste Deutschlands.

"Morgen früh fliegen wir", erklärt John. "Keine Ahnung wie lange, ich kümmere mich nicht um die Flüge. Dafür ist Lisa zuständig, auch wenn sie meistens nicht mitkommt. Dieses Mal wird es eh ruhiger, weil Marten nicht fliegt."

Ann überlegt, während sie die letzten Feinheiten an der Modellage ihrer Kundin vollendet, warum Marten dieses Mal wohl nicht fliegt. Überhaupt ist ihr die ganze LA Sache völlig neu. Vermutlich, weil sie eben doch nur eine Geschäftspartnerin ist.
Immer wieder schweifen ihre Gedanken ab. Marten war so sauer vorhin, doch beim besten Willen kann Ann sich nicht erklären, was der Grund dafür war. Die Tatsache, dass sie sich in einem geschützten Raum umgezogen hat, war es sicher nicht.

Ann beendet ihre Arbeit, kassiert ihre Kundin ab und bringt sie nach draußen. Seufzend setzt sie sich auf die Treppe und zündet sich eine Zigarette an. Der Himmel über ihr zieht sich zu, als wäre auch er sauer auf Ann.
Grübelnd raucht sie ihre Zigarette, froh, dass sie heute nicht allein in ihrer Wohnung sein wird.

Drei Kundinnen später will Ann Feierabend machen. In ihrem Kalender ist keine Kundin weiter vermerkt und sie will gar nicht damit anfangen, auch spontane Damen anzunehmen. Sie möchte, dass ihr Laden eine Adresse mit Termin ist.
"Ich würde ja wirklich gern los", sagt Jess. "Aber Marten hat noch zwei Taschen von mir in seinem Kofferraum."

"Na super", seufzt Ann und lässt sich erneut an diesem Tag auf der Treppe nieder. "Wer weiß, ob er nochmal auftaucht, bei der Laune, die er vorhin hatte."
Ann drückt sich eine Hand gegen die Stirn. Ganz leicht machen sich Kopfschmerzen bemerkbar. Die vielen Emotionen der letzten Tage und Wochen werden irgendwann ihren Tribut zollen.

"Ich ruf ihn an", bietet John an, doch Ann schüttelt den Kopf.

"Meine Freundin, meine Aufgabe", erklärt sie, steht auf und geht in die Küche, in der es zwischen den beiden früher am Tag geknallt hat. Jess war so freundlich, die Scherben wegzufegen.

"Hallo?", erklingt eine weibliche Stimme am anderen Ende der Leitung. Ann will vor Schreck schon wieder auflegen, als sie Martens Stimme im Hintergrund hört.
"Du sollst nicht an mein scheiß Telefon gehen!"

"Red nicht so mit deiner Mutter!", donnert es ein wenig leiser.

"Marten?" Ann flüstert fast, unsicher, ob sie das alles überhaupt was angeht, was sie im Hintergrund hört.

"Hallo?" Seine Stimme jagt ihr einen Schauer über den Rücken. Nie zuvor hatte der bloße Klang einer Stimme eine solche Wirkung auf Ann.

"Ich bins, Ann", ergreift sie endlich wieder das Wort. "Ich will dich nicht stören, aber in deinem Auto sind noch Taschen von Jess."

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