12
"Das hättest du wohl gern", erwidert Ann grinsend, lehnt sie auf der Couch zurück und kuschelt sich mit dem kleinen Kissen, das sie noch immer vor den Bauch drückt, ein. Sie ist gespannt, welche Serie Marten aussuchen wird, schließlich hat er sich in ihrem Serienabend eingemischt. Vermutlich wäre es besser gewesen, doch nach Hause zu fahren und eine DVD von den Gilmore Girls einzugelegen und sich von Stars Hollow und seinen Bewohnern einlullen zulassen. Doch die Neugier und Martens unverwechselbare Art, kein Nein zu akzeptieren, lässt sie ihn nun beobachten. Marten scrollt durch die Programme, liegt dabei lässig leicht auf die linke Seite gestützt , das recht Bein angewinkelt. Er schafft es sogar, in dieser Haltung aus seiner Flasche zu trinken, ohne etwas zu verkleckern. Eine wahrhaftige Meisterleistung.
"Was guckst du gern?", will Marten leise, ja fast flüsternd wissen. Mittlerweile hat er von Amazon zu Netflix gewechselt, jedoch scheint ihn nichts wirklich begeistern zu können.
"Keine Ahnung, ich gucke meist Gilmore Girls oder Sex and the City. Oh, und Vampire Diaries und die Ableger davon schaue ich auch gern." Marten guckt sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. Ist das ihr ernst? Schaut sie nur Weiber-Serien? Ihm soll es recht sein, eigentlich will er nur hier sitzen, sein Bier in Gesellschaft trinken und dann irgendwann einfach einschlafen. Warum er sich ausgerechnet Ann als Gesellschaft ausgesucht hat, weiß er nicht. Eigentlich hatte er sich doch fest vorgenommen, sich von ihr wieder ein wenig zu entfernen. Sie soll nicht glauben, er könnte irgendein Interesse an ihr haben. Denn das hat er natürlich ganz und gar nicht. Es ist ja nicht so, dass er mehrfach am Tag an sie denken muss, dass er sie hin und wieder gern anrufen würde ... abends, wenn er hier in seiner großen Wohnung sitzt und sich fragt, was sie so macht. Nein, er will sie nicht, weder in seinem Bett, noch in seinem Privatleben. Und Ann würde gut daran tun, wenn sie ihn ebenso wenig in ihrem Leben haben will. Oder in ihrem Bett.
Er tut niemandem gut, das beweist allein der Brief, den er Tag ein Tag aus mit sich herumträgt. Es ist eine Mahnmal daran, dass er eine Chance hatte und es gründlich verkackt hat. Er hat sich verhalten wie ein Arsch, war ein Monster, wenn die Dunkelheit die Oberhand gewonnen hatte.
Marten versucht gar nicht zu leugnen, was er alles falsch gemacht hat und was ihn an den Punkt gebracht hat.
Man kann nicht sagen, dass er aus schlechten Verhältnissen kommen würde. Seine Eltern lieben ihn vom ganzen Herzen, haben ihn immer in allem unterstützt, was auch sein Plan war. Noch heute stehen sie hinter ihm, besuchen ihn im Gefängnis, wenn er es mal wieder übertrieben hat. Sie essen mindestens einmal im Monat miteinander, meist an einem Sonntag, wenn er ausgeschlafen hat. Dann fährt er rüber zu ihnen und genießt das Essen, was seine Mutter zubereitet hat.
Sie sind fast eine Bilderbuchfamilie. Wenn er sich nur besser unter Kontrolle hätte.
"Hier, guck, worauf auch immer du Lust hast." Marten gibt ihr die Fernbedienung. Soll sie doch ihre Mädchenserie gucken, wenn ihr danach ist. Er hat heute keine Lust, den Macho raushängen zu lassen. Sein Gesicht tut weh und, obwohl er Dampf abgelassen hat, sitzt der Grund, weshalb er sich überhaupt erst mit Ron getroffen hat, nun auf seiner Couch. Mit anderen Worten: Nun ist es auch egal.
"Oh komm schon!" Marten setzt sich auf der Couch auf. Auf dem gläsernen Tisch vor ihm stehen nun nicht mehr nur zwei Bierflaschen, sondern fünf. Dabei haben sie erst drei Folgen der Gilmore Girls gesehen und Ann hat noch immer etwas in ihrer ersten. "Der Typ ist mega scheiße und er ist verheiratet, Gott weiß wieso! Und sie lässt sich von ihm vögeln?! Klarer Fall von Bitch! Was findest du nur an der Serie? Die reden viel zu schnell und dann noch dieser zottelige Typ."
"Du warst auch mal zottelig", wirft Ann ein. Jo hat ihr Bilder gezeigt, aus einer Zeit, in der Marten dachte, ein Vollbart würde ihm stehen. Ann hat sich fast an ihrem Kaffee verschluckt, als sie es gesehen hat. Nein, ohne den ollen Bart sieht er wesentlich attraktiver aus. Nicht, dass sie dazu eine Meinung hätte.
"Ich sah dabei aber cool aus", entgegnet er lachend.
"Denkst du vielleicht", räumt Ann ein.
"Sei jetzt bloß still!" Marten nimmt ein Kissen und wirft es Ann mitten ins Gesicht. "Im Ernst, was gefällt dir an der Serie?"
"Hmm", überlegt Ann. "Ich denke, das Verhältnis von Mutter und Tochter. Ich stehe ganz anders zu meiner. Sie würde nie mit mir shoppen gehen oder gar einen ganzen Tag mit mir verbringen." Ann verfällt in Grübeleien. Vor einigen Tagen, kurz nachdem Estelle bei ihr im Laden stand, hat sie überlegt, ihre Mutter anzurufen, ihr vielleicht sogar von den Entwicklungen zu berichten. Doch sie konnte nicht über ihren Schatten springen. Niemand kann ihr erzählen, dass die Frau des Hauses nicht weiß, was hinter ihren Türen vor sich geht.
"Hey." Marten stupst sie leicht an, ist ein wenig zu ihr gerückt. Sanft dreht er ihren Kopf, hält ihr Kinn dabei sacht fest. "Ich wollte dir die Serie nicht mies machen. Schau weiter, ich brauch noch ein Bier."
"Schon gut, ich mach mich jetzt auf den Weg nach Hause." Wenn Ann in dieser Stimmung ist, tun alle gut daran, sie allein zu lassen. Die Gedanken an ihre Familie können sie so weit runter ziehen, dass sie die Nacht unter Tränen verbringt. Sie darf das nicht zu lassen, zumal Jess nicht mal ansatzweise in der Nähe ist, um ihr aus dem drohenden Tief zu helfen.
"Kommt nicht in Frage", zerstört Marten ihre Pläne. "Es ist schon dunkel, ich kann dich nicht mehr fahren und du auch nicht. Ich kann dir die Couch ausziehen, falls ich je wieder hoch komme." Ihr betrunkener, oder eher angetrunkener Gastgeber, denn Ann ist sich sicher, dass Marten bei weitem mehr verträgt als fünf Bier, ist nicht von ihr abgerückt. Noch immer ist seine Hand an Anns Kinn, sein Blick starr auf ihre Augen gerichtet. Schlagartig erinnert sie sich an ihren Traum. Die Luft um sie herum knistert, vermutlich nur in ihrem Kopf, doch sie spürt es ganz genau. Soll sie? Soll sie nicht? Wie gern würde sie sich die wenigen Zentimeter vorbeugen und ihn küssen. Nur, um zu sehen, wie es wäre. Ob er sich anfühlt, wie in ihrem Traum?
Ann schiebt all ihre Gedanken an ihre Mutter, an alles, was passiert ist, beiseite, schließt die Augen und küsst Marten.
Sie merkt, dass er völlig perplex ist, offensichtlich hat er nicht damit gerechnet, dass sie diesen Schritt wagen würde. Doch die Überraschung währt nur kurz, denn wenige Sekunden später, nimmt Marten seine Hand von ihrem Kinn, greift mit beiden Händen unter Anns Hintern und hebt sie, als wäre sie leicht wie eine Feder, auf seinen Schoss. Der Kuss ist drängend, als hätten beide es sich schon seit einer Ewigkeit verboten. Doch nun, da Ann den ersten Schritt gewagt hat, kann sie nichts mehr aufhalten.
Während sie sich küssen, dreht Marten sie beide irgendwann, so dass sie auf der Couch liegen, er über ihr, doch der Kuss wird nicht unterbrochen.
Ann hatte schon ein paar Freunde, doch keiner konnte so voller Gefühl küssen. Marten weiß ganz genau, wie er seine Zunge einsetzen, wann er leicht in ihre Lippe zwicken muss, um sie schier um den Verstand zu bringen.
Marten muss schwer an sich halten, sich nicht zwischen Anns Beine zu drängen und seinen fast platzenden Schritt an ihr zu reiben, nur, um sich ein wenig Erleichterung zu holen. Er fühlt sich, wie in einer anderen Welt, als würde Ann genau hierher zu ihm gehören. Sie hat den ersten Schritt gemacht, er wäre nie weiter gegangen, als hin und wieder ihre Hand zu nehmen.
Denn er kennt sich, er weiß, was er einer Frau antun kann, wenn sie sich zu sehr auf ihn einlässt. Er kann Ann gut leiden, würde ihr nie absichtlich weh tun. Nicht absichtlich, ja, trotzdem würde es dazu kommen. Das beste Beispiel dafür, wie unweigerlich es immer darauf hinausläuft, dass er jemanden verletzt, steckt auf Papier geschrieben in seinem Portemonnaie.
Marten löst sich schlagartig von Ann. Der Brief. Wie konnte er ihn vergessen und sich stattdessen gehen lassen? Er arbeitet mit Ann, sollte danach die Prioritäten setzen. Mit ihr eine Affäre zu starten kann nicht gut enden.
"Ich ... sollte ins Bett gehen", stottert er, steht auf und verlässt das Wohnzimmer.
Ein wenig perplext bleibt Ann zurück. Warum hat Marten den Kuss und die offensichtliche Zuneigung der beiden zueinander unterbrochen? Soll sie nun doch lieber gehen?
Sie will nicht wie eine Verrückte wirken, deshalb räumt sie ein wenig auf, schaltet den Fernseher ab und zieht sich im Flur die Schuhe an.
"Was machst du da?" Mit einem spitzen Schrei wendet sich Ann ihrem Gastgeber zu.
"Scheiße, erschreck mich doch nicht so!", ruft sie aus. "Was soll ich schon machen? Ich ziehe meine Schuhe an. Blöde Frage."
"Ich hab doch vorhin schon gesagt, dass du hier schlafen kannst." Marten stößt sich vom Türrahmen, an dem er lässig gelehnt hat, ab und geht auf Ann zu. "Ernsthaft, du solltest jetzt nicht mehr allein unterwegs sein." Marten stoppt zwei Schritte vor Ann, seine Miene ist grimmig.
Mit diesem Ausdruck im Gesicht hat Ann ihn schon einmal gesehen. Sie hatte mit Jo auf der Treppe zum Studio gesessen. John rief ihm irgendwas hinterher und Marten donnerte hinter ihr drauf los. Am gleichen Tag hat er ihr geholfen, ihre Klamotten aus dem Hotel zu holen.
Offenbar wechseln seine Launen alle paar Minuten. Eben noch der heiße Küsser, jetzt der grimmige Badboy. Auf so ein Theater hat Ann keine Lust.
"Danke, aber ich ruf mir ein Taxi", sagt sie, dreht sich um und will die Tür öffnen. Doch Marten hält sie, mit einem lauten Knall, als seine Hand auf das Holz trifft, zu.
"Es ist spät." Mit zusammengebissenen Zähnen fixiert er den Hinterkopf von Ann. Sie soll einfach nachgeben, denkt er, dann ist alles halb so wild. Doch da hat er die Rechnung ohne seine Geschäftspartnerin gemacht. Sie dreht sich, nun ihrerseits mit grimmiger Miene zu ihm herum, verschränkt die Arme vor der Brust. Sie hat ihm noch nie Paroli geboten. Könnte interessant werden, denkt Marten, verkneift sich aber ein Grinsen.
"Und du bestimmst also, wann ich wohin gehe?", fragt sie beißend. "Sorry, Marten, aber such dir jemand anderen, den du herum kommandieren kannst. Ich bin müde, es ist spät und ich will in meine vier Wände. Wenn du damit ein Problem hast, kannst du es behalten. Immerhin ist es deins. Und jetzt lass mich gehen."
"Nein."
"Was?" Ann muss hart mit sich kämpfen, nicht laut zu werden. Wer schreit ist im Unrecht und sie will verdammt sein, wenn sie vor Marten einfach so klein beigeben oder ihm gar Futter, in Form von Geschrei, liefern würde.
"Ich sagte: nein", wiederholt Marten zischend. "Du gehst nicht."
"Wann habe ich dich um Erlaubnis gebeten?", entfährt es Ann nun doch ungehalten. "Scheiße, Marten, was soll der Mist? Ich lasse mich hier doch nicht von dir festhalten! Du wolltest schlafen gehen und genau das werde ich auch - bei mir zu Hause." Sie versucht ihren Gegenüber beiseite zu schieben, doch der Zwei-Meter Hüne bewegt sich keinen Millimeter. "Marten, lass mich gehen." Ann ist den Tränen nah, in ihrem Kopf blitzen Bilder auf. Bilder, die sie dachte, schon vergessen zu haben. Robert, Estelle, ihre Eltern ... alle kommen in den Erinnerungen vor, doch an keinen der vier will sie jetzt denken. Ihr Puls beginnt zu rasen und ihr Magen fährt Achterbahn.
Ann schließt die Augen, versucht noch immer gegen die Tränen anzukämpfen, die diese Situation heraufbeschwört. Sie drückt und drückt gegen Martens Brust, merkt nicht, wie sie beginnt ihn zu schlagen. Erst, als Marten sie an den Handgelenken festhält, öffnet sie wieder die Augen.
"Lass mich gehen", wispert sie mit tränenerstickter Stimme. "Bitte lass mich gehen."
Mit vor Schock geweiteten Augen schaut Marten auf die offensichtlich verängstigte Ann. Er hat damit gerechnet, dass sie nicht ohne weiteres einwilligt, hier zu bleiben. Doch mit einem derartigen Zusammenbruch hat er nicht gerechnet. Niemals hätte er so etwas absichtlich provoziert. Er ist zwar ein Arsch, aber kein so großer.
"Ann", flüstert er. Weder in seiner Stimme, noch in seiner Mimik ist noch etwas von der Verärgerung zu spüren. Die Reaktion der jungen Frau hat ihm allen Wind aus den Segeln genommen. "Ich will dich nicht hier festhalten. Ich dachte nur, dass es nachts von hier bis zu dir nicht sicher draußen ist." Ann atmet schwer, ist kurz vorm Hyperventilieren. Sie will raus aus der Wohnung, weg von Marten und vor den Gedanken flüchten, die sie nun heimsuchen. Sie will an die Luft und ihre beste Freundin anrufen, damit sie sich vollends beruhigen kann.
"Jess", japst Ann und versucht krampfhaft ihr Handy aus der Tasche zu fischen. "Wo ist mein Handy?! Verdammte Scheiße!"
Marten zieht sein eigenes aus der Hosentasche und reicht es Ann. Anstatt es zu nehmen starrt sie darauf, als wäre es eine noch nie dagewesene Erfindung. "Nimm meins", erklärt er. Marten entsperrt es, öffnet die Tasten des Telefons. Endlich nimmt Ann es ihm ab, beendet die Suche nach ihrem eigenen und wählt hastig die Nummer ihrer besten Freundin.
Noch während sie wählt, noch immer weinend, schiebt Marten sie zurück zu seiner Couch, drückt sie auf das Polster.
"Jess, ich bins", flüstert sie, als offenbar ihre Freundin endlich ran gegangen ist. Marten holt leise eine Flasche Wasser aus der Küche, stellt sie vor Ann und verlässt das Wohnzimmer.
Diese Art von Ausbruch hat er noch nie bei einer Frau gesehen. So viel Leid war in Anns Augen zu sehen, das er selbst nur noch schwer atmen konnte.
Um ihr, trotz fehlender Wohnzimmertür, Privatsphäre zu geben, entfernt er sich so weit wie möglich von Ann. Doch vor der Wohnungstür macht er halt, setzt sich davor. Unter keinen Umstände lässt er es zu, dass Ann in dieser Verfassung allein draußen herumirrt.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top