10
Seit zwanzig Minuten wartet der schwarze Mercedes vor dem Parkplatz. Marten und Jo stehen an die Motorhaube gelehnt und rauchen eine Zigarette.
"Und sie hat nicht gesagt, was los war?", fragt Jo zum dritten Mal.
"Ich sag doch, sie hat ihre Karten designed, wurde immer stiller und plötzlich wirkte es, als hätte sie Angst vor mir." Marten hat seinem Freund nur das nötigste erzählt, alles, was Anns Familie betrifft, weg gelassen. "Dann habe ich sie umarmt und wenige Minuten später ist sie abgehauen. Sie sagte, sie müsse sich bei Zeiten fertig machen, wenn wir uns nicht für sie schämen wollen."
"Das war gestern", bemerkt Jo, als ob Marten das nicht selbst sehr genau wüsste.
Der Tag war mehr als merkwürdig verlaufen. Erst die Geschichte über die reiche Adelsfamilie, dann die Gedanken daran, wie es wohl ist, Ann zu küssen. Und jetzt warten sie hier, um mit der jungen Frau nach Hamburg zu fahren. Marten fragt sich nicht zum ersten Mal, warum er dem überhaupt zugestimmt hat. Jemand wie Ann gehört sicher nicht auf den Kiez und er wird einen Teufel tun und sie auch nur eine Sekunde aus den Augen lassen.
"Heilige Mutter", entfährt es Jo, woraufhin auch er selbst wieder aufblickt.
Ann kommt auf die beiden zu. Sie hat sich an Martens Rat, kein kurzes Kleid zu tragen, gehalten, was ihr Outfit nicht weniger heiß macht.
Die schwarze enge Sportleggings, dazu ein verboten kurzes Top, kombiniert mit weißen Sneakern und einer xxl Strickjacke lassen Ann sportlich, sexy und zugleich unerreichbar wirken. Ihre Haare hat sie zum Teil in einen hohen Zopf gebunden, alle anderen zu großen Wellen gefönt. Sie trägt die Haare öfter so, Marten ist schon das ein oder andere Mal aufgefallen, wie ausgesprochen gut ihr das steht. So heiß Ann auch aussehen mag, in diesem Augenblick würde Marten sie am liebsten wieder in die Wohnung schicken. Jeder Typ wird sich nach ihr umdrehen. Und jedem wird er zu verstehen geben müssen, dass sie kein Freiwild ist.
"Entschuldigt bitte, dass ihr warten musstet", ergreift sie das Wort, sobald sie die Männer erreicht hat.
"Kein Problem, mit Marten ist man eh nie pünktlich", lacht Jo. "Du siehst heiß aus."
"Lass das nicht Lisa hören", erwidert Ann ebenfalls lachend. Allein bei diesem Kommentar von Jo, seinem Freund, hat sich Martens Blick bereits verdunkelt. Was denkt er eigentlich? Soll er seiner Verlobung schöne Worte machen.
"Wo ist sie überhaupt?"
Jo zuckt die Schultern, erklärt, dass Lisa keine Lust hatte. Für ihn scheint es kein Problem zu sein. Lisa hat Ann erzählt, dass sie nur ungern mit den Jungs ausgeht, daher überrascht es sie nicht wirklich, dass Jos Freundin einen Rückzieher gemacht hat.
Ann steigt hinten ein, schnallt sich an und zieht die Zigaretten aus ihrer Tasche. Sie weiß, dass es Marten nicht stört, er selbst hat ihr mehr als eine Zigarette in dem Wagen angemacht.
Die Fahrt nach Hamburg verläuft ruhig, jeder hängt seinen Gedanken nach. Zumindest versucht Ann an irgendetwas zu denken, doch durch die laute Musik im Wagen ist das nur schwer möglich. Jo rappt irgendeinen Song mit, den Ann noch nie gehört hat. Sie vermutet, dass es sich um einen Song von ihm selbst handelt. Er kennt den Text viel zu gut.
In Hamburg angekommen parkt Marten seinen Wagen in einer privaten Tiefgarage. Auf Anns fragenden Blick hin erklären die Männer, dass in diesem Haus die Wohnung sei, in der sie an Abenden wie diesem übernachten.
Sie schlendern gemütlich die Straße in Richtung Reeperbahn entlang. Mit jedem Meter, den sie ihr näher kommen, schließt Marten zu Ann auf, die neben Jo hergegangen ist. Als ihnen die ersten betrunkenen Jugendlichen entgegen kommen, greift Marten nach ihrer Hand, mehr aus Reflex, denn er will sie in dem Gewimmel nicht verlieren und suchen müssen.
Jo geht voran, zeigt Ann damit den Weg. Sie wundert sich ein wenig, als Marten ohne Kommentar ihre Hand nimmt, doch bisher hat sie die ihre ihm nicht entzogen. Sein Körper strahlt pure Anspannung aus. Fast könnte man meinen, er würde sich hier sehr unwohl fühlen. Doch auch das lässt Ann unkommentiert. Sie will den Abend genießen, da helfen keine Fragen zu Martens Laune.
Sie gehen einige Meter, kommen nur langsam voran, da Jo hier und da aufgehalten wird. Jetzt kann Ann besser nachempfinden, warum Lisa nicht mitkommen wollte. Auch Marten wird von einigen jungen Erwachsenen, kaum älter als Ann selbst, auf ein Foto angesprochen. Stets nickt er, entfernt sich zwei Schritte von Ann, lässt aber ihre Hand nicht los. Er sorgt lediglich dafür, dass sie nicht mit abgelichtet wird.
Vermutlich macht er es nicht wissentlich, doch Ann ist ihm dankbar für die Geste. Nicht auszudenken, wenn Robert, Estelle oder gar ihre Eltern ein Bild von ihr an der Seite dieses Hünen sehen würden. Wobei, ganz missfallen kann Ann der Gedanke dann doch nicht.
Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichen sie einen Club. Die Musik dröhnt laute nach draußen. Der Dj spielt überwiegend deutsche Musik, von Rap bis Schlager ist alles dabei. Niemand stört sich an der Mischung, alle haben Spaß, tanzen, trinken und ...
"Heilige Mutter Gottes", entfährt es Ann, als sie im Augenwinkel wahrnimmt, wie ein Pärchen im Eingangsbereich mehr als nur knutscht. Reflexartig lehnt sie sich sich Martens Schulter und versucht die Bilder wieder aus dem Kopf zu bekommen. Marten zieht sie zurück zum Eingang, klopft dem Türsteher auf die Schulter.
"Rick, da drin geht's zu wie in einem billigen Puff", sagt er. "Kümmere dich darum, bevor Ron das mitbekommt."
Rick nickt nur und geht an den beiden vorbei. Marten zieht Ann wieder mit sich, wirft einen suchenden Blick durch den Club, bis er scheinbar gefunden hat, wonach er sucht. Er zieht seine Geschägtspartnerin mit sich, kurz bevor sie den Tisch erreichen, lässt er, zum ersten Mal seit sie den Kiez erreicht haben, ihre Hand los.
Ann hat das Gefühl, ihre eigene würde zu einem Eisklotz werden. Martens war so warm, rau und gab ihr das Gefühl von Sicherheit, dass Ann sich nun fast verloren fühlt.
Am Tisch sitzt bereits Jo, der sich angeregt mit John unterhält. Neben ihm sitzt ein Mann, der sich als Alex vorstellt. Er ist Ann auf Anhieb unsympathisch, ohne, dass sie den Grund dafür ausmachen kann. Sein Blick ist verklärt, sein Grinsen dreckig. Es wirkt als wäre er auf dem Trip seines Lebens. Um solche Typen hat sie zu Hause immer einen großen Bogen gemacht.
Ann rutsch auf die Rundbank neben Jo, wird von Marten auf ihrer anderen Seite eingekeilt. Sein Arm liegt auf der Lehne, würde sie ein paar Zentimeter nach hinten rutschen, würden seine Finger ihren Rücken berühren. Jo schiebt ihr sein Bier rüber, doch Ann schüttelt den Kopf.
"Ich trinke kein Bier", ruft sie ihm über die Musik zu. Dabei stimmt es nicht mal. Sie trinkt schon Bier, nur will sie heute etwas anderes. Jo schüttelt grinsend den Kopf, nimmt die Flasche wieder an sich. Marten winkt eine spärlich bekleidete Kellnerin an den Tisch, bestellt sich ebenfalls ein Bier. "Für mich bitte einen Amaretto-Gingerale", bestellt Ann. Marten hält sich das Ohr zu, denn Ann hat direkt daneben laut gerufen. Doch die Kellnerin schaut sie nur fragend an. Marten gibt die Bestellung weiter, lehnt sich im Anschluss wieder auf der Bank zurück, minimal näher an Ann heran, was ihr durchaus auffällt.
Die Runde unterhält sich nett, alle trinken mehr oder weniger viel. Marten hält sich als einziger zurück, er will einen klaren Kopf behalten. Es macht ihn nervös, dass Ann einen Cocktail nach dem anderen trinkt und mittlerweile nicht mehr von der Tanzfläche zu holen ist.
Dabei ist es sehr nett anzusehen, wie sie sich im Takt bewegt, sich dem Rhythmus hingibt. Marten kann kaum die Augen von ihr wenden. Um sie zur Not schützen zu können, wie er sich selbst immer wieder sagt.
"Warum tanzt du nicht mit ihr?" Jo ist an Marten herangerückt, deutet mit einem Kopfnicken zu Ann.
"Wieso sollte ich?"
"Marten, komm schon", seufzt Jo. "Du schmachtest sie an, seit du sie das erste Mal gesehen hast. Gönn dir doch ein bisschen Spaß und vielleicht sogar ein wenig Glück. Ich könnte mir vorstellen, dass sie nicht unbedingt abgeneigt ist." Könnte Jo Recht haben? Wäre Ann bereit für ein wenig Spaß? Will er das überhaupt? Spaß? Die wenigsten Frauen geben sich damit zufrieden. Sie stellen sich nach einer gemeinsamen Nacht vor, dass man sich fest bindet. Bleibt man morgens zum Frühstück, denken sie, man würde sie heiraten.
Will er das? Nein, ganz sicher nicht. Und schon gar nicht will er das gute Verhältnis zu Ann zerstören, indem er mit ihr eine Nummer schiebt und sie dann noch jeden Tag im Studio sehen muss.
Als Marten wieder zur Tanzfläche blickt, tanzt Ann gerade mit einem Typen, der definitiv nicht zu ihrer Gruppe gehört. Er schmiegt sich eng an sie, doch offenbar stört es sie nicht weiter, was vermutlich an dem vielen Alkohol liegt. Auch Jo hat es bemerkt, macht Marten deutlich, dass er aufstehen und die Sache klären will.
"Ich mach das schon", sagt Marten, der als einziger noch geradeaus gehen kann. Langsam erhebt er sich, lässt Ann und den gelackten Typen nicht aus den Augen. Während er denkt, er würde den beiden näher kommen, entfernen sie sich immer weiter. Direkt auf die Toiletten zu. Marten beschleunigt seine Schritte, will Ann nicht gänzlich aus den Augen verlieren. Als er den langen Gang, der zum Lager und den Toiletten führt erreicht, sieht er vor lauter knutschenden Paaren nichts mehr. Wo ist Ann?
Noch bevor er sie wieder entdecken kann, hört er schon ihre Stimme.
"Was glaubst du denn, was ich hier auf dem Gang mit dir mache?", zickt sie. "Ich bin keine 5 Euro-Nutte. Und jetzt lass mich los."
"Hab dich nicht so, ich geb dir 10 Euro, wenn du jetzt die Klappe hältst", erklingt eine männliche Stimme. Endlich erblickt Marten seine Geschäftspartnerin. Sie wird von dem Typen an die Wand gedrückt, kann sich nicht bewegen. Noch bevor der gelackte Typ sich wieder zu Ann hinunterbeugen kann, zieht Marten ihn an seinem Kragen nach hinten. "Verpiss dich, Mann, du kannst sie später haben", sagt er Typ gereizt. Der Satz gibt Marten den Rest. Er holt aus und schmettert dem Kerl seine Faust ins Gesicht. Noch während der Kopf beiseite fliegt, spritzt Blut aus der Nase, landet auf Anns Shirt. Angewidert sieht sie an sich herab. Für sie wäre die Angelegenheit damit geklärt, doch Marten holt immer und immer wieder aus. Bevor der fünfte Treffer sitzt, hängt sie sich an seinen Arm.
"Lass gut sein, er hat es verstanden", sagt sie leise, fixiert Martens Gesicht, bis er sie anschaut. Sie starren sich an, Marten mit wutverzerrter Miene, Ann mit ... Angst in den Augen? Sie hat so etwas noch nie erlebt, hat immer auf sich selbst aufpassen können. Offenbar ist die Clubkultur in Hamburg nicht mit der Berliner Szene zu vergleichen.
"Du musst raus", erklingt Jos Stimme. "Vorne hat jemand die Bullen gerufen. Wir sehen uns nachher in der Wohnung." Marten nickt, nimmt Ann bei der Hand und geht mit ihr durch das Lager und öffnet die Tür der Lieferanten. Er wird ihr später sicher erklären müssen, warum er sich in dem Laden so gut auskennt. Doch jetzt ist es ihm nur wichtig, sie nicht bei seinen besoffenen Freunden zu lassen. Wenn er nicht mehr da ist, wird keiner von den anderen in der Lage sein, sie zu beschützen.
Ohne ein Wort zu ihr zu sagen zieht Marten sie mit sich.
Ann lässt es sich eine Weile gefallen, fragt sich jedoch nach und nach mehr, was er sich eigentlich herausnimmt.
"Okay, stopp", sagt Ann laut, als sie vor der Tiefgarage stehen, in der Marten seinen Mercedes geparkt hat. Die angenehm kühle Luft und der Alkohol in ihren Venen lassen ihren Puls höher schlagen. "Warum laufe ich die ganze Zeit hinter dir her, als wäre ich dein Schoßhund?"
"Weil die Polizei kam", sagt Marten, sichtlich um Fassung bemüht, noch immer kocht er vor Wut. "Der Typ hätte mich angezeigt und ..."
"Ich hätte es aufklären können", unterbricht sie ihn, doch Marten lacht laut auf.
"Girly, ich bin hier bekannt wie ein bunter Hund", ruft er, lässt Ann endlich los und dreht sich im Kreis. "Niemand, nicht ein einziger, von diesen verdammten Bullen, hätte dir auch nur ein Wort geglaubt. Zum Teufel, was hast du dir bloß gedacht? Man geht nicht mit irgendeinem Kerl mit, um sich auf einem verfluchten Gang ficken zu lassen!"
Ann blickt ihrem Gegenüber lange in die Augen. Sie war vom ersten Augenblick fasziniert von ihnen. Sie sind strahlend hell, leuchten, wenn er über ein Thema spricht, das ihn begeistert. Doch jetzt sind sie kalt, angsteinflößend. Seine Tattoos bis unters Kinn umgeben ihn mit einer Dunkelheit, die Ann noch nie zuvor gesehen hat. Vor einiger Zeit war ihr schon klar, dass sie sich zu Hause von Typen wie Marten fern gehalten hätte. Doch sie hat ihn, Jo und John als nette Männer kennengelernt. Sie haben einen schrägen Humor, klar, aber das macht die drei nicht weniger liebenswert.
"Entschuldige", sagt sie schließlich, hat innerlich eine Entscheidung gefällt. Sie kommt aus "Gutem" Haus, ist "wohlbehütet" aufgewachsen. Und doch war sie nie wirklich glücklich.
Seit Ann jedoch in Itzehoe ist, ihren Laden mehr und mehr in ihr persönliches Paradies verwandelt, aus einem Traum Realität werden lässt, desto glücklicher ist sie. Marten und seine Freunde waren daran nicht unbeteiligt. Besonders Jo hat sich vom ersten Augenblick um sie gekümmert. Als wäre er ein Bruder, kein Fremder, der mit einer Flasche Bier auf einer Treppe gesessen hat. "Ich habe die Situation falsch eingeschätzt. Ich entschuldige mich dafür, dass du wegen mir fast Ärger bekommen hättest. Aber nenn mich bitte nicht mehr Girly."
Ungläubig starrt Marten sie an. Wieder überrascht sie ihn mit ihrer Reaktion. Eben noch hat er fest damit gerechnet, dass Ann eine Szene machen würde. Ihn anschreien würde, warum er sie mitgeschleift hat und was er sich erlaubt, so mit ihr zu reden. Doch nichts. Sie steht nur vor ihm, starrt ihn an und entschuldigt sich auch noch.
"Ich kann nichts versprechen", grinst er, nimmt wieder ihre Hand und gemeinsam betreten sie das Wohngebäude.
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