6 | Familientreffen

„Dann lass uns jetzt den Abend genießen, ja?"

Lisha warf mir einen Blick zu, der mir zeigte, dass sie noch wütend war und nickte nur knapp, bevor sie klingelte. Ich wusste, mehr konnte ich nicht verlangen. Sie brauchte einfach eine Weile, sich an die neue Situation zu gewöhnen. Zumindest hoffte ich das.

Die Tür ging auf und Joshua, Lishas Bruder breitete mit einem Strahlen die Arme aus. „Lish! Linn! Die LiLis! Wie schön, dass ihr da seid!" Lisha schnaubte leise und drückte sich an ihm vorbei, was mich ihm einen entschuldigenden Blick zuwerfen ließ. „Nicht böse sein. Wir haben uns...uhm...ein wenig gestritten." Joshua, der Lisha nachgesehen hatte, wandte den Kopf zu mir, der Ausdruck in seinem Gesicht ernst.

Dann machte er eine einladende Geste und lächelte mich verschwörerisch an. „Das bekommen wir schon wieder hin. Sie ist aufbrausend, aber zum Glück nie nachtragend." Ich musste lächeln, da es stimmte. Lisha war impulsiv und heftig in ihrem Zorn, doch wenn sich ihr Ärger verzog, wurde er auch nicht wieder und wieder hervorgeholt.

Ich trat ein, ließ mir von Joshua aus dem Mantel helfen und hob schnuppernd die Nase. „Mhmm...Marième übertrifft sich wieder selbst, ja?", fragte ich ihn und er grinste. „Das will ich hoffen, ich habe Hunger wie ein Bär!" Er lachte und seine Hand legte sich in meinen Rücken, mich sanft gen Wohnzimmer zu lotsen. Eine Geste, die ich noch nie sonderlich gemocht hatte. Doch seit Caissys Tod hatte ich noch mehr Probleme mit zu großer insbesondere körperlicher Nähe. Ich konnte den Schauder unterdrücken, der mich bei der Berührung ereilte und drehte mich geschickt heraus.

„Ich denke, ich schaue erst, was in der Küche vor sich geht", versuchte ich, meine Abweisung zu kaschieren und lächelte. „Und Lish hat ein wenig Zeit, anzukommen." Joshua nickte verständnisvoll und ließ mich im Flur zurück, als er das Wohnzimmer betrat, in dem auch schon Lisha verschwunden war.

In der Küche schlug mir der wohlduftende Dunst des, wie so oft viel zu reichhaltigen Essens entgegen und mein Magen begann, sich zu regen. Tatsächlich hatte ich den Tag über kaum etwas gegessen und der Anblick der Köstlichkeiten hätte mir normalerweise das Wasser im Mund zusammenlaufen lassen, doch waren mir die Ereignisse des Tages zu sehr auf den Magen geschlagen. Überhaupt hier zu sein, war anstrengend und stellte meine Geduld auf eine sehr große Probe.

„Aislinn! Liebes! Wie schön, dass ihr da seid!" Marième Bafane, Mutter von Lish und Joshua, kam lächelnd auf mich zu und schloss mich in ihre Arme, gab mir dann einen Kuss auf beide Wangen. „Wo ist meine Tochter?", fragte sie, hinter mich blickend. Mein Blick ließ sie seufzen, doch dankbarerweise versuchte sie nicht direkt, mich auszufragen, sondern deutete auf ein paar Schüsseln, in denen bereits dampfende Kartoffeln und buttriges Gemüse darauf warteten, von uns verspeist zu werden.

„Sei so gut und bring schon etwas hinüber, ja? Und dann schick Edem und Joshua, den Rest holen." Dankbar lächelte ich sie an und nahm die bereitliegenden Topflappen, die mich vor der Hitze der Schüsseln schützten. Als ich das Wohnzimmer betrat, sah ich Lisha und ihren Bruder in einer etwas hitzig anmutenden Diskussion am anderen Ende des Zimmers stehen und mein schlechtes Gewissen begann, sich zu regen.

Sie sollten sich nicht meinetwegen streiten. Schnell stellte ich die Schüsseln auf den Tisch und wollte zu ihnen, doch Edem, der Vater der beiden, der am Kamin stand und sie beobachtet hatte, entdeckte mich und lächelte strahlend. „Aislinn, meine Liebe! Es tut gut, dich zu sehen. Wie geht es dir?", fragte er laut und die beiden Streithähne lösten sich, sahen zu mir, ein klein wenig beschämt.

„Mir geht es sehr gut, danke, Edem. Ich hoffe, dir ebenso?" Ich trat zu ihm, ihn zu begrüßen und wie immer erstaunte mich die Vitalität, die dieser immerhin bereits 73jährige Mann ausstrahlte. Er war groß, sicher 1,95, breitschultrig und hatte große Hände, die, wie er immer sagte, eben auch viel anzupacken gehabt hatten im Leben. Joshua hatte viel von ihm geerbt, doch konnte auch er sich nicht mit der Präsenz messen, die den Raum füllte, sobald Edem ihn betrat.

Meine Lish war ihm in dieser Hinsicht ähnlicher. Jeder sah auf, wenn sie hereinkam, was nur bedingt an ihrem Äußeren lag, das es zugegebenermaßen ebenfalls mehr als wert war, Beachtung zu finden. Schmunzelnd registrierte ich meine innere Schwärmerei und konzentrierte mich auf die Antwort Edems auf meine Frage. „...doch bei dem Duft werde ich immer hungriger!", sagte er gerade und lachte.

Grinsend deutete ich in Richtung Küche. „Dann wird es dich freuen, dass Marième dich und Joshua angefordert hat, den Tisch zu decken", zwinkerte ich und musste leise lachen, als die beiden zu strahlen begannen und aus dem Wohnzimmer eilten. Kurz hielt ich den Jüngeren noch auf.

„Hör mal...es ist lieb, dass du mir helfen willst, aber streite dich nicht meinetwegen mit deiner Schwester, ja?", bat ich ihn. „Es ist nur eine Kabbelei, die sich schnell beruhigt." Der große gutaussehende Mann sah mich einen Moment mit einem etwas undefinierbaren Blick an, seufzte dann aber und schmunzelte. „Jaaaa...ich weiß...ich kann einfach nicht anders." Er kniff mir in die Wange und zwinkerte, bevor er seinem Vater in die Küche folgte.

Nun waren Lisha und ich allein und ich konnte ihren Blick förmlich auf meinem Rücken spüren. Doch als ich mich umdrehte, sah sie ins Feuer des Kamins. Ich atmete tief durch und trat zu ihr. „Lish?", fragte ich leise und sie machte ein zustimmendes Geräusch, ohne mich anzusehen, starrte etwas verloren in die Flammen, als wälze sie sehr schwere Gedanken. Schuld wallte in mir auf und mein schlechtes Gewissen ließ mich seufzen.

„Es tut mir leid, dass ich dich angeschrien habe...", murmelte ich leise und griff nach ihren Händen. Erleichtert atmete ich aus, als sie sie mir nicht gleich wieder entzog. Also setzte ich direkt nach. „Es war dumm, deine Ängste nicht ernst zu nehmen. Ich weiß doch, dass du dir nur Sorgen um mich machst, und bin dir dankbar dafür."

Mein Blick versuchte, ihren einzufangen und als ich es tat, lächelte sie und entließ seufzend ihre Anspannung. Sanft drückte sie meine Hand, doch bevor sie antworten konnte, kamen die Männer wieder herein, Braten, Sauce, noch mehr Gemüse, Reis und allerlei andere Delikatessen aufzutischen. Doch brauchte ich auch keine Antwort. Ich wusste, wir hatten uns vertragen, hielt sie immer noch meine Hand, als wir uns setzten.

Das ganze Essen über spürte ich den Stick in meiner Hosentasche brennen und es fiel mir unendlich schwer, ein paar Bissen hinabzuwürgen, es aber nicht danach aussehen zu lassen. Würdigen konnte ich keine der wie immer herrlich gewürzten Speisen, die meine Zunge brennen ließen. Auch das Gespräch plätscherte eher an mir vorbei, bis Marième, die zufrieden unser Hände halten registriert hatte, sich an mich wandte.

„Wie läuft die Therapie, Liebes?" Ich verschluckte mich, hatte ich mich auch nach über einem Jahr nicht an die Offenheit gewöhnt, mit der in dieser Familie wirklich jedes noch so private Thema besprochen wurde. „Ma...", tadelte Lisha leise, doch ich legte meine Hand auf ihre und lächelte sacht. „Ist schon gut, Lish." Ich wandte mich zu ihrer Mutter. „Es läuft sehr gut. Auch, wenn ich anfangs nicht viel von der Idee hielt, eine dieser Gruppen aufzusuchen, ist es erstaunlich hilfreich, mit...anderen Betroffenen zu sprechen. Und zu erfahren, wie sie ihr Leben meistern."

Ich schluckte und räusperte mich, als mir die Kehle eng zu werden drohte. Schnell griff ich nach meinem Wein und nahm einen kleinen Schluck, war mir der Blicke der anderen unangenehm bewusst. Ich mochte die Familie wirklich sehr, doch derart nackt vor ihnen zu sitzen und über meine Probleme zu reden, war nicht gerade meine Komfortzone. Das war schon in der Gruppe schwer genug. Und dort kannten einen die Menschen nicht mal.

„Ja", ermunterte mich Lisha und lächelte. „Besonders einer hat es Linn angetan." Ich warf ihr einen spöttischen Blick zu und sie schmunzelte. „Naja, du redest immerhin mit ihm." Sie wandte sich wieder an ihre Familie. „Derek heißt er und er scheint wirklich auf der gleichen Wellenlänge zu sein. Die beiden verquatschen sich des Öfteren." Sie sagte es zwar mit einem leichten Quengeln in der Stimme, grinste aber und ich schüttelte schmunzelnd den Kopf.

„Reden ist immer das Beste", kam es von Lishas Mutter mit einem weisen Nicken und ich lächelte schwach. Klar. Kommunikation war wichtig und ich hatte lernen müssen, dass es tatsächlich helfen konnte und doch...störte mich immer die Sicherheit, mit der nicht Betroffene ihr ‚Wissen' kundtaten, wie man am besten mit psychischen Störungen umzugehen hatte. „Denk einfach positiv." – „Mach einfach ein wenig Yoga, das entspannt." – „Lächele mehr, das setzt Glückshormone frei." – „Rede einfach darüber."

Diese und andere Weisheiten zeigten meist sehr deutlich, wie wenig sich das Gegenüber für dich und deine Probleme interessierte. Und das war okay! Niemand musste sich dafür interessieren, das setzte ich nicht voraus. Aber dann sollten sie bitte auf solche Floskeln verzichten, die völlig am Thema vorbei gingen.

Doch hatte mich das Gespräch zum Nachdenken gebracht und als Lisha, die wie immer zielsicher meine Stimmung erkannte, geschickt das Thema auf irgendeine entfernte Cousine lenkte, die bald heiraten wollte, schweiften meine Gedanken zu Derek. Lish hatte recht. Ich mochte Derek. Er und ich hatten ungefähr zeitgleich in der Gruppe angefangen und seine Abneigung gegenüber dieser Form der Therapie war in ihrer Deutlichkeit der meinen gleich gewesen – was ihn mir natürlich direkt sympathisch gemacht hatte.

Vielleicht war er die richtige Person, mit der ich meine Befürchtungen und Gedanken bezüglich Benedicts Nachricht und insbesondere seines Todes teilen konnte. So würde ich Lisha nicht noch mehr belasten.

Plötzlich wurde mir bewusst, dass Joshua mich nachdenklich beobachtete, doch als sich unsere Blicke kreuzten, er mir ein aufmunterndes Lächeln schenkte, schämte ich mich für den Schauer, der mich deswegen kurz überkommen hatte. Er machte sich Sorgen, genau wie Lisha und ich war erneut dankbar dafür, so bereitwillig in diese Familie aufgenommen worden zu sein.

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