24 | Chaos
Lisha war bei der Arbeit und nachdem ich, mit schlechtem Gewissen, versucht hatte, den Professor zu erreichen, der aber nicht rangegangen war, wählte ich nun die Nummer von Mike Roosevelt. Doch auch dort nahm niemand ab. Gut, wahrscheinlich arbeiteten beide gerade, aber ein Versuch war es wert gewesen.
Ich saß unruhig vor den Unterlagen, die wir in den letzten Tagen sooft durchgegangen waren und überlegte, wie ich nun weiter vorgehen wollte, doch fiel mir einfach nichts ein, außer, Mike Roosevelt oder den Professor persönlich aufzusuchen und das war auch nicht sinnvoll, da ich sie kaum aus dem Hörsaal beziehungsweise dem Obduktionsraum ziehen konnte – oder wo auch immer Dr. Roosevelt gerade arbeitete.
Schwer seufzend beschloss ich, einkaufen zu gehen, der Kühlschrank war wirklich ein wenig leer und ich hatte einfach genug davon, wie auf glühenden Kohlen zu sitzen. Irgendwas lag in der Luft, das spürte ich ganz deutlich.
Ich schob meinen Wagen gerade unmotiviert durch die Gänge, als mein Blick auf die Fernseher fiel, die in der Elektroabteilung hingen und auf denen Filme, Dokus und Nachrichten liefen, um zu zeigen, was für ein unglaublich detailreiches und scharfes Bild sie hatten. Was ich sah ließ mich den Einkauf vergessen.
Die Nachrichten zeigten gerade ein Haus, aus dem hektisch eine Bahre geschoben wurde, die man in den Krankenwagen verfrachtete, der direkt losraste, doch waren es die Textzeilen, die unter dem Sprecher durchliefen, der nun ernst über die Lage zu berichten schien:
„Ehemaliger Chefpathologe des Detroit Medical Centers in seinem Haus in London, Kanada, angegriffen. Überlebenschancen von Mike Roosevelt unklar. Täter auf der Flucht!"
Mein Herz rutschte in die Hose und ich starrte auf den Bildschirm, las wieder und wieder das Textband, wie in Trance, sodass ich mit einem kleinen Schrei zusammenzuckte, als mein Handy zu klingeln begann. Hektisch kramte ich es aus der Hosentasche und sah mich um. Niemand achtete auf mich und dennoch fühlte ich ein unbestimmtes Gefühl der Bedrohung.
„Ja?", krächzte ich mit dünner Stimme. „Aislinn? Sind Sie das? Dr. Bishop hier." Ich schluckte und blinzelte verwirrt. „Dr. Bishop? Ja, ich...warum rufen Sie mich an?" Ihre Stimme klang angespannt, als sie antwortete. „Ich würde Ihnen das lieber persönlich sagen, doch ist es zu wichtig, um es aufzuschieben." Mein Herz, das eben noch nach unten gerutscht war, wummerte nun schmerzhaft in meiner Kehle und erneut versuchte ich, zu schlucken.
„Eigentlich darf ich diese Informationen nicht weitergeben, doch da Sie persönlich mit ihm bekannt sind, ist es wichtig, Sie zu warnen. Es geht um Derek Moore. Er hat, aus welchen Gründen auch immer, einen Mann angegriffen und befindet sich nun auf der Flucht vor der Polizei. Im Zuge meines Gesprächs mit den Beamten hat sich herausgestellt, dass Derek Moore nicht sein richtiger Name ist und er nie verheiratet war. Inwieweit also die Geschichte stimmt, mit der er sich in die Therapie begeben hat, ist fraglich. Bitte, Aislinn, melden Sie sich bei der Polizei, sollte er Kontakt zu ihnen aufnehmen, vermeiden sie diesen aber unbedingt!"
Meine Gedanken rasten wild durcheinander und fanden keinen Fokus, sodass ich nur ein „Okay..." von mir gab und dann auflegte, obwohl Dr. Bishop noch redete. Ich musste nach Hause! Ich musste Lish warnen! Derek hatte einen der wichtigsten Zeugen fast getötet und war auf der Flucht! Er war die ganze Zeit schon so fixiert auf mich und den Fall gewesen! Verdammt!
Ich ließ meinen halbvollen Wagen stehen und rannte aus dem Geschäft und zu meinem Auto. Wie ich nach Hause kam, weiß ich nicht mehr, aber ich stürzte ins Haus und die Treppe hinauf an den Kleiderschrank. Ich wusste, ganz oben, hinter den Wintersachen in einer Schachtel, verwahrte Lisha eine Waffe. Eine Glock.
Rücksichtslos riss ich die Sachen heraus und verteilte sie auf dem Boden, bis ich die Schachtel an den Fingerspitzen spürte. Meine Finger zitterten, als ich die Waffe in die Hand nahm und sie fiel mir direkt wieder in die Schachtel zurück. „Okay, ganz ruhig, Linn", versuchte ich mich zu beruhigen und griff erneut danach.
Ich kannte mich nicht gut mit Waffen aus, doch hatte Lisha darauf bestanden, dass ich zumindest diese hier im Schlaf auseinander und zusammenbauen konnte, sowie wusste, wann sie ge- und wann entsichert war. „Detroit ist eine verflucht gefährliche Stadt, da sollte man sowas wissen", hatte sie immer wieder gepredigt, nachdem sie es nicht geschafft hatte, mich zu überreden, ständig eine bei mir zu tragen.
Das Gewicht der Glock war irgendwie beruhigend und nachdem ich sie geladen und gesichert hatte, steckte ich sie mir in die Jackentasche. Dann lief ich wieder hinab und schloss die Tür, die ich wohl in meiner Eile offengelassen hatte. Okay. Soweit so gut. Ich musste nun Lisha schreiben und sie warnen!
Hektisch riss ich das Handy aus der Tasche. Warum dachte ich erst jetzt daran? Verflucht! Ich tippte schnell eine Nachricht und wollte mich gerade wieder auf den Weg machen, als das Festnetztelefon klingelte. Mit der Klinke der Haustür in der Hand sah ich unentschlossen zum Wohnzimmer, bevor ich mich entschloss, ranzugehen.
„Aislinn Mulligan?", fragte ich und spürte wieder das Flattern meines Pulses im Hals. „Mrs Mulligan!", erklang die warme Stimme des Professors und ich musste ein Schluchzen unterdrücken. Irgendwie hatte ich befürchtet, jemand anderen dran zu haben. „Wie schön, dass ich sie direkt erreiche. Ich war eben leider gerade in einer Vorlesung und konnte nicht ans Telefon gehen."
Meine Gedanken waren bereits wieder bei meinem Plan, Lisha abzuholen und so machte ich ein undefinierbares Geräusch. „Das macht nichts. Ich hatte mir sowas schon gedacht", gab ich abwesend von mir und steckte noch das Geld ein, welches wir in einer Büchse auf dem Kaminsims lagerten. Warum wir damit mal begonnen hatten, wusste ich nicht mehr, doch waren es mittlerweile einige Scheine und sehr viele Münzen, die ich aber liegen ließ.
„Sie hören sich beschäftigt an...", sagte der Professor und ich nickte. „In der Tat...ich muss...gleich Lisha von der Arbeit abholen." Warum sagte ich ihm das? „Oh, dann lassen Sie mich bitte noch von der Sache erzählen, die mir ein wenig auf dem Herzen liegt, seit Sie beide bei mir waren."
Ich musste ein Seufzen unterdrücken, aber meine natürliche Höflichkeit, oder auch der Drang, der beruhigenden Stimme weiter zu lauschen, ließen mich nicht auflegen. „Bitte", sagte ich zustimmend und er räusperte sich. „Also ich möchte, dass Sie wissen, dass es nichts mit dem Verhalten Ihrer...Freundin zu tun hat oder mit irgendwelchen Animositäten meinerseits."
Nun runzelte ich die Stirn, doch hörte ich ein Klappern aus dem Flur und mein Herz machte wieder einen heftigen Hüpfer. „Wie bitte?", fragte ich und schlich zur Tür, riss sie auf. Doch nichts. Niemand da. Ich ging ins Wohnzimmer zurück und lauschte dem Professor, der natürlich weitergeredet hatte. „...und seit sie die Wohnung verlassen hatten, trieb mich eine Ahnung um, den Nachnamen Ihrer Freundin bereits mal gehört zu haben. Und zwar im Zusammenhang mit dem Fall, den Ihre Tochter und ihre Gruppe bearbeitet haben." Jede meiner unruhigen Bewegungen verharrten.
„Was wollen Sie mir damit sagen?" Die Stimme des Professors wurde sanft. „Das weiß ich selbst nicht so genau. Doch habe ich meine Notizen durchgesehen und in der Tat hatte Ihre Tochter vorgehabt, sich bei der Firma ‚Bafane Realty Trust' zu melden, in der anscheinend alle Geschäftsführer der verurteilten Firmen irgendwann mal gearbeitet hatten."
Es rauschte in meinen Ohren und ich schüttelte leicht den Kopf. „Wie bitte?" Meine Stimme zitterte, ebenso wie der Rest meines plötzlich sehr kalten Körpers und ich blinzelte mehrmals, da meine Sicht leicht verschwommen schien. „Bafane Realty Trust? Was...was soll sie mit dem Fall zu tun gehabt haben?", fragte ich mit unnatürlich hoher Stimme. Der Professor gab einen verärgert klingenden Laut von sich.
„Entschuldigen Sie, Mrs Mulligan, ich hätte es Ihnen nicht am Telefon sagen sollen. Hören Sie, ich weiß ja nicht mal, inwiefern das etwas zu sagen hat. Nur war es mir wichtig, dass sie es wissen...nur für den Fall..." Er verstummte und ich nickte, die eiskalten Finger der freien Hand an meinem Hals, der sich plötzlich so furchtbar eng anfühlte.
Erst Derek, nun Lishas Familie...was ging da vor? Wie sollte ich ihr das sagen? „Mrs Mulligan? Aislinn...?" Die Stimme des Professors klang besorgt und ich räusperte mich. „Ähm...ja, danke. Ich meine, danke, dass Sie mich kontaktiert haben, ich...ich werde..." Ja, was würde ich tun? Mit Lisha reden. Sie würde es aufklären können. Oder es mit mir zusammen herausfinden.
„Danke für Ihren Anruf. Ich werde mich darum kümmern." Mit diesen Worten legte ich auf und fuhr mir durch das Gesicht. Es passierte einfach viel zu viel auf einmal, da kam mein Gehirn einfach nicht hinterher. Als die Stimme erklang, schrak ich daher heftig zusammen und fuhr mit einem Schrei herum.
„Wer war das eben am Telefon?"
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