23 | Linda

Am nächsten Tag fuhren Lisha und ich nach ihrer Arbeit erneut an die Uni, diesmal, um Linda Nolan zu besuchen. Ich hatte eine sehr vage Erinnerung an sie und Meredith, da die Gruppe einmal bei uns gearbeitet hatte. Warum wusste ich nicht mehr. Aber sie war entweder die Bleiche mit den langen schwarzen Haaren gewesen, oder die Blondine mit der hohen Stimme. Ich hoffte auf Ersteres.

Diesmal hatten wir selbst herausgefunden, wo Linda wohnte, da sie es offen in den sozialen Medien kommunizierte. Dennoch war es nicht leicht, im Wohnheim das richtige Apartment zu finden. Nach ein paar Fragen an vorbeiziehende Studentinnen aber fanden wir es. Ich klopfte an und zu unserem Glück öffnete uns das schwarzhaarige Mädchen.

Sie musterte uns verwirrt. „Ja?" Ich musste bei dem nasalen Tonfall und dem blasierten Blick an den Butler von Keith denken und unterdrückte ein Grinsen. „Ich bin Aislinn Mulligan und das ist Lisha Bafane. Wir würden uns gern mit Linda Nolan unterhalten. Das sind Sie, nehme ich an?"

Die Miene des Mädchens wechselte von genervt-gelangweilt zu verwirrt. „Äh, ja, bin ich. Und weswegen sind Sie hier?" Sie bat uns nicht herein, sodass ich mich auf dem Flur umsah. „Können wir eventuell reingehen? Ich möchte das ungern hier auf dem Flur besprechen." Doch auch nun bewegte sich Linda nicht zur Seite und verschränkte nur die Arme.

„Solange ich nicht weiß, wer Sie sind und warum Sie hier sind, lasse ich Sie sicher nicht rein. Muss ich auch nicht." Ich sah irritiert zu Lisha, die sich mit einem beruhigenden Blick an Linda wandte. „Natürlich müssen Sie das nicht", sagte sie sanft. „Aber wir sind hier, um ein paar Fragen zu Caissy Mulligan zu stellen."

Es dauerte einen Moment, bis es in dem eher leeren Gesicht ‚Klick' machte. Sie sah kurz zu mir, dann aber verschlossen sich die Züge. „Zu Caissy kann ich Ihnen gar nichts sagen. Schönen Abend noch." Und damit schloss sie die Tür. Lisha und ich sahen uns perplex an. „Das ist nicht ihr Ernst, oder?", fragte Lisha angriffslustig und klopfte erneut.

Nichts regte sich. Sie hämmerte gegen die Tür, doch bis auf verwirrte Blicke von Vorbeigehenden brachte uns das nichts ein. „Die wird nicht mehr aufmachen", kam es von einer Stimme hinter uns und wir drehten uns um. Ein sommersprossiges braunhaariges Mädchen stand an der offenen Tür gegenüber der, die Lishas Faust bearbeitet hatte und lächelte uns fast entschuldigend an.

„Ist sie immer so?", fragte ich und das Mädchen nickte. „Seit einiger Zeit schon. Also sie war schon immer arrogant und hielt sich für was Besseres, aber seit rausgekommen ist, dass sie einen Professor beim Dekan angeschwärzt hat, sie belästigt zu haben, spricht sie mit kaum jemandem mehr. Ein wenig paranoid geworden, die Gute."

Lisha und ich sahen uns an. „Was kam denn bei der Beschwerde raus?", fragte Lisha und das Mädchen lachte. „Nichts, natürlich. Linda wollte sich nur an ihm rächen, weil er sie abgewiesen hat." Lisha zog eine Augenbraue hoch. „Ist das sicher?" Das Mädchen nickte heftig und zog sich die Strickjacke enger um die Schultern.

„Definitiv. Sie versucht immer, mit ihrem Aussehen und weiblichen Reizen voranzukommen, setzt diese total aggressiv ein. Und bei dem Professor hat sie sich anscheinend noch verknallt und konnte einfach nicht begreifen, wieso er ihren Reizen einfach nicht erliegen wollte." Häme und Spott sprachen aus dem Gesicht des Mädchens, was dies wohl auch bemerkte, denn ihre Wangen füllten sich mit Blut.

„Also...ich weiß, das klingt echt gemein, aber Sie kennen sie nicht. Sie ist extrem oberflächlich und arrogant und kann ziemlich fies werden, wenn etwas nicht nach ihrer Nase läuft. Naja und der Dekan hat die Sache untersuchen lassen – war nicht schön für den Professor, der hat jetzt trotz allem seinen Ruf weg. Denn bei einer Anhörung vor dem Dekan musste Linda zugeben, sich alles ausgedacht zu haben. Den Rausschmiss wollte sie dann doch nicht riskieren. Der drohte nämlich, sollte einer beim Lügen erwischt werden. Und es gab einfach zu viele, denen sie süffisant von ihrer Tat berichtet hatte. Sie wäre also schnell aufgeflogen."

Lisha runzelte die Stirn. „Und warum sagt die Sekretärin, es sei nichts herausgekommen bei den Beschwerden? Sie sprach von mehreren." Das Mädchen schien nicht zu merken, dass Lisha mehr über das Thema wusste und zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Ich meine die alte Harper und Professor Rymer haben es nicht so miteinander. Sie findet, er sei zu nachlässig. Sie ist von der alten Schule, wissen Sie."

Nein, wusste ich nicht, aber da die Aussagen zu meinem Bauchgefühl passten, beließ ich es dabei und auch Lisha schwieg, schien aber über die Gebühr enttäuscht, fast betroffen von dem, was das Mädchen sagte. Warum? Mochte sie Galen Rymer wirklich so wenig?

Ich sah wieder zu dem Mädchen, welches keine Anstalten machte, wieder in sein Zimmer zu verschwinden. „Noch eine Frage – kanntest du Caissy Mulligan?" Das Mädchen zog nachdenklich die Nase kraus und riss dann die Augen auf. „Oh, natürlich! Ja, ich hätte es mir gleich denken können. Sie sehen ihr wirklich sehr ähnlich." Das Lächeln auf ihrem Gesicht schwand und Trauer legte sich auf ihre Züge.

„Es tut mir echt leid, was ihr passiert ist." Ich nickte dankbar und schluckte einen Kloß hinunter. „Danke, das ist lieb...wissen Sie, ob Linda und sie...sich nahe standen?" Das Mädchen musste lachen, riss sich dann aber erschrocken zusammen. „Oh, Entschuldigung, aber...nein. Nein, ganz sicher nicht. Linda konnte sie nicht ausstehen."

Wieder wechselte ich einen Blick mit Lisha. „Warum war das so?" Unser Gegenüber seufzte. „Um es mit ihren Worten zu sagen ‚Weil Professor Rymer sie viel lieber hatte'." Sie zuckte mit den Schultern. „Linda war eifersüchtig. Und wie. Sie hat viel gegen Caissy geschossen, hat abfällige Bemerkungen gemacht, Lügen verbreitet...Als Nachbarin bekommt man einiges mit, Sie glauben gar nicht, wie mitteilungsbedürftig Linda ist, wenn es darum geht, jemanden fertig zu machen."

Schmerz zuckte durch meine Brust, als ich mir vorstellte, dass Caissy in den letzten Wochen vor ihrem Tod so eine Scheiße hatte durchmachen müssen. Warum hatte sie mir nichts gesagt? Warum hatte ich nichts bemerkt?! Ich war ihre Mutter, ich hätte merken müssen, dass es ihr nicht gut ging. Du hast auch nicht bemerkt, dass sie in Gefahr war.

Mein Atem beschleunigte sich, als mir klarwurde, wie unaufmerksam ich gewesen war und die Gewissheit in mir wuchs, dass ich es hätte verhindern können, wenn ich nur mehr auf mein Kind geachtet hätte. Meine Augen füllten sich mit Tränen und ich merkte kaum, dass Lisha dem Mädchen dankte und sich verabschiedete, bevor sie mich nach draußen an die frische Luft führte.

Gierig sog ich sie ein, während Lisha meinen Rücken streichelte. „Alles gut, Aislinn. Atme. Ruhig. Ein und aus." Sie raunte es in ihrer beruhigenden Stimme und die Panik ließ nach. Zitternd sank ich auf eine Bank und begann zu weinen. Das sanfte Streicheln von Lishas Hand stoppte nicht und sie begann leicht zu summen.

Als die Erschöpfung einsetzte, versiegten die Tränen und ich blieb noch einen Moment gebeugt sitzen. „Ich habe es nicht gewusst", wisperte ich und Lisha wandte sich mir zu. Sie wirkte, als habe ich sie aus ganz eigenen Gedanken gezogen und ich war ein wenig erschrocken über ihre verhärmt wirkende Miene.

Doch glättete ein sanftes Lächeln diesen Eindruck, als sie mich mitfühlend betrachtete. „Was hast du nicht gewusst, Liebste?", fragte sie. „Ich wusste nicht, wie sie litt. Was sie durchmachen musste. Dass sie in Gefahr war. Hätte ich besser aufgepasst..." Lisha schnitt mir entschieden das Wort ab.

„Du hast so viel gewusst, wie sie dich hatte wissen lassen. Sie war erwachsen, Aislinn und wollte und musste ihr eigenes Leben führen. Eine Mutter ist nicht für jede Einzelheit im Leben ihrer Kinder verantwortlich. Außer sie ist echt übergriffig." Ich musste lachen, doch ganz aufhören wollte mein Zittern nicht.

Lisha neigte den Kopf. „Ich habe dort drinnen einen Kaffeeautomaten gesehen. Wenn du mir versprichst, hier zu warten, hole ich dir einen." Ich nickte schwach und vergrub mein Gesicht in den Händen, als Lisha in das Gebäude zurückging. Es tat gut, kurz allein zu sein und der leichte Regen, der einsetzte, tat das Seine, meinen Kopf ein wenig freizubekommen.

Als mein Handy summte, sah ich unwillkürlich zu dem Gebäude, in dem Lisha schon vor einiger Zeit verschwunden war und zog es hervor. Mein Puls beschleunigte sich, wie ich verärgert feststellte. Ich konnte jetzt nicht bei jeder Nachricht Schiss haben, sie zu öffnen. Es war eine Whatsapp-Nachricht von einem bisher unbekannten Nutzer.

„Guten Abend, Mrs Mulligan. Ich hoffe, es geht Ihnen gut. Es gibt da etwas, worüber ich seit ihrem Besuch nachdenken muss und ich würde mich freuen, wenn Sie sich beizeiten bei mir melden könnten. Am besten, wenn Sie allein sind, da es sich um eine etwas delikate Angelegenheit handelt, die ich gern erst nur mit Ihnen besprechen würde.

Mit freundlichen Grüßen,

Galen Rymer"

Ich sah auf und blickte mich unwillkürlich um. War es Zufall, dass er mich allein sprechen wollte und ich die Nachricht genau dann bekam, wenn Lisha gerade nicht an meiner Seite war? Dann sah ich sie mit zwei Bechern aus dem Gebäude treten und sperrte unwillkürlich mein Handy, welches ich in meiner Jackentasche verschwinden ließ.

Schon verspürte ich leichte Schuldgefühle, doch wollte ich Lisha nicht aufregen. Sie konnte Professor Rymer aus irgendeinem Grund nicht leiden, wie sie mir gestern und heute wieder sehr deutlich klar gemacht hatte und ich befürchtete, dass es sie noch mehr gegen ihn und vielleicht auch gegen mich aufbringen könnte, wenn sie wüsste, dass er mir geschrieben hatte.

Zumal ich definitiv vorhatte, mich bei ihm zu melden, um zu erfahren, was er mir wohl zu sagen hatte.


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