10 | Erwischt

Voller Elan stieg ich ins Auto und schlug den Weg nach Hause ein, doch auf halber Strecke klingelte mein Handy. Meine Augen fuhren die Umgebung nach einer Möglichkeit rechts ranzufahren ab, ohne mich jedoch zu hetzten. Jeder, der mich kannte, wusste, ich würde nicht während der Fahrt ans Telefon gehen und gegebenenfalls zurückrufen, sollte die Parkplatzsuche länger dauern.

Diesmal jedoch schaffte ich es schnell, eine Bucht zu entdecken und als ich den Motor abgestellt hatte, angelte ich nach meinem Handy. Ich sah auf das Display, bevor ich abnahm. „Hey, Derek", sagte ich und beobachtete im Rückspiegel, wie jemand in zweiter Reihe hinter mir parkte. Verärgert runzelte ich die Stirn. Solche Typen konnte ich nicht leiden, das war gefährlich!

„Hey, Linn", erklang die angenehme und erfreute Stimme Dereks. „Ich wunderte mich schon, warum du nicht abnimmst, wo du ja offensichtlich nicht arbeitest." Ich stutzte und sah unwillkürlich erneut in den Rückspiegel. „Wie...?", fragte ich irritiert und er lachte. „Ach, ich war zufällig in der Gegend und hatte gedacht, auf einen Kaffee bei dir vorbeizuschauen, aber dein Chef sagte, du würdest die nächsten Tage nicht da sein. Geht es dir gut?", fügte er besorgt hinzu und ich musste lächeln, auch, wenn ich mich fragte, woher Derek wusste, wo ich arbeitete.

Nun, wahrscheinlich hatte ich es mal erwähnt. Ich wusste ja auch, wo er vor dem Unfall gearbeitet hatte. Zurzeit arbeitete er nicht. „Natürlich geht es mir gut", sagte ich automatisch und konnte das Grinsen in seiner Stimme hören. „Klar. Uns geht es immer gut, hm?" Ich schmunzelte. „Erwischt. Nein, eigentlich geht es mir nicht so toll, ich..." Kurz zögerte ich. Sollte ich Derek einweihen?

„Du...was?", fragte er, nachdem ich nicht weitersprach. Ich zuckte mit den Achseln. „Ach, nichts, womit ich dich belasten will", sagte ich und wusste in dem Moment, da ich es aussprach, wie dumm das ihm gegenüber war. Und erwartungsgemäß schnaubte er. „Autsch. Wann bin ich denn wieder in die Schiene gerutscht, in der man ‚mich nicht belasten will'?" Seine Stimme klang eingeschnappt und sofort regte sich mein schlechtes Gewissen, das leider schnell und zielsicher getriggert werden konnte.

„So meinte ich das nicht, Derek, das weißt du. Ich weiß, dass du weit mehr verstehst, als andere, dennoch..." Dann seufzte ich. „Na gut. Aber nicht am Telefon." Dereks Stimme klang erstaunt, als er antwortete. „Okay, jetzt machst du mich neugierig. Dann sag, wann und wo wir uns treffen wollen, dann kannst du es mir erzählen."

Ich dachte kurz nach. Lisha würde morgen arbeiten, in der Zeit konnte ich also eh nichts mit ihr machen. „Was sagst du, wenn wir uns morgen zum Frühstück treffen?"

„Bei dir im Café?" Ich rümpfte die Nase. „Nein, lieber nicht. Mein Chef hat mir zwar freigegeben, aber es wäre doch irgendwie eigenartig dort zu frühstücken. Kennst du den Dime Store in der Griswold Street?"

Er kannte ihn und wir verabredeten uns für den nächsten Tag. Dann fuhr ich heim, erleichtert, dass ich noch einen Tag Zeit hatte, bis ich meinem Therapieverbündeten sagen musste, dass ich nun wohl eine Chance hatte, jemandem die Schuld an dem Tod meiner Tochter zu geben. Und zu erfahren, was genau passiert war.

Etwas, das für ihn ein ewiger Traum bleiben würde. Der Absturz, bei dem Dereks Frau und seine ungeborene Tochter verstarben, war angeblich auf technisches Versagen des Flugzeuges zurückzuführen. Und selbst, wenn es ein Fehler des Piloten gewesen war, so konnte Derek nicht darauf hoffen, ihm persönlich gegenüberzustehen und zu erleben, wie er zur Verantwortung gezogen wurde, da dieser ebenfalls bei dem Absturz ums Leben gekommen war.

„Ich bin zu Hause!", rief ich, als ich mich aus meiner Jacke schälte und sie achtlos auf einen Haken warf, bevor ich mich suchend im Erdgeschoss nach Lisha umsah. „Lish? Lisha! Wo bist du?" Weder im Wohnzimmer noch in der Küche oder dem Gäste-WC war sie zu finden, was extrem ungewöhnlich war, da Lisha, wenn sie zu Hause war, meist im Wohnzimmer an ihrem Laptop saß, und mir wurde ein wenig unwohl. Wo war sie nur?

Ein kurzer Blick in den Flur sagte mir, dass sie hiersein musste, denn wer verließ ohne Schuhe, Mantel und Tasche das Haus? Auch ihre Schlüssel hingen noch am Brett. Ich lauschte, als ich ein Rumpeln zu hören glaubte und leckte mir die trockenen Lippen, plötzlich etwas unruhig, bevor ich über mich selbst grinsen musste. Wahrscheinlich hatte sie sich nur nochmal hingelegt.

Doch war das Schlafzimmer ebenso leer wie die Wanne im Bad und meine Unruhe nahm zu. Ich wollte nach ihr rufen, doch blieb ich aus irgendeinem Grund stumm. Erneut erklang ein dumpfes Geräusch und es kam eindeutig von oben. Stirnrunzelnd sah ich zur Treppe und schlich hinauf zum Arbeitszimmer. Tatsächlich war die Tür nur angelehnt und ich spürte, wie mein Herz bis zum Hals pochte und meine Handflächen ein wenig schwitzig wurden. Ich hatte doch abgeschlossen! Und Lisha würde sich nicht einfach Zutritt in einen Raum verschaffen, den ich abgeschlossen hatte. Nach einem Moment stieß ich sehr leicht gegen die Tür, die lautlos aufschwang, und sah ins Zimmer. Warum war ich so nervös?

Als ich Lisha zwischen meinem ehemals geordneten Chaos sah, atmete ich erst erleichtert aus und musste über das Zittern meiner Beine schmunzeln, bevor sich leichte Enttäuschung in mir ausbreitete. „Was machst du hier?", fragte ich in die Stille hinein und Lisha zuckte mit einem leisen Schrei zusammen, sah mich aus großen panischen Augen an, während sich eine Hand an ihre Brust legte, die andere vor ihren Mund.

„Himmel, Linn! Erschreck mich doch nicht so!", fuhr sie mich dann wütend an und schüttelte den Kopf, während meine Augenbraue nach oben wanderte. „Ich habe nach dir gerufen. Aber du scheinst zu beschäftigt gewesen zu sein." Der leichte Vorwurf in meiner Stimme ließ sie erst gereizt zu mir sehen, bevor sich Schuldbewusstsein in ihre Augen schlich und sie sich verlegen umblickte.

„Ich...ich hatte gehofft, ein wenig Überblick zu haben, bis du wiederkommst, damit wir direkt...naja...loslegen können." Ihr betretener Gesichtsausdruck ließ meinen Ärger darüber, dass sie sich ohne mich Zutritt verschafft hatte, dahinschmelzen. Ich hatte es ihr eh zeigen wollen und es war ja schließlich unser beider Wohnung.

Mit zwei langen Schritten trat ich über die Dokumente hinweg, die nun ohne irgendwelchen Sinn wild durcheinander lagen und setzte mich neben Lisha, gab ihr einen sanften Kuss. „Das ist sehr lieb gedacht gewesen, Liebste...", begann ich, nachdem sich unsere Lippen lösten, „Aber ich hatte hier eine Ordnung drin, die..." Ich sah mich um und seufzte. „nicht mehr existiert."

Meine Freundin sah sich angemessen schuldbewusst um und ich schmunzelte. „Schon gut. Es nochmal zu ordnen wird uns schon nicht umbringen, denke ich. Vielleicht ist es ganz gut, die Informationen diesmal auch mit deinem Blick zu sortieren." Lisha nickte, sah mich dann aber fragend an. „Was machst du eigentlich schon hier? Du hast mir echt fast einen Herzinfarkt verschafft." Diesmal war ich diejenige, die sich schuldbewusst am Hinterkopf kratzte.

„Tut mir leid, Lish. Cisco hat mich nach Hause geschickt, als er erfuhr, warum ich die nächsten Tage frei brauche." Meine Freundin atmete leicht kopfschüttelnd tief durch. „Ihm habe ich also mein Fast-Ableben zu verdanken." Ich grinste, doch spürte ich, wie meine Geduld sich dem Ende neigte. Nicht ihr gegenüber, sondern generell den Ablenkungen von meinen Nachforschungen, die ich immer noch nicht wirklich begonnen hatte. Also nickte ich abwesend und versuchte, einen Überblick zu bekommen.

„Also, ich denke, wir sollten da anfangen, wo auch Benedict damals begonnen hat, denn anscheinend hat ihn das ja irgendwie auf die richtige Spur gebracht." Lisha sah mich aufmerksam an, eine leichte Anspannung in ihrer Haltung, die gut zu der meinen passte. "Und wo?", fragte sie. „Bei Caissys Unikram."


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