2| Evangeline

Ich stand etwa zehn Minuten an dem Geländer, bevor uns Esther, die ältere Mitarbeiterin, von unten alle zusammen rief. Einige der Mitarbeiter, die alle um einiges Jünger waren, kamen die Treppen nach oben, und holten die Teilnehmer aus ihren Zimmern. Ich vergewisserte mich, dass Leona und Helen an meiner Seite waren, bevor ich die Treppe herunter ging und der Menge an Menschen folgte, die ich nicht kannte. Das war mir unbekannt. In dem Ferienlager waren jedes Jahr dieselben Menschen gekommen, bis auf ein oder zwei Ausnahmen.

Schließlich fanden sich alle unten in einem großen Gemeinschaftsraum mit einem alten Klavier wieder. Die Fenster sahen aus wie diese, die man nur in Kirchen fand, voller bunter Muster mit Heiligen und Engeln. In dem Raum war ein großer Stuhlkreis aufgebaut und alle ließen sich irgendwo nieder. Ich setzte mich in die hinterste Ecke zwischen Helen und Leona, die beide nicht wirklich begeistert aussahen, so viel Mühe sie sich auch gaben. Ich sah mich in der Runde um. Die Truppe war bunt gemischt. Jungs, Mädchen, jüngere und ältere. Den Gesichtern nach zu urteilen, war ihre Stimmung um einiges besser als meine. Da ich sowieso vermutete, dass die meisten nicht zum ersten Mal hier waren, versuchte ich gar nicht erst, mit jemandem zu kommunizieren. Ich verschränkte meine Arme vor der Brust, mehr um mich zu schützen, als vor Trotz. War es schon zu spät, um wegzurennen?

Die Mitarbeiter verkündeten, dass wir mit einer Vorstellungsrunde beginnen würden. Eine der Mitarbeiterinnen, die vorhin mit Esther an dem Tisch gesessen hatte, begann. Die Runde ging herum und nach und nach stellten sich alle im Sitzkreis vor. Mir gegenüber saß ein Junge, der mir von Anfang an aufgefallen war. Er hatte ein wirklich dämliches Lächeln und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Er zog die Kappe weit in die Stirn. Als er an der Reihe war, stellte er sich als Nathan vor. Nun hatte er doch meine Aufmerksamkeit. Ich hasste es, dass ich so neugierig war. Ohne diese Eigenschaft wäre es einfacher gewesen, diesen Ort zu ignorieren und nach der Woche einfach hinter mir zu lassen. Umso mehr ich wusste, umso länger würde ich mich daran erinnern. Das war eine einfache Regel.

Neben ihm saß ein älteres Mädchen, mit blonden Locken und Brille. Sie war unglaublich hübsch und stellte sich als Alwine vor. "Meine ganze Familie ist hier", erklärte sie und zeigte als erstes auf Nathan, anschließend auf einen weiteren kleinen Jungen mit einem übertriebenen Lächeln und zum Schluss auf einen Blonden, der vielleicht so alt war wie ich. Sie alle saßen quer verteilt im Raum. Sie kannten die anderen hier, waren vermutlich schon lange mit ihnen befreundet. „Bereits seit fünf Jahren fahren wir immer wieder hierher." Ich schnaubte leise. Alwine war vielleicht siebzehn. Sie tat mir leid, wenn ich daran dachte, dass sie diese Gemeinschaft so vorgelebt bekam, seit sie zwölf war. Fühlte sie sich hier wohl? Könnte ich mich jemals hier wohl fühlen?

Auch die restlichen Mitarbeiter und Teilnehmer stellten sich vor, bevor es zu den beiden Brüdern von Alwine und Nathan kam. „Also ich heiße Gideon!", rief der Kleinere der beiden laut aus. Seine große Schwester strich sich mit zwei Fingern über die Augenbrauen und versuchte, ihren Scharm zu verdecken. Es musste nicht das erste Mal sein, in dem Gideon laut war.

Sein großer Bruder wirkte eher wie das Gegenteil von ihm. Gideon schien sein Dauergrinsen genauso zu lieben, wie das Shirt, auf dem ein Dinosaurier abgebildet war. Seine Jeans wiesen Löcher auf und den kleinen Fleck am Oberschenkel musste man heute Morgen wohl übersehen haben, oder er war die Folge des Frühstücks. In seiner Hand hatte er eine Tischtennisschläger samt Ball, die davon zeugte, wovon er unterbrochen wurde.

Eddie hingegen sah genauso aus, wie ich mir einen Typen vorstellte, auf den ausgeschlossen jedes Mädchen stand. Seine blonden Haare saßen perfekt gestylt und die blauen Augen fokussierten den Betrachter kontrolliert. Er war ein typischer Mädchenschwarm, was mir durch die beiden Blondinen, die neben ihm saßen und ihn anhimmelten, bestätigt wurde. Die beiden waren zwar geschätzte drei Jahre Jünger als er, doch es schien ihn nicht zu stören. Er schien lieber in der Aufmerksamkeit zu baden. Ich könnte kotzen.

Auch ich kam schließlich an die Reihe. Ich erzählte kurz etwas über mich, war aber nicht besonders an irgendwelchen Reaktionen interessiert. „Ich heiße Evangeline. Bin zum ersten Mal hier." Ich konnte die Menschen hier einfach ignorieren und vergessen. Das sollte nun wirklich nicht allzu schwer sein.

Einige Plätze neben mir entdeckte ich wieder das Mädchen, das an dem Geländer gelehnt hatte. Auch sie sah auffällig oft zu Eddie, bevor sie selbst an der Reihe war, sich vorzustellen. „Martha", war alles was sie sagte. Martha, das Mädchen vom Geländer, scherzte ich in meinem Kopf. Sie tippte einen Jungen neben sich an und beschäftigte sich wieder damit, Eddie zu beobachten. Ich könnte wetten, sie war nur wegen ihm hier.

Schließlich gelangte man wieder bei Annika an. Sie lächelte uns freudig an und hielt noch einmal eine kurze Rede, wie schön es doch wäre, dass wir alle gekommen waren. Anscheinend ein alljährliches Ritual, so gelangweilt klang es. Die Mitarbeiter erklärten den groben Tagesplan, mahnten uns um die Regeln und scheuchten uns schließlich von den Stühlen in den Speisesaal hinüber.

Der Mitarbeiter, der mich vorhin begrüßt und sich als Dylan vorgestellt hatte, erklärte, dass wir uns heute noch aussuchen durften, wo wir sitzen wollten, wir ab morgen aber Tischkarten bekommen würden. Ein schiefes Grinsen tauchte in meinem Gesicht auf, als ich die Worte meiner Mutter wieder hörte: "Ihr sollt neue Freunde kennenlernen." Trotzdem hatte ich Tischkarten schon immer gehasst. Eigentlich machten sie alles schlimmer. Als sich Dylan gesetzt hatte, stürmten ein paar kleine Jungs zum Buffet und gaben dieses somit frei. Jemand hatte deutlich mehr Hunger als ich. Ich stellte mich dagegen hinter Martha an, die es anscheinend genauso wenig eilig hatte, wie ich.

Ich lächelte ihr kurz zu, als sie mich sah. „Hey." „Hi. Evangeline, hab ich Recht?" Ich nickte. Martha reichte mir einen Teller. „Okay, sag mir deinen Spitznamen, oder ich denk mir einen aus." Ich griff nach einem Brötchen. „Angie, eigentlich. Die meisten nennen mich Angie." Martha nickte lächelnd. „Okay Angie. Willkommen auf der Freizeit, die entweder zur Hölle auf Erden oder zum schönsten Ort, den du je gesehen hast werden kann." Sie kicherte. „Danke", murmelte ich. Vielleicht war ich doch nicht die Einzige, die es hier nicht so fantastisch fand. „Was ist es für dich?", fragte ich Martha, die bereits am Ende des Buffets angekommen war und auf mich zu warten schien. „Hm?", fragte sie. „Ist es die Hölle oder der schönste Ort?", wiederholte ich ihre Worte. „Ich hab mich noch nicht entschieden", gab sie zu und lief zu ihrem Platz zurück.

Auch ich lief zu Leona, Helen und der Mitarbeiterin Annika zurück, die sich einen Tisch gesucht hatten. Ich beschloss, mich überraschen zu lassen, was diese Woche bringen würde. Es war nicht scheußlich hier, aber es war auch nicht Elli. Doch Martha war mir nicht unsympathisch, das musste ich zugeben.

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