Eingebildete Probleme

Im Leben ist es nun mal nicht immer rosig, ne?, sagt das Pony am Stroh kauend. Ich beachte es nicht und versuche mit der Mistschaufel seine Häufchen Pferdeäpfel aufzulesen. Das Leben ist nun mal kein Ponyhof, ne? Man muss auch was dafür tun, sagt das Pony und schlägt mit seinem Schweif um sich. Ich bringe die Schaufel Mist auf die Schubkarre. Du hast es so gut, sagt das Pony, du bist gesund, du hast Freunde und Familie, die dich lieben und eine Arbeit, die dir Spaß macht. Du hast ein gutes Leben, ein gutes Standing. Du hast Talent, du bist hübsch und du kannst dich gut artikulieren. Bist du nicht auch nur ein bisschen dankbar dafür?

Na toll, denke ich, jetzt muss ich mich auch noch schlecht dafür fühlen, dass ich mich schlecht fühle. Doch ich antworte nicht. Das Pony trottet neben mir her. Du weißt, dass du dir immer selbst im Wege stehst, oder? Dass du für dein eigenes Glück verantwortlich bist. Du musst nur deinen Arsch hochkriegen und nach den Sternen greifen, sagt das Pony. Ich beiße mir auf die Lippe.

Wenn du es träumen kannst, dann kannst du es auch tun, sagt das Pony, schließlich steht dir die Welt offen, schließlich bist du dein eigener Herr, nicht wahr?
Ich antworte nicht.
Hast du jetzt vor, mich die ganze Zeit zu ignorieren?, fragt das Pony, das ist doch so typisch! Willst du nicht endlich ein Erwachsener sein und diesen Kinderkram lassen? Du kannst dich nicht auf ewig vor der Welt verstecken.

Kinderkram. So nennt es das also. Wahrscheinlich hat das Pony Recht, ich stehe mir selbst im Weg. Und doch ist es schwer etwas anderes zu sehen, wenn man die ganze Zeit nur seine eigenen Misthaufen wegmachen möchte. Ich stopfe eine weitere Ladung Pferdemist in die Schubkarre, die langsam aber sicher etwas kippelt.

Alles eins nach dem anderen, sagt das Pony, es gibt doch nichts, wovor es sich zu fürchten lohnt. Du willst doch kein Versager werden, oder? Du willst doch nicht etwa... Du weißt schon. Das Pony beugt sich zu mir vor. Einer von denen sein. Abfällig deutet das Pony mit seinem Schweif auf einige Personen, die gesellig im Kreis auf der Wiese außerhalb des Offenstalles sitzen. Ich starte die Personen an. Eine Person trinkt aus einer vollen Vodkaflasche. Eine andere raucht, während sie unangenehm depressive Kohlezeichnungen anfertigt. Eine andere Person verbindet sich gerade seine Handgelenke mit Mullbinden. Eine andere Person hat sich die Hände an der Gitarre blutig gespielt. Eine weitere Person liegt auf den Rücken apathisch die Wolken beobachtend. Eine weitere weint. Und die letzte Person lacht hysterisch.

Ein Stich Wehmut und Sehnsucht flackert in meinem Herz auf. Doch ziemlich schnell verlöscht dieses Gefühl. Wie jedes Gefühl, das ich je empfunden hatte. Ich schaue weg. Das Pony stuppst mich aufmunternd auf den Arm. Na geht doch, sagt es fröhlich, wenn du genau hinsieht, wirst du sehen, dass all deine Probleme, Sorgen und Wünsche nichts sind, auf die du achten musst. Denn all das hier ist nicht real. Du tust es ja schließlich nicht für dich. Du tust es, damit wir alle uns nicht um dich sorgen müssen. Das größere Wohl, wenn du so willst. Menschliche Probleme lassen sich doch alle lösen. Tu einfach, was man dir sagt, sei ein gutes Kind und werde erwachsen. Wachse aus diesen törichten Bildern von sogenannter Freiheit raus! Denn Freiheit gibt keine Sicherheit. Und Sicherheit ist das wahre Glück. Nichts und niemand versperrt dir den Weg. Das Glück liegt auf der Straße und du musst es nur aufheben. Nutze den Tag, denn du lebst ja schließlich nur einmal. Sei erwachsen, sei vernünftig, sei einfach... Du selbst, nur besser. Denn du bist nicht gut genug, so wie du jetzt bist. Du bist ein Rohdiamant, der nur ein wenig mehr geschliffen werden muss. Du  bist nur ein Kind, das Weisung benötigt. Du bist nur ein verhätscheltes und eingebildetes und selbstsüchtiges Stück, das einmal bemerken muss, wie gut du es hast. Du musst nur geformt werden. Du musst nur an dich glauben. Aber nicht so, wie du glaubst. Sondern so, wie wir es für richtig halten. Denn du willst kein Versager werden oder?

Ich schweige. Mein Mund ist trocken, mein Herz pocht laut. Ich bin bereits ein Versager, das weiß ich bereits. Doch fehlt mir die Kraft oder der Mut, mich ebenfalls auf die Wiese zu setzen. Neben den ganzen anderen Versagern. Ich schlucke. Das Pony scharrt mit seiner rechten Vorderhufe auf den Boden.

Nun, sagt es, wie du siehst, was auch immer du hast. Es geht dir doch gut, oder? Es sind alles nur eingebildete Probleme. Sie lösen sich doch im Handumdrehen! Hier, sprich mir nach. Es sind eingebildete Probleme.

"Es sind eingebildete Probleme", wiederhole ich.

Es liegt nicht an den anderen, nur an dir, sagt mir das Pony vor.

"Es liegt nicht an den anderen. Nur an mir", wiederhole ich.

Wenn du deinen Hintern nicht hochbekommst, dann ist das deine alleinige Schuld, sagt das Pony.

"Wenn ich meinen Hintern nicht hochbekommst, dann ist das meine alleinige Schuld", sage ich.

Deswegen wirst du jetzt das tut, sagt das Pony, und deine Gefühle ignorieren.

"Ja", sage ich.

Was denn?, fragt das Pony.

"Es ist alles ein eingebildetes Problem", sage ich tonlos.

Sehr gut, sagt das Pony sehr zufrieden.

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