135 ** der bunte Abend ** So. 12.4.2020

Ich finde es beeindruckend, WIE gelassen Max diesem Abend entgegen sieht. Er wird vor einem großen Haufen fremder Menschen etwas völlig Unerwartetes und im Grunde Ungeübtes tun, er wird improvisieren, er muss sich der Musik und einem Schattenspieler anpassen. Und nun sitzt er gelassen und fröhlich plaudernd am Abendbrottisch und genießt die Köstlichkeiten vom Buffet. Alle anderen, die heute auf die Bühne müssen, flattern mit den Nerven. ALLE anderen.

Nach dem Essen bricht hektisches Gewusel auf dem gesamten Gelände aus. Kostüme, Requisiten, letzte Pröbchen, hinter der Bühne, auf der Bühne, Technik-Tests – es summt und brummt überall. Max sitzt gemütlich mittendrin und freut sich, dass er hier keine Tanzmäuse bändigen oder Kulissen schieben muss.
„Boah – wenn ich da an letzten Samstag denke. Die Großen müssen immer die jüngeren Jahrgänge bändigen, weil wir keine genauso aufgedrehten Eltern hinter der Bühne haben wollen. Da KANN man für die eigene Performance gar nicht mehr aufgeregt sein. Man kommt einfach gar nicht dazu."
„Bist du deswegen grade so gelassen?"
„Auch. Aber im Gegensatz zu fast allen anderen hier bin ich es auch von klein auf gewohnt, auf einer Bühne zu stehen."

„Ich ... es tut mir so leid, dass ich nicht dabei war. Ich hätte euch so gerne ohne Prüfungskommission richtig genossen. Das muss schwer gewesen sein für dich."
Max greift nach meiner Hand.
„Hm. War es. Zumal direkt danach bei euch zu Hause die kalte Dusche kam. Aber das ist vorbei. Du wirst uns schon noch zu sehen kriegen."
„Aber leider nicht vor Publikum. Das hat doch nochmal eine ganz eigene Dynamik und Spannung."
„Naaaa, die Wahrscheinlichkeit ist gar nicht so klein. Wir sind nämlich gefragt worden, ob wir was in petto haben für die offizielle Abifeier mit Zeugnisübergabe. Wahrscheinlich werden wir das Ding da nochmal allen zeigen, einfach, weil es dann so gut passt."

Ich spüre Erleichterung. Es ist noch nicht gaaaaanz sicher, aber wahrscheinlich bekomme ich an dem Tag frei, damit ich „meinen Leuten" die Abi-Zeugnisse übergeben kann. Dann kann ich das Stück auch auf einer Bühne sehen.
Und Max kann sich freuen, dass ich auch einmal zugesehen habe.
„Ui! Hoffentlich kann ich dann wirklich dabei sein."
Nur nach und nach lichtet sich das Chaos auf und hinter der Bühne. Immer mehr Leute kommen in den Saal und suchen sich einen Platz. Eine FSJ'lerin verteilt kleine Programm-Zettel, auf denen man sehen kann, was heute alles in welcher Reihenfolge zu sehen sein wird.

Als das Licht im Saal ausgeht, greift Max leise nach meiner Hand. Es ist schön, so vertraut hier mit ihm zu sitzen. So warm, so nah. Meine Gedanken schweifen ab, hin zu all dem Furchtbaren und auch Tollen, das wir in den letzten fast neun Monaten miteinander erlebt, durchlitten und überwunden haben. Und das hier ist der nächste Schritt in die richtige Richtung.
Ich hätte Ende September und erst recht Anfang Oktober nieeeeeee gedacht, dass das hier jemals möglich sein könnte. Und doch sitzen wir jetzt gemeinsam hier. Es zeigt mal wieder, wie unüberschaubar für uns Menschen in Wahrheit die Zeit ist. Zwei Monate noch ...

Und dann startet in einem bunten Reigen ein tolles Programm. Lieder, Scetche, Witze und Rätsel, Gedichte und Tänze wechseln sich ab und machen allen viel Vergnügen. Für uns wird es zum ersten Mal spannend, als unser Varieté dran ist. Da es noch ein paar weitere solche Nummern gegeben hat, haben die Programm-Macher alles Zirkus- und Varietéartige hintereinander weg geplant, und das wirkt einfach toll. Danach gibt es eine Pause, in der wir was essen und trinken und mal gründlich durchlüften können. Währenddessen wird hinter der Bühne das Chaos aufgeräumt und alles für die nächsten Nummern bereit gelegt. Nach der Pause hat das Publikum wieder eine andere Besetzung, weil die einen fertig und die anderen erst jetzt hinter der Bühne verschwunden sind. Max studiert das Programm und bleibt ganz gelassen noch sitzen.
„Das dauert noch, bis ich mich warm machen muss. So lange kann ich auch noch zuschaun. Wir sind ja als letztes dran."
Da es meine Aufgabe ist, dem Schattenspieler zu assistieren, indem ich zum Beispiel zusammen mit Heide ein feines Tuch schwenke, das das Wasser im Bach für die Fische darstellen soll, muss ich sogar erst ganz kurz vorher hinter die Bühne. Eher können wir nämlich noch gar nichts bereit legen.

Irgendwann fängt Max neben mir an, seine Hände und Füße zu dehnen. Dann schlüpft er schließlich nach einem hingehauchten Küsschen aus der Reihe und verschwindet hinter der Bühne.
Was hat der Junge die Ruhe weg!
Am Ende der nächsten Nummer folgen wir anderen auch, damit wir sofort hinter der Bühne durchstarten können, sobald die Darbietung vor uns fertig ist. Max macht noch immer Aufwärmübungen. Dann zieht er sich die vier zusammengeliehenen T-shirts übereinander, damit er je nach Jahreszeit immer wieder eins ausziehen und am Schluss in blau den Winter tanzen kann. Barfuß, in einer schwarzen Jeans, lächelt er mir entgegen. Heide und ich legen unsere Requisiten bereit, Boris dehnt seine Finger ein bisschen, unsere beiden Leserinnen stellen sich an den beiden Seiten bereit. Zwei FSJ'ler ziehen das Schattentuch auf. Dann hören wir den Applaus für die Vorgängergruppe.

Plötzlich fängt Max an zu reden.
„Gleich gehts los, und ich freue mich sehr darauf. Das wird wunderbar, keine Sorge. Ihr müsst nicht aufgeregt sein. Alles, was wir tun müssen, ist, Freude auszustrahlen und einen Schritt nach dem anderen zu tun. Ich wünsche euch und uns viel Spaß!"
Ich habe Gänsehaut auf dem Rücken, denn alle schauen ihn groß an und entspannen sich sichtbar.
Max, du bist wunderbar!

Unsere Vorgänger kommen hinter den Vorhang geschossen, und einer sagt gleich:"Wartet ihr noch einen Augenblick? Wir wollen euch auch zusehen."
Sie werfen sich schnell Jacken und Pullis über und flitzen in den Saal. Unser Technikfreak schmeißt im Mittelgang des Publikums die Kamera an. Wir dürfen tatsächlich aufzeichnen, zumal die Aufnahme direkt zu uns nach hinten auf einen Bildschirm kommt, damit wir auch immer wissen, was Max grade macht da draußen. Ich wehre mich nicht, weil ich ihm total gerne beim Tanzen zusehe und natürlich neugierig bin.

Der Vorhang öffnet sich nur so weit, dass die Schattenfläche zu sehen ist. Erst gehen unsere beiden Leserinnen an die beiden Seiten der Bühne, und eine kündigt an, dass es nun ein Schattentheater zu Musik geben wird. Dann geht Max raus, hockt sich klein an den Bühnenrand, atmet tief durch und konzentriert sich. Die Musik geht an. Während Boris als erstes mit seinen Händen die Sonne aufgehen lässt, beginnt Max, sich zu bewegen.

bis Mittwoch!"  **  Mo. 13.4.2020

Es hat unglaublich viel Spaß gemacht, diesen Vivaldi zu improvisieren. Das Strahlen von Anni, das Aufblühen von Boris, die sanft, aber klar dazu passenden Texte, das Staunen aller anderen. Die Atmosphäre im Raum direkt danach. Es hat ganz lange gedauert, bis die ersten angefangen haben zu klatschen. In diese anfängliche Stille hinein haben ein paar der Anwesenden „Amen" gemurmelt.

Und irgendwas war in mir passiert. Im Gegensatz zu damals, als wir bei Luis dieses Stück aufgeführt haben, auch im Gegensatz zu den Proben am Nachmittag hier – habe ich nicht Bachplätschern und Gewitterdonnern getanzt. Ich kann das nicht erklären. Das ging ganz schnell. Ich habe die gute Schöpfung Gottes getanzt. Das Staunen wie das Fürchten. Das Nutzen und das Genießen. Das Umsorgen und das Danken. Mir war noch nie vorher so bewusst, wie sehr wir Menschen abhängig sind von dieser Natur, und wieviel sie uns schenkt. Ich ... war ein Teil davon!

Viele haben sich anschließend bei mir bedankt dafür – was ich gar nicht wollte.
Boris kam strahlend zu mir.
„Ich habe mich jetzt drei Jahre lang durch meinen Pfarrdienst gequält. Alles Gute, Kreative, Lebendige in mir war abgestorben. Durch das, was wir beide hier eben getan haben, ... es fühlt sich an, als wäre der Betonpanzer von meiner Seele geplatzt und hätte Leben freigegeben. Danke!"
Das hat mir viel mehr bedeutet. Ich weiß ja fast nichts von ihm. Er hatte seine Aufstellung an dem Tag, an dem ich angereist bin. Und das war wohl sehr ernüchternd. Sein lebendiges Strahlen jetzt, das hat auch mich beschenkt.
„Das freut mich. Ich wünsche dir, dass du diese Freiheit, dieses Leben zurück in deinen Alltag retten kannst!"

Nach der allgemeinen Aufräumerei, die nochmal mit ziemlich viel Gewusel verbunden war, sind wir still als Gruppe zurück zu unserem Gruppenhaus gelaufen. Ich habe diese Menschen in den ganzen zwei Tagen nicht so entspannt erlebt. Anni hat sich bei mir eingehakt und ihren Kopf gegen meine Schulter gelegt. Vor dem Haus hat sie mich angesehen und nur geflüstert.
„Wollen wir noch einen kleinen Augenblick laufen?"
„Gerne. Lass uns aber dafür mehr anziehen, sonst frieren wir wie blöd."

Wir haben den anderen gute Nacht gesagt, uns Jacken und Mützen geholt und sind noch ein bisschen in die Dünen rein gelaufen. Ganz still. Wir hatten beide nicht das Bedürfnis zu reden. Das eben Erlebte musste einfach noch Raum bekommen, um in uns nachzuhallen. Und ich musste einfach auch wieder runter kommen von der Anspannung. Wir sind dann ziemlich bald umgekehrt, haben uns auf dem Flur sehr lange einfach im Arm gehalten und sind dann in unsere Betten gegangen. Durch das frühe Aufstehen war der Tag echt lang. Und voll. Und ganz besonders.

Heute morgen gehe ich noch mit den anderen zum Frühstück. Meinen Rucksack nehme ich schon mit, weil ich gleich von hier aus zum Bus laufe. Ich verabschiede mich von allen und bedanke mich, dass sie mich so selbstverständlich aufgenommen haben. Anni muss bald in den Gruppenraum, weil heute wieder jemand seine Aufstellung machen wird. Aber ein Stück kann sie mich noch begleiten.

Das Wetter ist trübe und passt zu unserer nachdenklichen Abschiedsstimmung. Nach einem Blick auf die Uhr bleibt Anni mitten zwischen den Feldern stehen. Sie lehnt sich an mich, legt ihre Arme um mich und schaut mich von unten her an.
„Danke, Max!"
Ich muss lächeln, denn ... wofür?
„Wofür?"
„Für dich! Für deine Geduld. Für dein Durchhaltevermögen. Für deine Gabe zu verzeihen. Dafür, dass du hergekommen bist. Für den zauberhaften Nachtspaziergang. Und für deinen Tanz. Du hast mich – nein, du hast alle verzaubert."
„Das war aber nicht ich alleine! Unser Pfarrer hat genauso viel dazu beigetragen. Ich fand sein Spiel mit den Händen ungeheuer beeindruckend."

Wir schweigen einen Moment lang.
„Geht es dir denn jetzt etwas besser? Mit deinem Denkmal? Mit deinen Lasten? Mit deinem Kreuz?"
„Ich ... weiß nicht. Ich kann das noch gar nicht greifen. Es war unglaublich schwer. Aber ich habe gelernt, dass ich nicht fertig sein muss, um irgendwas zu schaffen. Sondern dass das Schaffen ansich mich weiter in Richtung Ziel bringt. Ich habe gelernt, dass ich nicht alles alleine schaffen muss, damit ich gut für andere bin. Sondern dass ich mir von anderen helfen lassen darf, damit ich gut und gnädig mit mir selbst werden kann. Ich ... werde sehen, was im Laufe der Zeit daraus wird. Ich werde jedenfalls zuversichtlicher wieder nach Hause kommen, als ich abgefahren bin."
„Das freut mich riesig. Ich hatte mir so Sorgen gemacht. Jetzt kann ich entspannt wieder abfahren."
„Ich bin auch sehr froh. Und ich freue mich jetzt sehr auf Prag. Diese unbeobachtete Zweisamkeit hier hat uns so gut getan."
Ich muss strahlen wie ein Stadion-Flutlicht, denn Anni fängt an zu kichern.
„Komm gut nach Hause, Max. Magst du mich am Mittwoch vom Bahnhof abholen?"
„Sehr gerne!"

Ich gebe ihr noch einen Kuss, dann dreht sie sich um und geht zurück. Ich habe noch ein bisschen Zeit, also bleibe ich einfach stehen, schaue ihr hinterher und lasse diese zwei gemeinsamen Tage innerlich ausschwingen.
Ich freue mich auf Prag." Ich wage nicht zu spekulieren, was das alles heißen könnte. Aber sie hat recht. Diese unbeobachteten Tage, diese freundliche Umgebung, diese Nacht am Strand. Das hat uns gut getan! Und wir wollen und brauchen beide mehr davon.

Erst, als Anni hinter der Hecke zum Tagungshaus verschwunden ist, drehe ich mich um und laufe in den Ort, wo dann bald auch mein Bus nach Cuxhaven kommt. Die Heimfahrt verläuft ereignislos. Ganz viel umsteigen, ganz viel träumen, ganz viel Vivaldi auf den Ohren.
Mittwoch. Ich freue mich jetzt schon auf dich, meine Liebe!

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28.1.2021

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