116 ** Erinnerungen ** Fr. 6.3.2020
Langsam wirds spannend. Heute war der vorläufig letzte Schultag. Nächste Woche haben wir zum Lernen frei, und in den zwei Wochen dann haben wir nur die Klausuren, dazwischen müssen wir nicht antreten. In der letzten Woche vor den Osterferien müssen wir dann nochmal zur Schule, in der Woche nach den Osterferien auch. Total zerhackt irgendwie. Wer sich da noch richtig auf Unterricht konzentrieren soll, weiß ich auch nicht. Da endet dann der Präsensunterricht. Aber wir werden wahrscheinlich noch ein bisschen für die mündlichen Prüfungen getrimmt und uns ansonsten ganz auf die Vorbereitungen für Abistreich, Abifeier und Abiball konzentrieren.
Eigentlich wollten wir alle die ganze Zeit in der Gärtnerei von Tanja und Conny arbeiten. Das viele Hin und Her ist auch für Conny ziemlich bescheuert. Aber sie hat sich einfach sehr gefreut, als Moritz, Paul, Lasse, Milly, Sebastian, Antoine und ich bei ihr aufgeschlagen sind. Da sie immer zuviel Arbeit hat, ist es ihr recht, dass wir unregelmäßig einspringen. Wir werden mitarbeiten so, wie Stundenpläne und Abi uns lassen. Wir machen einfach eine WhatsApp-Gruppe, in die sie dann schreiben wird, wenn am nächsten Tag akut was zu tun ist. Und wir melden uns, wenn wir können. In den Osterferien werden wir dann alle bei ihr aufschlagen zum Klotzen.
„Arbeit gibts immer!"
Das ist natürlich cool, denn so können wir richtig Geld für Führerscheine, Urlaube und sonstiges verdienen.
In der zweiten Woche nach den Osterferien kommt schon das mündliche und praktische Abi. Und Papa hoffentlich. Und dann das Baby. Und die Aufnahmeprüfungen. Und dann ist endgültig Schluss. Stop. Aus. Nie wieder Schule.
Sehr, sehr seltsam ... Die Zeit rast.
Während ich mich im Herbst durch jeden einzelnen Tag gequält habe und das Gefühl hatte, dieser Tag, dieses Jahr würde nie rumgehen, habe ich jetzt zwar mehr Zeit für mich, habe aber gleichzeitig das Gefühl, die Tage rasen an mir vorbei.
Papa darf an diesem Wochenende das erste Mal nach Hause kommen – natürlich therapeutisch begründet. Er soll selbst nach Spuren seiner ersten Ehe suchen, soll hinspüren, wie er in Zukunft in diesem Haus, mit uns als Familie leben will. Tanja und ich dürfen auch nur zum Teil dabei sein, er soll sich viel Zeit für sich nehmen. Aber natürlich lassen wir beide es uns nicht nehmen, den Kühlschrank zu füllen, ein bisschen zu putzen, die Heizung anzuwerfen. Ein Strauß Tulpen landet auf dem Esstisch, eine Schale mit seinen Lieblingspralinen neben dem Sofa. Er soll sich willkommen fühlen. Onkel Uwe holt ihn ab und scheucht uns dann auch gleich nach nebenan.
„Husch! Ihr habt bestimmt noch gaaaaaaanz viel anderes zu tun!"
Auch er selbst trägt nur Papas Tasche rein und verabschiedet sich dann.
Uwe hat mich sehr ermahnt, dass ich mich wirklich an die Regeln halte. Ich soll nicht dauernd drüben hocken, soll mich ganz auf die Aufgabe und auf meine Gefühle konzentrieren, soll mich an ihn wenden, wenns mir damit sehr schlecht geht. Er hat mit meinem Therapeuten vereinbart, wie der Kontakt zur Familie aussehen soll. Ich bin mir durchaus nicht sicher, wie es mir damit gehen wird, nach über zwei Monaten wieder in diesem leeren Haus und auch noch alleine zu sein. Darum fühle ich mich von dieser Vorgehensweise auch nicht bevormundet. Es ist vielmehr beruhigend zu wissen, dass Uwe für mich da ist, wenn ich ihn brauche.
Tanja und Max sind da, als wir ankommen. Kaum haben wir uns begrüßt – Max mit einer sehr herzlichen Umarmung, Tanja mit einem kleinen Zögern und dann einem Kuss auf die Wange -, da scheucht Uwe die beiden schon ins Nachbarhaus und fährt dann selbst auch wieder. Immerhin werden wir nachher zusammen hier zu Abend essen.
Ich habe erstmal mein Gepäck nach oben gebracht. Dann habe ich mich ins Wohnzimmer gesetzt und mich einfach umgeschaut.
Was sind hier die Spuren von Tanja? Und gibt es überhaupt noch Spuren von Marie? Oder habe ich es damals tatsächlich geschafft, ALLE Spuren zu vernichten? Gott, wie grausam muss das für Jana und Max gewesen sein!
Zögernd gehe ich auf die Wohnzimmerschrankwand zu. Hinter jeder der Türen, in jeder der Schubladen könnten Zeitbomben ticken.
Genau. Das war damals mein Gefühl. Jedes Ding von Marie ist eine emotionale Bombe und könnte jeden Moment hochgehen.
Ich öffne ein paar Schubladen. Aber ich weiß nicht mal mehr, was damals darinnen war. Geschweige denn, wo es jetzt sein könnte.
Wo hab ich all das denn hingetan? Ich glaube, weggeworfen habe ich das nicht. Ich denke, ich muss die Suche systematischer angehen. WAS könnte ich denn überhaupt finden?
Maries Kleidung habe ich damals Jana gegeben, und die hat das meiste zu Oxfam gebracht. Den Schmuck habe ich Max gegeben, als Tanja hier einzog und ich nicht wollte, dass sie damit konfrontiert wird. Aber Maries Bücher, ihre Tanzsachen, ihre Fotoalben, ihr großes Album mit Zeitungsausschnitten und Bildern vom Theater ... Die Sammeltassen von ihrer Oma.
Nee, die hab ich auch Jana gegeben.
Ich durchforste die gesamte Schrankwand. Aber ich kann nichts finden.
Halt, da hinter der Schublade klemmt was, die geht ja gar nicht richtig zu. Da muss was hinten runtergerutscht sein.
Ich ziehe die Schublade heraus und greife in das Loch im Schrank. Was ich ertasten kann, ist ein kleines Bündel mit ... Briefen. Mein Hände zittern. Auf dem obersten Umschlag steht in meiner Handschrift „Marie". Mit werden die Knie weich.
Ob das die Briefe sind, die ich ihr geschrieben habe, als wir ...
Als würden sie brennen, lasse ich die Briefe fallen und gehe schnell zwei Schritte rückwärts.
Ich lasse mich erstmal aufs Sofa plumpsen und schließe die Augen.
Mache ich das auf? Oder nicht? Schmeiße ich das weg? Oder behalte ich es?
Ich atme einige Male tief durch, so wie ich es gelernt habe. Dann beschließe ich, das Bündel ganz erwachsen aufzuheben und zurück in die Schublade zu legen. Außerdem beschließe ich, mir eine Liste anzulegen, was ich wo finde, was meine erste Reaktion ist – und was ich damit machen will. So vergesse ich es nicht, kann mich aber in Ruhe entscheiden.
Ich stecke die Briefe zurück in die Schublade, mache mir einen Kaffee und tigere mit der Tasse in der Hand unruhig durchs Haus.
Dass mich so ein kleines Bündel Papier so aus der Bahn werfen kann! Wo hab ich vorhin eigentlich mein Therapietagebuch hingetan?
Ich muss mich gradezu zwingen, mich hinzusetzen und zu schreiben. Ich kann mich nicht mal entscheiden, wo ich mich hinsetzen will ...
Arbeitszimmer? Riecht nach Arbeit. Wohnzimmer? Schreiben auf den Knien ist unbequem. Terrasse – zu kalt.
Ich werfe einen Blick in die Küche. Ins Schlafzimmer. Dann bremse ich vor Max Zimmertür. Mache sie auf. Und erstarre.
O.K. - da muss ich nachher ran. Das sieht ja furchtbar aus! Jetzt erstmal die Briefe. Oh Himmel, es bricht so viel auf einmal über mich herein.
Ich entscheide mich für den Esstisch, hole mir noch einen Kaffee, Max kleine Graugans, mein Tagebuch und einen Stift und versuche aufzuschreiben, was da jetzt alles viel zu vieles über mich hereingebrochen ist. Meine Gedanken rasen. Schuld, Angst, Sehnsucht, Hoffnung und Verzweiflung streiten sich um meine Aufmerksamkeit. Ich mache erstmal Stichpunkte, damit ich nichts vergesse.
Mir wird schwindelig.
Also ziehe ich die Reißleine und rufe Uwe an. Der hört sich den ganzen Wust an und hilft mir sortieren.
„Außerdem könnte ich heute Abend kommen und mit dir zusammen das Haus anschauen. Du brauchst einen Ort, wo Du Ruhe hast, nicht an Arbeit erinnert wirst und Dich für sowas wohlfühlst. Es kann nicht angehen, dass du durch ein so großes Haus läufst und keinen einzigen Ort findest, an dem du dich sicher und zu Hause fühlst."
„Das ... das wäre wohl ganz gut, ja. Ich mein' - ich kann nicht das ganze Haus auf den Kopf stellen, ohne Tanja einzubeziehen. Aber es muss hier einen sicheren Ort geben für mich."
Wir beenden das Telefonat. Ich bin wieder ruhiger geworden.
Und jetzt kann ich endlich alles aufschreiben.
Eine Stunde später tauche ich aus den eng beschriebenen Seiten auf wie aus einem Traum. Aber es hat gut getan. Ich überlege, ob ich weiter einfach so drauflos suchen will. Aber dann entscheide ich mich für einen anderen Weg. Ich wage es. Ich schließe meine Augen und versetze mich zurück in die Zeit, als Marie gestorben ist. Ich war für zwei Monate in ein Hotel gezogen, wie von Sinnen, niemand wusste, wo ich war. Ich konnte nicht akzeptieren, dass das Leben mir genommen hatte, was ich am allermeisten geliebt habe. Ich habe versucht, den Tod durch ignorieren zu besiegen. Nur bei der Arbeit konnte man mich erreichen, ich hatte auf Job umgeschaltet, und meine Sekretärin hatte alles abgefangen, was privat war.
Jana und Thorsten haben Max aufgefangen damals, obwohl Jana selbst sehr gelitten hat. Erst hatte sie die Schwester verloren, dann hatte sie ungefragt einen Neffen geerbt – und dann hatte sie ihr ungeborenes Kind verloren.
Muss ich mich dafür eigentlich auch noch verantwortlich fühlen? Das muss ich wohl Jana fragen.
Als ich wieder nach Hause kam, habe ich erstmal drei Tage lang nichts anderes getan, als alle offensichtlichen Spuren von Marie zu beseitigen. Ich habe Jana und Thorsten auch nicht groß gefragt. Ich habe ihnen mitgeteilt, dass Max wohl besser bei ihnen aufgehoben ist. Dann habe ich angefangen, Maries Sachen nach drüben zu tragen. Kleidung, Schuhe, die Sammeltassen. Jana hat viel geweint in der Zeit. Bücher, CD's und manches Einzelstück sind im Keller gelandet.
Keller! Natürlich, ich muss in den Keller!
Ich stehe auf und laufe los, aber nach ein paar Metern stoppe ich wieder. Schaffe ich das überhaupt, jetzt alleine in den Keller zu gehen? Nein, ich werde nachher das Angebot von Uwe annehmen. Das traue ich mir doch alleine nicht zu. Mein Blick fällt auf die Uhr. Noch eine Stunde bis zum Abendessen ... Was mache ich jetzt mit der Zeit?
Unschlüssig drehe ich mich im Flur ein paarmal im Kreis, bis ich plötzlich wie von einem Magneten gezogen zu den CD's gehe. Ich denke nicht, meine Hände machen einfach. Denn Tanja besitzt eine CD, die ich am liebsten sofort verbrannt hätte, als ich sie damals entdeckt hatte. Das klassische Ballett „Cinderella" von Prokovjev. Das war Maries erstes Engagement an einem Theater. Sie hat damals die Bettelfee getanzt. Und nach der Premiere habe ich sie gefragt, ob sie mich heiratet.
Meine Hände legen die CD auf, meine Füße tragen mich zum Tisch mit dem Tagebuch und der Stift scheint ganz von allein übers Papier zu gleiten.
Meine liebe Marie!
Habe ich Dir damals genug gesagt, wie sehr ich Dich liebe? Kurz bevor Du starbst, bist Du noch einmal aus dem Medikamentennebel aufgetaucht. Du hast mir gesagt, dass Du mich liebst, und hast mich mit Flehen in den Augen gebeten, gut auf Max aufzupassen. Deine letzten Worte waren:'Du schaffst das!' Ach, Marie. Du hast gewusst, dass es schwer werden würde. Du hast geahnt und befürchtet, dass ich davonlaufen würde, oder?
Das große Glück für Max war, dass er außer seinem schwachen Vater auch noch eine starke Tante hatte. Und noch hat. Denn ich muss Dir beichten, dass ich meine Sache nicht gut gemacht habe. Ich habe Max im Stich gelassen. Ich habe ihn abgeschoben, habe versucht, Dich aus meinem Leben und aus meiner Erinnerung zu löschen, habe sogar versucht, Max das Tanzen zu verbieten. Selbst, als er wieder bei mir war, habe ich ihn im Stich gelassen.
Er hat mir erzählt, dass eine seiner glücklichsten Kindheitserinnerungen ist, dass ich ihn mit zum Angeln genommen habe. Da war er acht Jahre alt. An dem einen Wochenende war eine Verbindung zwischen uns zu spüren. Eine Verbindung unabhängig von Dir. Aber im Grunde habe ich da immer noch nicht hingeschaut, wer Max ist. Sondern ich habe ihn mitgenommen in meine Welt. Und hinterher habe ich ihn zurück geschickt in seine.
Solche Momente sind mir nur sehr selten gelungen. Und allmählich glaube ich, dass das Kind den Weg zu mir gefunden hat – und nicht ich den Weg zum Kind.
Als ich Tanja kennengelernt habe, fiel die innere Tür zur Vergangenheit endgültig zu. Ich habe mich ganz auf sie konzentriert. Max habe ich einfach stehen lassen. Tanja hat unseren Garten umgestaltet, Tanja hat unser Haus umgestaltet, Tanja hat unseren Tagesablauf und unsere Familienrituale umgestaltet. Jana und Max mussten zusehen. Ich weiß nicht, ob Du uns von „da oben" zusiehst – Du hast fest daran geglaubt -, aber Tanja hat nicht nur mich wieder ins Leben geliebt. Sie war auch immer eine sehr liebevolle, sensible und zugewandte Mutter für Max. Sie hat die Aufgabe viel ernster genommen als ich. Sie WOLLTE ihn kennenlernen, sie WOLLTE sein Vertrauen gewinnen. Sie wollte immer mit uns Familie sein. Max hat sie auch gerne als Mutter akzeptiert. Die beiden sind immer gut miteinander auskommen. Heute weiß ich, dass Du nie etwas anderes für uns beide gewollt hast, als dass wir nach der Trauer aufstehen und neu das Leben lieben.
Aber ich habe dann letzten Endes alles zerstört. Kannst Du mir vergeben, dass ich Max zwingen wollte, Dich auch aus seinem Leben zu streichen? Du hast ihn mir anvertraut. Es hat Dich getröstet zu wissen, dass Max ja noch seinen Vater hat, das hat es Dir ermöglicht loszulassen – und ich bin Deinem Vertrauen nicht gerecht geworden. Ich habe ihn ignoriert, ich habe ihn gequält, ich habe ihn sogar erpresst. Andere haben dafür gesorgt, dass aus Max ein wunderbarer, aufrichtiger, sozialer, humorvoller und unglaublich starker junger Mann geworden ist.
Erst jetzt in den Wochen in der Klinik habe ich begriffen, was ich an Dir hatte, was ich an ihm hatte, wie ähnlich er Dir doch in so vielen Dingen ist. Das sanfte Empathische, der Humor, die Kraft, immer wieder aufzustehen und weiter zu gehen. Die wunderschönen braunen Augen. Und seine Gabe, mit seinem ganzen Wesen zu tanzen. Du hast ihn so reich beschenkt fürs Leben, damit er es dann mit mir aushalten konnte. Danke, dass Du mir diesen wundervollen Sohn geschenkt hast.
Hast Du gesehen, was er getan hat? Ich habe ihn rausgeworfen. Sogar Tanja hat es nicht mehr mit mir ausgehalten. Aber Max – er hat mir einen Nikolausstiefel hingestellt. Weil ER es nicht ausgehalten hat, dass ICH alleine bin. Er ist zu mir gekommen und hat mich mit Vergebung beschenkt, als ich noch immer nicht begriffen hatte, was ich alles angerichtet hatte. Er hat mir die kleine Graugans gegeben. Dein Abschiedsgeschenk an ihn. Ich habe bis heute nicht begriffen, wie ein Mensch so hingebungsvoll lieben kann. Wie Max es fertig gebracht hat, mir DAS anzuvertrauen. Ich hätte die Gans ja auch wegwerfen können ... Er hat mir nach all den Jahren und all dem, was war, immer noch – oder wieder – vertraut.
Max ist jetzt 18 Jahre alt. Und jetzt endlich bin ich glücklich, dass er tanzen will, dass das Tanzen ein Teil von ihm ist, dass er ein Teil von Dir ist. Weißt Du, was er machen will? Er will Tanztherapeut werden. Er will Tänzer sein und über die Bewegung anderen Menschen dazu verhelfen, sich mit sich selbst zu verbinden und zu heilen. Max ist so ein wundervoller Mensch. So ein Segen. Dein Geschenk an mich.
Stell Dir vor – ich bekomme eine zweite Chance. Hoffentlich. Tanja ist schwanger. Max bekommt ein Geschwisterchen. Und ich hoffe und bete so sehr, dass Tanja mich noch einmal annimmt, dass sie nicht nur zu mir ins Haus zurück kommt. Sondern dass sie auch zu mir als Mensch kommt, und ich zu ihr gehen und so vieles besser machen kann. Dass ich diesmal ein besserer, ein zugewandterer Ehemann und Vater sein kann.
Es ist schwer, mit so viel Schuld zu leben. Aber Max macht es mir leicht. Er gibt mir die Chance, es diesmal besser zu machen. Er ist wundervoll.
Danke, Marie.
Eine Träne tropft aufs Papier. Zwei. Und im nächsten Moment spüre ich Arme, die sich sanft um mich legen. Erst jetzt merke ich wieder, wo ich bin, was ich grade gemacht habe und was jetzt geschieht. Es sind nicht nur die zwei Tropfen von Max auf dem Papier. Da sind ganz viele. Weil ich selbst die ganze Zeit geweint habe. Vorsichtig zieht Max mein Tagebuch weg, damit man das später noch lesen kann, legt meinen Stift auf die Seite, zieht mich von meinem Stuhl und nimmt mich sehr fest in den Arm.
„Ach, Papa."
Lange stehen wir so da, halten uns gegenseitig und weinen all die qualvollen Jahre aus uns heraus.
„Hast ... du das gelesen?"
Max nickt.
„Ich bin gekommen, weil wir ja zusammen Abendbrot essen wollten. Ich dachte, ich helf dir ein bisschen. Und dann hab ich dich still weinen sehen. Als ich gesehen habe, dass du einen Brief an Mama schreibst, konnte ich mich einfach nicht zurückhalten. Weißt du ... ich hab so Sehnsucht danach, heraus zu finden, wer und wie wir als Familie waren. Ich wüsste so gerne, wie ihr miteinander gewesen seid. Und ... jetzt weiß ich es. Ist ... ist ... das in Ordnung?"
Ich kann bloß nicken.
„Papa? Du bist ein grade so unsicher und unglücklich. Aber du BIST ein toller Vater. Und du wirst für das Kleine ein wundervoller Vater sein. Du wirst den selben Fehler nicht nochmal machen. Denn du bist nicht mehr der Axel Gersten von damals. Und auch nicht mehr der Axel Frey von vor einem Jahr. Du bist jetzt auf dem Weg zu einem neuen Axel, und der wird toll. Da bin ich mir ganz sicher."
„Ich bin nicht unglücklich, Max. Unsicher - ja. Auf der Suche, auf dem Weg – ja. Aber ich bin nicht mehr unglücklich, denn ich habe dich zurückgewonnen. Und ich bin auf dem Weg, mich zu finden. ... ... Danke für deine großzügige Vergebung."
Jana steckt den Kopf zur Tür rein, sieht uns hier Arm in Arm stehen, mit völlig verweinten Gesichtern.
„Das ... sieht gut aus. Ihr zwei seht miteinander gut aus. Aber ich denke dann, dass wir eben schnell drüben decken und bei uns essen. Hier ist grade wohl nicht der richtige Ort dafür, oder?"
„Ja, gerne, Jana. Danke für die Einladung."
Jana geht wieder nach nebenan, um für uns alle Abendbrot zu machen. Ich dagegen ziehe Max mit mir zum Sofa und ganz nah neben mich. Dann rufe ich nochmal Uwe an und stelle den Lautsprecher an. Ich erzähle ihm, was grade geschehen ist, dass Max neben mir sitzt. Und ich bitte Uwe, dass er heute Abend oder morgen früh mit mir in den Keller geht. Er verspricht mir, morgen zu kommen.
„Max? Ich habe ... vorhin vor deiner Zimmertür gestanden. Und dann reingeschaut. Und mich so erschrocken und geschämt. Meinst du, du hast die Kraft, da mit mir zusammen ... aufzuräumen?"
Stille. Max schluckt.
„Ich kann es versuchen, Papa. Nachher?"
„Nachher."
Dann stehen wir auf und gehen gemeinsam nach drüben.
.........................................................
9.1.2021
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top