114 ** die letzte Hürde ** Mi. 19.2.2020

Pustekuchen - kurzer Schultag. Durch den schon wieder neuen Stundenplan hab ich die freie Stunde am Mittwoch Morgen verloren. Immerhin durften wir für die Q4 ein Fach, das wir nicht im Abi haben, abwählen. Da Erdkunde in Randstunden gerutscht ist und ich damit den Donnerstag Abend entzerren kann, habe ich das drangegeben. Spanisch wollte ich noch behalten, weil mir die Sprache ja Spaß macht.

Also quäle ich mich so früh wie immer aus dem Bett. Ranzen ist schon gepackt, beim Frühstück bin ich auch nicht alleine, ich lese noch die Geburtstagspost, die gestern Mittag erst angekommen ist. Und dann radeln Lasse und ich zur Schule. Am Eingang der Schule nimmt er mich einmal fest in die Arme.
„Du schaffst das. Wir glauben alle ganz fest an dich. Los, zeigs ihnen!"
Auch meine anderen Kumpel im Kurs drücken mir fest die Daumen.

Herr Severin kommt rein, grüßt uns ganz herzlich von „Frau Süß", scheucht uns auf unsere Plätze und teilt die zwei wählbaren Vorschläge für die Klausuren aus. Anni hat gewusst, wie sie am Schluss mit mir lernen muss. Ich stelle schnell fest, dass es in jedem Vorschlag nur zwei, aber sehr komplexe Aufgaben sind, bei denen ich alles Mögliche anwenden muss. Also mache ich es wie bei der Klausur im November. Ich lese beide Klausurvorschläge durch, entscheide mich für einen und schreibe erstmal alle Rechenschritte an den Rand.
Fühlt sich toll an, wenn da kaum noch Lücken drin sind!

Und dann rechne ich die Aufgaben konzentriert durch. Ich bin mir nicht immer sicher, einmal weiß ich sogar genau, dass ich auf dem völlig falschen Dampfer bin. Aber es läuft gut. Ich muss ja mindestens sieben Punkte schaffen, damit ich mit Mathe im grünen Bereich bin. Aber ich werde rechtzeitig fertig, kontrolliere nochmal die komische Stelle, weiß aber immer noch nicht, wohin ich mich da verrannt habe, und kann nur hoffen, dass diese Stelle mich nicht mit der gesamten Aufgabe aus der Bahn wirft. Vorsichtig optimistisch gebe ich meine Klausur ab und trolle mich zu den anderen nach draußen.

Moritz, Lasse und Paul sehen mir erwartungsvoll entgegen, als ich schließlich auf den Hof komme.
„Und?"
„Und??"
„Und???"
Ich grinse mir eins.
„Wenn mein Gefühl mich nicht trügt, dann habe ich es geschafft."
Lautes Indianerfreudengeheul schallt über den Hof. Wir ernten eine ganze Menge verwirrter Blicke. Aber das ist mir grade sowas von egal.

„Lasst mich mal eben Anni schreiben."
Der Einfachheit halber spreche ich ihr lieber die Nachricht auf. Ich sage ihr, für welchen Vorschlag ich mich entschieden habe, und grob, wie ich die beiden Aufgaben gelöst habe. Ihre Antwort kommt schnell, vielleicht hat sie ja grade Pausenaufsicht und Zeit zu reagieren. Bei den meisten Unsicherheiten habe ich richtig geraten. Und an der einen Stelle habe ich wohl - so ihre Theorie - mich zweimal verrechnet und dadurch doch das richtige Endergebnis rausbekommen. Sonst wäre nämlich die komplette Aufgabe im Eimer gewesen.

Nach der Schule sause ich nach Hause, mache meine Hausaufgaben und lerne konzentriert nochmal für die Klausur in Geschichte am Freitag.

Noch so ein letztes Mal ... Die nächsten Monate werden eine endlose Kette von letzten Malen sein.
Ich kann mir noch überhaupt nicht vorstellen, nicht mehr zur Schule zu gehen. Seit zwölf Jahren wird mein Leben von Schulzeit und Ferien, von Vokabeln und Formeln und Noten geregelt.
Und das soll alles im Juni einfach so vorbei sein?

Sebastian piept mich an, und seine Nachricht ist nahezu euphorisch.
„Antoine kommt nächsten Donnerstag nach Hause!"
Antoine hatte zwischendurch nochmal einen heftigen Hänger, weil er versucht hat, mit seinen Eltern Kontakt aufzunehmen. Und die haben ihn so subtil in die Mangel genommen, dass er schier verzweifelt ist. Seine Therapeuten mussten ihn ziemlich wieder zusammen kratzen, konnten ihm aber daran aufzeigen, wie diese Manipulations-Mechanismen greifen. Daraufhin hat er geübt, das rechtzeitig zu erkennen und dem sicher zu begegnen. Er hat viel an seinen Triggern gearbeitet und sich allmählich freigeschwommen. Die zarte Beziehung mit Sebastian und die gemeinsame Suche nach der neuen Identität halten an. Ich freue mich einfach ganz riesig für die beiden.
Mal sehen, was wir auf die Beine stellen werden zur Begrüßung.

Ein Blick zur Uhr - Anni wird für den Rest dieses Schuljahres nicht mehr ins Klettertraining gehen sondern sich auf ihre Sonderschüler und auf mein Abi konzentrieren. Also nutze ich den „angebrochenen Nachmittag" und frage bei ihr an, ob sie Zeit hat. Die Antwort ist eindeutig. Ich vermumme mich wintertauglich, schwinge mich auf mein Rad und sause zu Anni.

Kurz gehen wir gemeinsam die Klausur von heute morgen durch, denn Anni hat die ja noch im Computer. Wenn meine Erinnerungen mich nicht täuschen, dann könnte ich die sieben Punkte geschafft haben. Wir freuen uns vorsichtig ein bisschen vor. Aber ansonsten ist uns eigentlich eher nach Abhängen zumute.
„Du, sag mal, Anni. Kuckst du gerne Filme? Und wenn ja, was für welche?"
Anni muss nicht lange überlegen.
„Ich mag eigentlich alles außer Thrillern, so richtig fiesen Sachen, Psychoterror und Action-Blockbustern. Aber ob Du mit Historienschinken, Oldies, Romantiksachen, gut gemachten Animationsfilmen oder so was Modernem wie Sherlock kommst - das ist mir eigentlich egal. Und du?"

„Ich steh auch nicht auf die Ballerfilme. Marvel ist was anderes, das mag ich gerne. Sowas wie Sherlock auch. Und es gibt einige wirklich alte Sachen, im Grunde aus der Zeit meiner Eltern und noch älter, die ich cool finde. Sowas wie die alten James Bonds oder Hitchcock oder Krimiverfilmungen á la Miss Marple. Und natürlich Tanzfilme. Auch wenn ich niemals außerhalb eines abhörsicheren Gebäudes zugeben würde, dass ich Dirty Dancing in Originalsprache richtig gut finde."
„Na dann - lass uns doch 'ne Runde glotzen. Da in dem Schrank sind unsere DVD's. Such uns was raus."

Diesen Freifahrschein lasse ich mir nicht entgehen. Ich gehe zu dem Schrank und flippe durch die beachtliche Sammlung, während Anni für Getränke und Knabberkram sorgt. Ich bleibe schließlich hängen an „Strictly Ballroom", einem australischen Tanzfilm von 1992, von dem ich noch nie was gehört habe. Außerdem macht mich neugierig, warum um die Hülle noch die Folie drumrum ist.
„Entweder ihr habt den Film geschenkt bekommen und wieder vergessen, oder ... keine Ahnung. Aber der will jetzt gekuckt werden."
Anni grinst, legt die DVD ein, und wir machen es uns auf dem Sofa gemütlich.

Wir lachen viel an diesem Abend, und das tut uns beiden unglaublich gut. Der Film hat eigentlich ein tolles Thema und viele tolle Tanzszenen. Aber alle Charaktere sind so saukomisch überzeichnet, dass wir uns nur kringeln können darüber. Egal, ob schüchtern, hinterhältig, ehrgeizig, verzweifelt, glücklich, unterwürfig, selbstherrlich ... was auch immer. Diese Mischung aus feurigem Paso Doble und menschlicher Idiotie ist einfach herrlich zum Entspannen und Runterfahren.

Hinterher lassen wir einfach leise die Musik weiter laufen und kuscheln noch. Mein rechter Arm ist um Anni geschlungen, Anni liegt an meiner Schulter, ihre Beine quer über meine geschlagen, ich genieße ihre Nähe und den Duft ihrer Haare. So viel Nähe ist zur Zeit für sie selten möglich, entsprechend genieße ich es.

„Wieviel Sommerferien haben Lehrer eigentlich wirklich? Und was wirst du mit der Zeit anfangen?"
„Anni seufzt.
„In der Regel sind Oster- und Herbstferien fürs Klausuren- und Hefte-Korrigieren da. Da kann ich mich höchstens ein paar Tage ausklinken. In den Winterferien ist schon 'ne Woche abschalten drin. Und in den Sommerferien - Also letztes Jahr war es so, dass ich in der ersten Woche die letzten Prüfungen fürs zweite Staatsexamen hatte, dann habe ich eine Woche lang nur geschlafen oder das abgelaufene Schuljahr nachgearbeitet, sowas alles. In der Mitte waren Jenny und ich zwei Wochen in Schweden - paddeln, wandern, klettern, Stockholm. Und die letzten beiden Wochen galten der Vorbereitung aufs neue Schuljahr. Survivalwoche vorbereiten, Terminkalender füllen, Themen und Klausuren durchstrukturieren. Für dieses Jahr haben wir noch gar nichts geplant. Doch ich bin sicher, dass es anders laufen wird als die letzten Jahre. Denn wir sind ja nicht mehr zu zweit."

Bei diesen Worten strahlt sie mich an und gibt mir ein paar Küsse, extrazart.
„Andersherum gefragt. Die Schulferien gehen von Ende Juno bis Anfang August. Dein Studium - hoffentlich hier - fängt an Anfang Oktober. Was willst du anfangen mit der vielen Zeit? Außer Führerschein machen?"
„Jobben für den Führerschein und einen Urlaub, Urlaub mit den Jungs - ach, keine Ahnung, wir haben da noch überhaupt nichts geplant. Aber eigentlich fände ich es schön, wenn wir in deinen Schulferien nochmal ein paar Tage zu zweit rausschlagen könnten."
„Na, das will ich doch schwer hoffen! Das wird schon. Mach erstmal das Abi fertig, krieg deinen Lieblingsstudienplatz und ein Geschwisterchen. Dann ergeben sich die Pläne ganz von alleine drumrum."

Ich lege auch noch meinen linken Arm um Anni drumrum und verschränke meine Hände an ihrer Seite. Einen ganz kurzen Moment lang spannt sie sich an und blinzelt. Sie lächelt schnell und küsst mich. Also ignoriere diesen seltsamen Augenblick und konzentriere mich auf ihr Lächeln und auf diese grünen Augen, die mir immer den Kopf verdrehen, und auf den zauberschönen Kuss.

Am Donnerstag treffen wir Jungs uns nochmal, um gemeinsam Geschichte zu lernen. Außerdem stellen wir erste Überlegungen an, wie wir Antoine begrüßen und wieder in unsere Gruppe integrieren können. Am Freitag Morgen treffen wir uns vor dem Raum für Geschi, schlagen einmal ein und legen los. Ich habe mich für Geschichte als viertes Abifach entschieden. Da werde ich also mündlich geprüft und schreibe deshalb auch hier heute meine letzte Klausur.
Es bleibt einfach komisch.

Wir gönnen uns keine Pause vor dem Endspurt. Die Lerngruppen laufen alle so weiter, jetzt abgespeckt auf die Fächer, in denen wir tatsächlich Klausuren schreiben. Aber die Mathe-Nachhilfe wird bis zu den Osterferien aussetzen. Je nachdem, wie die Vorklausur ausgefallen ist, wollen Anni und ich dann bis zu den Mündlichen sporadisch noch weiter machen.

Aber jetzt geht es erstmal nur um die drei Klausuren. Wir sind gespannt wie die Flitzebögen, wie unsere Vorklausuren ausgefallen sind. Alle Lehrer haben sich ins Zeug gelegt und die Berge schnell abgearbeitet, damit wir beim letzten Lernen noch darauf reagieren und an unseren größten Lücken arbeiten können.

In Mathe bekomme ich darum am Dienstag noch ein nachträgliches Geburtstagsgeschenk. Das hab ich mir allerdings selbst beschert beziehungsweise hart erkämpft unter Schweiß und Tränen. Herr Severin hat die Klausuren sofort am Wochenende korrigiert und gestern Frau Schiller gegeben. Find ich cool. Zumal ich 9 Punkte habe. N.E.U.N. P.U.N.K.T.E !!! Mir fallen bald die Augen aus dem Kopf, als ich das sehe.
Ich führe ein Freundentänzchen auf, während alle anderen sich schieflachen. Dann knipse ich die Note schnell für meinen Status.

Yes! Ich habs tatsächlich geschafft. Ich habe mich innerhalb von gut sechs Monaten von drei auf neun Punkte hochgearbeitet. Wenn ich dran denke, wie mutlos ich war ...
An so ein Ergebnis habe ich niemals geglaubt. Die begeisterte Reaktion von Anni geht mir runter wie Öl. Schließlich habe ich das für uns beide geschafft.

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7.1.2021

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