104 ** 4 Wochen noch ** So. 19.1.2020

Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal so glücklich war. Ich bin SOOO bis über beide Ohren verliebt in Anni und stolz und glücklich mit Anni. Vier Wochen noch! Dann bin ich 18 Jahre jung, und Anni ist wenigstens aus EINER Gefahrenzone raus. Der Abend gestern war so wunderschön. Wir haben so viel gelacht. Und die Stimmung in dem Schuppen war einfach mega. Ich hab wahrscheinlich den Altersdurchschnitt eklatant nach unten gefälscht. Diese Art kleiner Kneipenkonzerte gab es bestimmt schon immer. Nur habe ich sowas noch nie mitgekriegt.

Aber der absolute Knaller war unsere Kuschelecke. Da hat der einfach wegen uns seinen Laden umgeräumt! Und dieser bombastische Eisbecher. Dieser Wirt war cool drauf. Wir haben uns gleich einen Flyer geschnappt, wann die nächsten Konzerte sind. Ich habe keinen dieser Namen jemals zuvor gehört. Aber deshalb kriegt man die dann auch zum Anfassen nah in einer Kneipe und nicht mit dem Opernglas in einem Fußballstadion.

Der Heimweg war zäh. Ich wollte gar nicht raus aus dem Auto. Aber wir haben uns fest vorgenommen, diese Abstandsregel zu unserer Sicherheit strikt durchzuziehen. Also habe ich mich in den letzten Bummelzug gehockt, bin nach Essen gezockelt, hab mein Fahrrad an der U-Bahnstation eingesammelt und mich schließlich gegen Mitternacht ins Haus geschlichen.

Ich hatte ja von der Klinik aus getextet, dass ich mich noch ein bisschen in Wuppertal verlustieren will, um meinen Kopf zu lüften und nachzudenken. Aber erklären werde ich das vermutlich morgen doch müssen. Und ich hab mich entschieden, dass ich einfach zufällig über diese Kneipe gestolpert bin und dann ganz spontan dieses Konzert genossen habe. Hoffentlich kaufen die mir das ab, wenn ich demonstrativ mit der CD winke. Aber immerhin muss ich mir dann nicht auch noch Zeiten und Orte und Erlebnisse zusammenlügen. Diese Lügerei gegenüber Tante Jana und Onkel Thorsten geht mir schon gewaltig gegen den Strich.

Getreu nach dem Motto „wer spät feiern kann, kann auch früh aufstehen" quäle ich mich also aus meinen schönen Träumen, schnappe mir in der Küche im Vorbeigehen einen Apfel, trabe wieder hoch und setze mich an den Schreibtisch. Weil ich ja bei Papa war, hab ich gestern die Sprach-Lerngruppe bei Paul verpasst und hole die Inhalte als erstes nach. Netterweise haben die beiden mir dazu eine ausführliche Mail geschickt. Dann kommen die üblichen Arbeitsberge – letzte Hausaufgaben der vergangenen Woche machen, Lerngruppen und Mathe-Nachhilfe nachbereiten, die eigene Lerngruppe für Montag Morgen vorbereiten.

Mittendrin höre ich plötzlich ein Räuspern von meiner Zimmertür her und zucke etwas zusammen, weil ich mich grade so konzentriert habe. Dann kommt Tante Jana ganz ins Zimmer, schließt sorgfältig die Tür und hockt sich auf mein Bett. Ich habe keine Ahnung, was jetzt kommt – jedenfalls kein Smalltalk, soviel ist mal sicher. Also lege ich meinen Stift weg, hole tief Luft und drehe mich zu ihr um, um mich ganz auf sie zu konzentrieren. Irgendwas lauert hinter ihrer Stirn, das ich noch überhaupt nicht greifen kann.
Jetzt bloß die Nerven bewahren!

„Max?"
„Hm?"
„Wer ist Anni?"
„Wie bitte???"
Ach, du Scheiße! Woher ...
„Entschuldige bitte, ich komme mir völlig bescheuert vor. Du schlitterst grade mit einem ungeheuren emotionalen Energieaufwand durch dieses ganz wichtige Jahr. Wir halten dir den Rücken frei, weil wir alle wollen, dass du heil da durchkommst und dir deine Träume erfüllen kannst. Wir bewundern dich für dein Durchhaltevermögen, bejubeln jede deiner guten Noten, verstehen jeden Tränenausbruch und jeden Wunsch nach Alleinesein. Du bist uns unglaublich wichtig."
„Aber?"
Woher kennt sie diesen Namen!?!

„Ja. Aber. Genau das ist mein Problem. Wir vertrauen dir vollkommen. Aber ich habe das Gefühl, dass du uns nicht mehr vertraust. Du hast mir irgendwann im Advent deine fertige Facharbeit zu lesen gegeben, ich bin immer nicht dazu gekommen. Ich kannte bisher nur den Rohbau. Vor ein paar Tagen hatte ich endlich Luft dazu und habe mit großem Staunen diese spannende Arbeit und diese reife Leistung gelesen. Auch die Widmung. Und ... vielleicht spinne ich ja. Ich hab auch noch mit niemand anderem gesprochen und auch nicht versucht, Lasse auszufragen. Aber – wer ist Anni?"

Da isses. Der Moment, wo ich einfach nicht mehr lügen will. Aber wie kann ich Anni verraten? An die Frau, die zur Zeit meine Erziehungsberechtigte ist? Wie wird Tante Jana reagieren? Wird sie nicht genau das selbe denken, wie ... Verführung, Erpressung, Betrug, blablabla. Ach scheiße! O.K. - ich gebe so wenig wie möglich preis, bleibe aber absolut bei der Wahrheit.

„Anni ist meine Freundin. Sie ist wundervoll, sie stärkt mir den Rücken, sie inspiriert mich."
„Aber?"
Das nennt man dann wohl: „den Spieß rumdrehen" ...
„Aber sie ist etwas älter als ich und könnte deswegen in Schwierigkeiten geraten. Darum halten wir das noch geheim. Wir wollen uns unbeobachtet und ohne Vorurteile besser kennen lernen können. Und wenn es uns gelingt, zufrieden und glücklich ein Paar zu sein, dann werden wir uns im Sommer outen."

Ich sehe es hinter ihrer Stirn rattern.
Wieviel sie noch nachbohren soll. Wieviel Reife und Vernunft sie mir zutrauen kann. Wie es sich für sie anfühlt, dass ich etwas so wichtiges in meinem Leben vor ihr verberge, nachdem ich ihr mein ganzes Leben lang immer alles anvertraut habe.

Tante Jana holt grade Luft, um wieder etwas zu sagen, da komme ich ihr zuvor.
„Pass auf. Es gibt für mich kaum etwas Schlimmeres, als euch zu belügen oder grade vor dir etwas geheim zu halten. Es fühlt sich auf Deutsch echt beschissen an. Doch wir haben zwei Hürden. Eine davon ist mein achtzehnter Geburtstag in vier Wochen. Aber die andere ist eben erst im Sommer. Ich verspreche dir, dass ich durch diese Frau weder in Alkohol-, Drogen- oder sonstige falsche Kreise gerate. Ich verspreche dir, dass ich nicht in einem Jahr mit einem Kind von ihr da stehe. Ich verspreche dir, dass ich meine Lebensplanung nicht nach ihr sondern nach meinen Bedürfnissen, Interessen und Notwendigkeiten ausrichten werde. Ich werde mich nicht verschulden oder verführen oder erpressen lassen. Ich werde nichts Illegales mit oder wegen ihr tun. Sie tut mir einfach gut. Und ich ihr. Und das fühlt sich so wunderbar an. Das ... das ist ... einfach ein Geschenk!"

Ihr Blick wird weicher und ist nicht mehr so forschend.
„Das gönne ich dir doch, Max. Von Herzen. Ich frage jetzt nicht weiter. Diese Anni ist jetzt ein wichtiger Teil deines Lebens. Wir werden sie eines Tages kennen lernen, wenn ihr dann noch ein Paar seid. Du klingst, als ob du weißt, was du tust. Das alles beruhigt mich ein bisschen. Ich habe nur noch eine Bitte."
„Ja?"
„Wir ... warst du gestern Abend mit ihr unterwegs?"
„Ja. Sie hat mich in Remscheid am Bahnhof abgeholt, wir sind dann tatsächlich nach Wuppertal gefahren. Und dort waren wir in einer coolen Esskneipe mit Konzert und hatten einen unglaublich schönen Abend miteinander. Wir sind so zeitig dort aufgebrochen, dass ich noch eine vernünftige öffentliche Verbindung nach Hause bekommen konnte, und ..."
„Ein Kneipenkonzert! Toll. Thorsten und ich haben das geliebt, als er im Studium war und wir noch keinen Babysitter ablösen mussten. Was habt ihr denn gehört?"

„... Ist ... das ..."
Meine Sorge steht mir wohl auf die Stirn geschrieben.
„... keine Fangfrage, Max. Du wirkst durch und durch ehrlich. Es ist nur ... Du hast schon so viel verloren. Und ich auch. Du bist das, was mir von meiner Schwester geblieben ist. Ich ... hatte ein bisschen Angst, dass ich jetzt dich verliere. Kannst du das verstehen?"
Ich stehe auf, nehme sie in die Arme, schicke kurz ein stummes Dankgebet zum Himmel, dass sie mir glaubt, und drücke sie fest.
„Ja, das verstehe ich. Warte, pass auf!"

Ich schnappe mir die CD, die neben meiner Anlage liegt, rupfe die Folie runter und lege die Scheibe ein.
„Das war eine schottische Folkband. Da war sogar ein Dudelsack dabei! Und die Stimmung war soooo irre!!!"
Wir hören uns das erste der Lieder an, und Tante Jana ist genauso wie ich sofort gefangen von der tänzerischen Musik.
„Klingt gut! Und im Grunde ist es gut, wenn du ab und zu einfach mal richtig abschaltest."
„Hmmmm."

Mein Blick schweift von der Anlage zum Fenster und fällt auf die schöne Glasfigur, die bei Sonnenschein sogar ein wenig glitzert.
„Schau mal. Das hat sie mir zu Weihnachten geschenkt."
Ich halte ihr die beiden Tänzer hin, und sie dreht die Figur hin und her.
„Die ist ganz besonders schön. Deine Anni hat einen guten Geschmack und weiß, was dir gefällt. ... Pass auf, Max. Da ihr euch geheim halten müsst. Oder wollt. ... Geh davon aus, dass wir hinter euch stehen, falls es Schwierigkeiten geben sollte. Solange wir dafür nicht einen Bankraub oder Mord decken müssen, sind wir für euch da."
Nochmal falle ich ihr spontan um den Hals.
„Danke, Tante Jana! Ich hasse dieses Versteckspiel. Ich bin froh, dass ich jetzt ehrlich sagen kann, wann ich wo bin."

„Du bist zu alt, um dich noch kontrollieren zu lassen, Max. Es geht mich ja kaum noch etwas an. In vier Wochen habe ich nichtmal mehr das Recht zu fragen. Mir ging es nur um das Vertrauen."
„Das hast du! Ganz bestimmt!"

Wir hören uns noch ein, zwei Lieder an, bevor Tante Jana auf die Uhr schaut und sich auf macht in die Küche, um das Mittagessen zu kochen. In der Tür dreht sie sich nochmal rum.
„Es ist beeindruckend, Max. Selbst gestern Abend hast du nicht gelogen. Du warst wirklich in Wuppertal. Es fühlt sich so gut an, dass ich mich so auf dich verlassen kann."
Kaum ist die Tür hinter ihr zu, lasse ich mich mit einem stummen Seufzer der Erleichterung rückwärts auf mein Bett fallen.

Das ist ja grade nochmal gut gegangen. Und ich bin soooooo froh, dass ich mich für die Wahrheit entschieden habe. Und ganz nebenbei auch darüber, dass ich Anni diesen Namen gegeben habe, denn den kennt ja wirklich niemand außer ihr selbst, Frau Tucher, Dr. Fahrendorf und meinen drei Jungs. ...

Anni. Ich muss sie anrufen, sie muss das wissen!

Da Anni jetzt wahrscheinlich genauso wie ich stramm über den Büchern sitzt, kann ich sie sicher erreichen. Ich schicke ihr eine schnelle Nachricht.
„Skypen? Wichtig!"
Ich gehe auf Skype, und kurz darauf ploppt schon Anni auf. Es ist verrückt. Sie wohnt ja nur ein paar Straßen weiter. Wir sehen uns fast täglich. Aber es ist einfach toll, dass wir uns beim Skypen unbeobachtet sehen können. Wenn sie mal nicht ihr „Lehrergesicht" aufgesetzt hat.

„Busserl, mein Schatz! Was gibts? Nachlese halten für unseren wunderbaren Abend gestern?"
Sie wirft mir eine Kusshand durch den Äther, und ich grinse daraufhin wie ein Honigkuchenpferd.
„Erinnerst du dich an meine Widmung hinten in der Facharbeit?"
„Ja, klar. Mir ist fast das Herz stehen geblieben über deinen Mut und einfach über diese Geste."
„Hm. Tante Jana hat jetzt endlich die Facharbeit gelesen."
„Uuuups. Und wieviel hat sie verstanden?"
Anni sieht jetzt besorgt aus, darum beruhige ich sie gleich wieder.
„Dass ich alt genug bin, um ihr nur noch das zu erzählen, was sie was angeht. Ich habe kurz überlegt vorhin, was ich ihr erzählen kann. Dann habe ich mich für die abgespeckte, aber reine Wahrheit entschieden. Und das war genau richtig so. Ich konnte und wollte sie nicht anlügen. Sie weiß jetzt also, dass ich eine Freundin habe, die Anni heißt, etwas älter ist als ich und mir total gut tut. Sie glaubt mir, dass wir in keine wie auch immer geartete Richtung irgendeine illegale oder hirnrissige Scheiße bauen werden. Und sie findet die Musik auch cool."

„Ah. Hat sie dich getestet?"
„Es wirkte erst so auf mich. Aber sie war einfach nur neugierig, weil sie und Onkel Thorsten früher auch gerne auf Kneipenkonzerten waren. Du kannst dir nicht vorstellen, wie froh ich bin, dass ich hier nicht mehr lügen muss. Sie hat sogar gesagt, solange wir keine Straftat begehen, steht sie hinter uns. Obwohl sie dich gar nicht kennt."
„Dir ist schon klar, dass ich durchaus eine Straftat begehe?"
„Anni. Ich liebe dich. Für mich reicht es, dass wir unsren steinigen Weg zueinander überwunden haben und uns einig und völlig glücklich sind. Und ihr reicht es, dass sie wieder das Gefühl hat, dass ich ihr vertraue. Ich habe das selbst angesprochen. Ich habe gesagt, dass wir zwei Hürden haben, und dass eine davon die Zeit bis zu meinem Geburtstag ist. Die vier Wochen haben sie überhaupt nicht gestört."

Anni sieht immer noch nicht wirklich beruhigt aus.
„Na, ... dann will ich mal dir vertrauen, dass man ihr vertrauen kann."
„Ach, Mist! Süße, jetzt hab ich dich beunruhigt. Das wollte ich nicht!"
„Nein, schon gut, Max. Ich ... muss mich nur daran gewöhnen, dass der Kreis der Mitwisser immer größer wird. Wenn wir in dem Tempo weitermachen, können wir uns das spätestens im März auf die Stirn tätowieren."
Es ist zum Auswachsen.
Ja, noch hängt für Anni mehr dran als für mich. Aber dass sie sich jetzt so fürchtet, hab ich doch nicht gewollt!

In dem Moment blinkt mein Handy neben mir, und eine WhatsApp-Nachricht schiebt sich über den Bildschirm.
„Max, ich gehe davon aus, dass du jetzt grade mit Deiner Anni telefonierst oder schreibst. Zeig ihr bitte das hier:
~Bitte sorgen Sie sich nicht. Wer auch immer sie sind. Ich vertraue Max so sehr, dass das auch für Sie gilt. Und ich freue mich darauf, Sie im Sommer kennen zu lernen. Jana Seitz~"

Ich antworte schnell.
"Woher wusstest Du DAS denn jetzt wieder?"
„Mütter haben einen siebten Sinn ..."
Ich scrolle zurück zu der Nachricht an Anni und halte sie genau vor die Laptop-Kamera.
„Siehst du das?"
„Ja, geh mal langsam rückwärts. Ja ... stop! Jetzt isses scharf."
Ich verharre mit meiner Hand in der Luft und schaue Anni zu, wie sie angestrengt auf ihren Bildschirm starrt, um die Nachricht zu entziffern. Dann schleicht sich langsam ein Lächeln auf ihr Gesicht, und sie entspannt sich.
„Seh ich Gespenster oder sie durch Wände? Grüße sie von mir. Ich freue mich auch drauf. Und jetzt sogar noch mehr."

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28.12.2020

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