103 ** endlich zu zweit ** Sa. 18.1.2020

Max hat mich angepiept direkt, nachdem er mit seinem Vater das Klinikgelände betreten hat. Ich habe den Griffel fallen lassen und bin sofort losgefahren, damit er nicht zu lange am Bahnhof in Remscheid auf mich warten muss. Jenny ist vor einer Weile zur Schule gelaufen, weil sie für ihre Lehrprobe morgen einen Versuchsaufbau in Physik vorbereiten will. So kann ich das Auto haben und bin dann mit Max frei beweglich.

Ich weiß nicht, wann wir das letzte Mal so einen Winter hatten. Seit Wochen ist das ganze Land fest im Griff von Schnee und Frost. Aber alle Straßen sind gut geräumt und sicher, und so kann man den Winter wirklich aushalten. Ich freue mich wie Bolle auf den Abend mit Max. Ich habe gestern Abend in Wuppertal eine Esskneipe mit Livemusik gefunden, wo heute Abend eine schottische Folkband auf der Bühne stehen wird. Das bedeutet Stimmung, gute Mucke und Untergehen in der Masse, die sich nicht an unserer Zweisamkeit stören wird. Der Kneipenwirt war zwar etwas erstaunt, als ich gestern einen Tisch reservieren wollte. Aber ich habe ihm wortreich und blumig erklärt, dass wir uns so selten sehen und deshalb sicher sein wollen, dass wir eine gemütliche Ecke für uns haben und blablabla, dass er schließlich eingewilligt hat, uns ein Plätzchen frei zu halten.

Endlich rolle ich durch Remscheid in Richtung Bahnhof. Als ich dort auf den Parkplatz einbiege, sehe ich Max grade auf das Bahnhofsgebäude zu laufen. Ich stelle mein Auto einfach irgendwo hin und steige aus, damit er mich gleich sieht. Und es lässt mein Herz höher schlagen, dass Max seine Schritte beschleunigt und auf einmal ganz beschwingt wirkt, sobald er mich sieht. Ich ernte grade böse Blicke von einem verkniffen aussehenden Herrn mit Hut im Benz, der durch mich nicht gut aus seiner Parklücke rauskommt. Darum springt Max schnell auf den Beifahrersitz, und ich steuere meinen Mini wieder runter von diesem Parkplatz.
Nicht, dass ich hier noch ein Knöllchen kassiere!

Da ich mich leider auf den Verkehr konzentrieren muss, verschieben wir unsere ordentliche Begrüßung auf später und begnügen uns jetzt nur mit einem Küsschen an einer roten Ampel.
„Erzähl mir von deinem Tag mit deinem Papa. Ist es gut gelaufen?"
Max holt einige Male tief Luft, bevor er mir erzählt, wie schwer es war, seinen Vater immer wieder aus der Schamecke zu locken.
„Es war so schwer, mit anzusehen, wie sehr er im Grunde in Selbstverachtung gefangen ist. Das haben Tanja und ich doch nie gewollt. Aber ich habe ihm einfach ein paar schöne Erinnerungen an uns beide aus meiner Kindheit erzählt. Ich muss ihm glaube ich zur Zeit vor allem immer wieder sagen, dass er ganz viel richtig gemacht hat. Ihm einfach Strohhalme hinhalten in Form von schönen Erinnerungen."

Ich fahre einmal sachte mit meiner Hand über sein Bein.
„Max, weißt du eigentlich, was für ein wundervoller Sohn du bist? Wenn diese Durststrecke rum ist, werdet ihr Vier eine wunderbare Familie sein. Alleine schon deshalb muss das mit der Folkwang-Uni klappen! Du wirst hier geliebt und gebraucht. Und damit meine ich nicht mich."
Max nickt stumm. Einen Moment später fährt er sich mit einem Handrücken über die Augen, während seine andere Hand tastend nach meiner sucht. Da die Strecke grade eben und trocken ist, gehe ich ein bisschen vom Gas und halte eine Weile seine Hand fest. Er drückt meine Finger dankbar, bevor er mich wieder loslässt, weil ich schalten muss.

Kurz vor Wuppertal schalte ich mein Navi ein, das ich schon vorher mit den Daten zu dieser Kneipe gefüttert hatte. Da wir recht früh sind, finden wir auch noch einen gescheiten Parkplatz und gehen schon mal rein. Der Wirt hat eigentlich bei Konzerten seine Kneipe immer mit Partygarnituren vollgestellt, damit möglichst viele Leute reinpassen und die Bedienungen noch gut durchkommen. Aber in der Nähe der Bühne hat der Saal sozusagen eine „Beule". Und dort steht extra für uns ein kleiner Tisch mit nur zwei Stühlen.
„Das ist ja toll. Herzlichen Dank! Schau mal, Max. Hier sind wir ein bisschen für uns und können trotzdem gut sehen und hören."
Die Nische scheint durch eine zugemauerte Tür entstanden zu sein. Und ich kann auf halber Höhe am Putz eine leichte Schmutzkante erkennen.

Aha, wahrscheinlich hat hier eine Kommode mit Besteck und Pfeffer-Salz-Ständern und sowas gestanden. Und er hat das extra für uns weggestellt? Wie genial!

Wir schieben beide Stühle so hinter den Tisch in die Nische, dass wir einen guten Blick auf die Bühne haben, selbst aber nicht von überall gesehen werden können und außerdem direkt nebeneinander sitzen. Dann schnappen wir uns die Karte, die der Wirt grade auf unserem Tisch abgelegt hat, und versenken unsere Köpfe darin. Wir haben schnell zwei Sachen gefunden, die uns anlachen. Der Wirt zieht mit unsrer Bestellung ab, und wir nehmen uns endlich Zeit, uns richtig zu begrüßen, indem wir uns ausgiebig knuddeln und mit Küsschen verwöhnen.

„Weißt du, was sich total toll anfühlt, Anni?"
„Du wirst es mir sicherlich gleich verraten."
Ich zwinkere ihm zu.
„Hmmmm. Bisher sind wir immer nur rumgeeiert und haben nicht vor noch zurück gewusst. Und ich hätte in den letzten vier Monaten zu keinem Zeitpunkt sagen können, was wir eigentlich sind. Außer Lehrerin und Schüler natürlich. Aber jetzt fühlt es sich so normal an, dass wir ..."
Nun wird er doch unsicher und schaut mich fragend an.
„Wir ... wir sind ein Paar. Für mich gibt es daran jedenfalls keinen Zweifel mehr, und das ist einfach ... ich fühle mich so beschenkt, weil ..."

Lächelnd nehme ich seinen Kopf zwischen meine Hände und beende seine Wortsuche mit einem Kuss.
„Ja, Max. Genau das fühle ich jetzt auch. Wir sind ein verrücktes, ungewöhnliches, ein bisschen gestresstes, sehr verliebtes und einfach wundervolles Paar. Und ich bin darüber unglaublich glücklich. DU machst mich glücklich."
Max wird ein bisschen rot um die Nase, bevor er seinen Blick in meinem versenkt und mich damit mal wieder völlig lahmlegt. Beziehungsweise ... mein Gehirn. Oder so. Allmählich komme ich zu der Überzeugung, dass Max für diese unverschämt braunen, glänzenden, strahlenden und einfach unvergleichlich schönen Augen eigentlich einen Waffenschein beantragen müsste. Aber ich weiß nicht mehr so genau, weil sich nun meine Großhirnrinde endgültig ins synaptische Chaos verabschiedet.

Erst die Hand des wissend schmunzelnden Wirtes mit unseren beiden Tellern holt mich wieder aus der Versenkung. Etwas verwirrt trete ich einfach die Flucht nach vorn an und grinse zurück. Max wiederum beobachtet diesen stummen Blickkontakt, durchschaut meine Gedanken – und schmeißt sich vor Lachen bald weg. Das gibt mir die Gelegenheit, ungehindert zuzugreifen und ihn im Nacken zu kitzeln.

Bingo – Volltreffer! Das ist also DEINE „Wade von hinten".
Max quiekt nämlich erschrocken auf und zieht schnell den Kopf zwischen die Schultern. Der Wirt dreht sich um und geht mit vor lauter Lachen leise bebenden Schultern zurück zu seinem Tresen.

Wir brauchen eine Weile, bis wir uns wieder wie gesittete Menschen benehmen und uns unserem Essen zuwenden können. Aber genau deshalb sind wir ja hier. Damit wir uns endlich mal völlig ungezwungen albern benehmen und rundum glücklich sein können. Ein Blick aus unserer Nische bestätigt mir, dass es richtig war, so früh hierher zu kommen. Die Kneipe füllt sich schnell, und alle anderen Gäste werden darum mit Sicherheit deutlich länger auf ihr Essen warten müssen, während wir uns genüsslich über die riesige Schüssel voller buntem Salat mit Putenbruststreifen und eine unglaublich leckere Gemüsequiche hermachen können.
Wir lehnen uns grade mit einem glücklichen Seufzer in unseren Stühlen zurück, als auf der Bühne Unruhe aufkommt. Es ist noch dunkel dort, aber Stühle rücken, das leise Stimmen einer Gitarre oder sowas, geflüsterte Fragen und Antworten dringen doch durch den Geräuschpegel der Kneipe zu uns in die Nische und erhöhen unsere Vorfreude.

Überall wuseln mit Speisen beladene Kellner rum und bedienen im Akkord die zahlreichen Gäste. Der Koch muss hinten in seiner Küche wahre Meisterleistungen vollbringen. Der Wirt steht gut gelaunt hinter seinem Tresen und zapft schäumendes Bier am Fließband, Gläser klirren aneinander, die Stimmung ist schon großartig, bevor die Musik überhaupt angefangen hat. Plötzlich kommt einer der Kellner auf uns zu und stellt uns einen riesigen Eisbecher mit zwei Löffeln vor die Nase.
„Schöne Grüße vom Chef. Geht aufs Haus."
Verblüfft starren wir dem Mann hinterher, der schon wieder in einer anderen Ecke der Kneipe rumwuselt. Dann richten wir unseren Blick zum Tresen, hinter dem der grinsende Wirt steht und uns kurz zuzwinkert.

Hat was.

Eigentlich sind wir beide pappsatt. Aber dann treten wir doch den Beweis für den alten Spruch an: Eis geht immer. Als wir beide das Gefühl haben, dass wir uns keinen Schritt mehr bewegen können, ohne zu platzen, geht endlich auf der Bühne an der Stirnwand des Saales das Licht an, und wir sehen als erstes einen großen, kräftigen Mann mit ausgeprägter Glatze und zum Ausgleich einem ebenso imposanten Vollbart, der seine Mandoline ansetzt und dermaßen gut gelaunt drauflos klimpert, dass schon jetzt die ersten aufspringen und begeistert pfeifen.

Schnelle Rhythmen von Geigen und einem Dudelsack heizen die Stimmung weiter an. Und Max, der ja doch eher mit junger Musik vertraut ist, fängt bald an, auf seinem Stuhl mitzuhibbeln, weil diese Folksongs einfach zum Tanzen herausfordern. Irgendwann greift der Sänger sogar zu einer Bonsaivariante eines Akkordeons, um sich selbst bei einer Ballade zu begleiten.

Max hat wirklich recht. Zum ersten Mal sitzen wir wie ein ganz normales Paar in einer ganz normalen Kneipe bei einem ganz normalen Konzert, essen ganz normal ein Essen, unterhalten uns ganz normal und denken keine Sekunde darüber nach, wer uns sehen und sich was dabei denken und wie auch immer darauf reagieren könnte. Wir blenden unser Alter, unsere Rollen und all unsere Schwierigkeiten aus und sind einfach da – und glücklich.

Zum ersten mal sitzen wir da wie andere Pärchen beim Kennenlernen und erzählen uns von unseren Familien, von unserer Kindheit, von Urlauben und Träumen und Macken. Und das allerschönste: wir ticken so ähnlich, dass wir unglaublich viel miteinander lachen. Dann blitzen jedesmal seine Augen auf, und ich erkenne wieder den unbeschwerten Max aus dem elften Jahrgang, der fröhlich und selbstbewusst seinen Weg geht und das Leben mit Humor nimmt.

Wir können reden über den Herbst, in dem wir so umeinander rum geschlichen sind. Ich erzähle Max, wie ich im Oktober die Isenburg entdeckt habe. Er erzählt nun auch mir die Geschichte von dem Angelurlaub mit seinem Vater. Und: wir reden nicht eine Sekunde lang über Schule.

Fast drei Stunden später beschließen wir nach dem donnernden Schlussapplaus für die großartige Truppe, uns noch eine CD der Künstler zu kaufen und sofort aufzubrechen, denn Max sollte heute noch nach Hause kommen und wenigstens halbwegs plausibel begründen können, wo er so lange gesteckt hat. Und er muss ja auch noch irgendein öffentliches Verkehrsmittel erwischen können, denn ich darf ihn nicht vor die Tür fahren. Wir geben dem Wirt ein sehr großzügiges Trinkgeld, und ich bekomme meine Vermutung bestätigt, dass der Mann extra für uns die Nische leergeräumt hat, um mir meinen Wunsch zu erfüllen.
„Ich habe übrigens beschlossen, dass ich in Zukunft immer eine „romantische Ecke" anbieten werde. Das muss man dann rechtzeitig buchen und sich sein fürstliches Mahl vorher aussuchen. Der Schrank kann ja nun wirklich irgendwo anders stehen."

 Gleich, nachdem wir aufgebrochen sind, googelt Max nach den Bahnen. Es gibt noch einen durchgehenden Bummelzug zum Hauptbahnhof Essen, weshalb ich ihn schweren Herzens in Wuppertal am Bahnhof wieder rausschmeiße und mit einem Küsschen in die Kälte verabschiede. Aber gleichzeitig weiß ich, dass dieser Abend uns beiden unglaublich gut getan und uns Kraft für die nächste Woche gegeben hat.

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27.12.2020

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