096 ** Hochschule Köln ** Sa. 4.1.2020
Anni hat nur gelacht, als ich gestern Abend nochmal in der Tür stand. Aber immerhin – sie ist mir selbst entgegen gelaufen. Ich habe sie fest in die Arme genommen und mein Gesicht in ihren Wuschelhaaren vergraben.
„Ich brauch Vorrat. Sonst halte ich das nicht vier Tage lang ohne dich aus!"
„Verliebter Gockel!"
„Wie bitte??? DEIN verliebter Gockel bitteschön. Ich erwarte etwas mehr Respekt!"
Hätte der liebe Gott das Küssen nicht erfunden – man müsste ihm ernsthaft böse sein ...
„Ist noch mit irgendwelchem Besuch zu rechnen, der mich nicht sehen darf?"
„Nönö. Meine Eltern waren heute schon da. Jenny und Lennart auch. Mein Freund auch. Mein Arzt hat ausnahmsweise mal Feierabend, die Nachtschwester weiß Bescheid."
Und lachen würde auch ganz extrem fehlen in dieser Welt ...
Tausend kleine Lachfältchen entstanden rund um Annis Augen, als sie mich frech angeblitzt hat.
„Erzähl mir von der Uni."
Wir haben uns auf ihr Bett gekuschelt.
„Es war verwirrend, cool, spannend, langweilig, erhellend, ..."
„Was denn nu?"
„Naja – alles! Das Gelände ist groß und unübersichtlich. Pina Bausch wird gottgleich verehrt. Die Vorführungen waren klasse – besonders die, wo Moritz plötzlich den HipHopern dazwischen gegrätscht hat und der ganze Saal zu kochen anfing."
„Das ist mal wieder typisch. Moritz kann gar nicht anders, oder?"
„Nö. Aber ich auch nicht. Es haben sich viele einzelne Kurse kurz präsentiert, um einfach einen Einblick zu geben. Irgendwann kamen auch ein paar Leute mit dem Thema Improvisation, die uns ausdrücklich aufgefordert haben, einfach mitzumachen. Da war ich natürlich als erster auf der Bühne."
Eine Weile waren wir still, saßen nur gemeinsam auf Annis Bett, erforschten gegenseitig unsere Hände.
„Und morgen Köln?"
„Hm. Morgen Köln und Montag Frankfurt. Aber unser Herz schlägt jetzt schon in Essen."
„Dann ... halt mich nochmal ganz fest. Am Dienstag kann ich wahrscheinlich nach Hause. Und ab Mittwoch ..."
Ich hab sie an mich gezogen und sie ganz dolle gekuschelt.
„Ab Mittwoch ist wieder Schule, und du wirst dich so auf die Sonderpädagogik konzentrieren und so einen Spaß daran haben, dass ich nicht mehr so wichtig bin. Und ich glaube tatsächlich, dass das gut ist. Ich schalte um auf Endspurt zum Abi, du auf die neue Aufgabe. Wir sehen uns ein bis zweimal in der Woche bei dir zur Nachhilfe. Und vielleicht können wir uns noch ab und zu abseilen für einen Tag."
Anni hat sich an mich gelehnt und sich entspannt.
„Machst du dir gar keine Sorgen?"
„Doch ... schon. Aber mehr um dich als um mich."
Anni hat gelächelt. Aber eine seltsame Schwingung war im Raum – wir wussten beide, wir haben noch nicht gewonnen. Ich hab ihr in ihren Wuschelschopf gegriffen und ihren Kopf zu mir gezogen.
„Komm her! Wir müssen einfach darauf vertrauen, dass wir das schaffen. Sonst machen wir uns verrückt."
Doch ... definitiv. Ohne Küsse würde der Welt was fehlen ...
„Schlaf jetzt gut, Schatz. Und ich trolle mich, ich muss noch packen, und es geht morgen früh los. Ich melde mich zwischendurch ab und zu und am Dienstag aus dem Zug, damit wir abschätzen können, ob wir uns nochmal sehen können."
„Ich hab dich lieb, Max!"
„Ich dich auch. Und wie!"
Inzwischen kenne ich mich im Huyssenstift aus wie in meiner Westentasche, darum war ich schnell draußen bei den Fahrradständern.
KLICK.
Dankeschön ...
Ich bin ganz schnell nach Hause geradelt, hab gepackt und bin ins Bett. Aber ich habe sehr unruhig geschlafen. Jetzt ist es kurz vor 8.00 Uhr, ich stehe unausgeschlafen und fröstelnd mit Lasse am Hauptbahnhof, und wir warten auf Moritz und Paul. Thorsten hat uns auf dem Weg zur Kanzlei hier rausgeworfen. Naja – Lasse wartet. Ich ... denke an Anni.
Himmel, das nimmt ja Ausmaße an! Ich hab gut reden mit „Wir konzentrieren uns auf die neue Aufgabe und aufs Abi, dann wird das schon." Im Moment sieht mein Hirn das ziemlich anders.
Moritz und Paul kommen von der U-Bahn hochgejoggt.
„Uaaah, Leute! Nicht so energisch am frühen Morgen. Wie geht das denn???"
Moritz lacht mich aus.
„Vorfreude ist eine ziemlich starke Antriebskraft."
„Um 8.00 UHR???"
„Wenn du die Wahl hättest, morgens um 6.00 Uhr oder abends um 6.00 Uhr zu deiner Freundin zu gehen, dann würdest du auch hoch motiviert schon morgens da aufschlagen."
Ich muss grinsen.
Womit wir wieder beim Thema wären ...
„Stimmt auch wieder."
Wir haben Glück, denn wir haben noch einen Vierertisch im Großraumwagen bekommen, obwohl wir so spät gebucht hatten. Wir heben unsere Rucksäcke ins Gepäcknetz und hocken uns hin.
„Wann sind wir in Köln?"
Ich gähne unüberhörbar und halte mir dann schnell die Hand vor den Mund.
Peinlich!
„In etwa anderthalb Stunden."
„Danke, Paul. Also ich besorg mir jetzt'n frischen Tee. Kommt wer mit?"
Moritz steht auch auf, nimmt von den beiden anderen die Bestellung entgegen, und dann laufen wir los in Richtung Bordbistro. Das hat zwar gepfefferte Preise aber dafür auch unsere „Drogen".
Da wir nicht die einzigen sind, die auf diese Idee gekommen sind, stehen wir ein bisschen Schlange. Aber nach zwanzig Minuten sind wir mit den vier Getränken wieder am Platz. Was Heißes zu trinken tut jetzt einfach gut. Allmählich werden wir wacher und richten unsere Konzentration auf die Uni in Köln.
„Paul, das hast du doch vorbereitet, oder?"
Paul nickt und zückt ein paar Notizen, um uns alle einzustimmen.
„An der Hochschule für Musik und Tanz Köln bildet der Bachelor mit seiner grundständigen Ausbildung und seinen Schwerpunkten Bühnentanz und Tanzvermittlung das Kernstück des Studiums. Er wird ergänzt und weitergeführt durch den Master-Studiengang Tanzwissenschaft."
Moritz zieht den Kopf ein.
„Das kann ich vergessen. Ich mein'- natürlich werde ich mir Mühe geben, aber die kommen schon so staubtrocken daher. Und ein Master in Tanzwissenschaft interessiert mich nicht die Bohne."
Paul stimmt ihm zu.
„Wenn die so humorlos sind wie dieser eine klassische Balletttänzer gestern, dann ist das sogar mir zu langweilig. Da steht zwar auch was von vielseitig und interdisziplinär. Aber dieser Flyer wirkt einfach strunzenkonservativ."
Ich versuche, die Stimmung wieder hochzuziehen.
„Wartets ab. Deshalb fahren wir ja jetzt da hin. Wir machen es wie gestern und sehen zu, dass wir mit älteren Semestern ins Gespräch kommen. Der Flyer muss nicht die tatsächliche Atmosphäre widerspiegeln."
Etwas entspannter lehnen sich alle zurück, daddeln oder dösen.
War halt doch echt früh heute morgen ...
In Köln fragen wir uns zu einem Infoschalter durch, wo wir erfahren, wie wir zur Hochschule kommen. Kurz fällt mein Blick auf den imposanten Dom direkt neben dem Bahnhof, aber die anderen sind schon losgelaufen, also flitze ich hinterher.
Die Hochschule liegt in der Altstadt. Aber damit hören die Gemeinsamkeiten auch schon auf. Statt Schnuppervorführungen gibt es Informationsveranstaltungen und Rundführungen. Hier gibt es auch einen freundlichen Mann im Glaskasten und endlose Meilen von Pinnwänden und Info-Tafeln. Das Essen in der Mensa schmeckt mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit besser als in Essen. Aber insgesamt ist die Stimmung tatsächlich konservativer und ... irgendwie ... weniger familiär. Schon nach drei Stunden qualmt uns der Kopf dermaßen vor lauter neuer Informationen, dass wir total erschlagen in eine Pizzeria nebenan schleichen, um unsere Köpfe zu lüften.
Wir bestellen unser Essen und sacken demotiviert in unseren Stühlen zusammen.
„Boah, Leute. Ganz ehrlich? Wenn man hier rauskommt, ist man Starballetttänzer. Aber man hat keine Freunde und keine Freude mehr. Der eine Prof hat was von gesundem Konkurrenzdenken geschwafelt. DAS ist nicht mein Bild von einem vielseitigen und interdisziplinären Studium."
„Und ich habe mich nicht umsonst bei Luis so vielseitig ausbilden lassen, damit ich hinterher doch nur klassische Ballettratte bin."
Lasse schaut Moritz und Paul an und grinst.
„Mäxchen, könntest du die Liebenswürdigkeit besitzen und uns verraten, was eigentlich hinter deiner hübschen Stirn abgeht?"
Ich boxe ihm erstmal für das Mäxchen kräftig vor den Arm und befriedige dann seine Neugierde.
„Es ist schon alles gesagt. Wir können uns nicht leisten, bei dem Konkurrenzdruck nur auf eine Uni zu setzen. Wir werden uns also hier bewerben. Aber Folkwang hat mich bei weitem mehr überzeugt."
Lasse grinst noch breiter.
„Wollt ihr da nochmal rüber und euch noch mehr anhören – oder ..."
„ICH kann gerne jetzt schon nach Frankfurt weiterfahren."
Paul bestätigt Moritz Ansage, und so ist die Entscheidung schnell gefallen. Wir haben extra für die nächste Etappe keine zuggebundenen Karten gekauft, damit wir frei entscheiden können, wann es weiter geht. Also bezahlen wir unser leckeres Essen, schnappen uns unsere Rucksäcke und erfragen den Weg zurück zum Bahnhof.
Die Fahrt wird spannend, denn wir fahren mit diesem Hochgeschwindigkeits-ICE. Es ist schon beeindruckend, wenn man tatsächlich deutlich schneller als die ganzen BMW's und Sternchen auf der Autobahn ist. Aber meistens sind hohe Sichtwände zwischen Bahn und Autobahn. Lasse starrt irritiert aus dem Fenster.
„Warum ballern die das so zu?"
Ich beuge mich auch vor.
„Siehst du da den knallroten Porsche? Der fällt mir jetzt zum dritten Mal auf. Ich gehe jede Wette ein, dass der sein kleines Privatwettrennen gegen unseren Zug fährt. Und dafür ist die Autobahn heute eigentlich zu voll. Ich vermute, dass die Sichtwände die Verlockung verringern sollen."
Nach nur einer Stunde landen wir am Frankfurter Hauptbahnhof. Moritz hat uns unterwegs einiges über die Hochschule erzählt. Und Lasse war dafür zuständig, sich über Frankfurt zu informieren. Während er uns zur richtigen U-Bahn in die Tiefen unter dem Bahnhof lotst, gibt er uns eine erste Orientierung.
„Frankfurt liegt nördlich und südlich des Mains und ist sehr alt. Mitten in der Stadt liegen sogar Römertrümmer. Es gibt eine große Fußgängerzone. Die historische Altstadt hat im Krieg ein gutes Streichholz abgegeben, aber einiges Alte ist doch noch erhalten. Bemerkenswert ist die Anzahl der kleinen und großen Museen. Das Südufer des Mains heißt sogar richtig ‚Museumsufer'. Außerdem wurden hier deutsche Kaiser gewählt und gekrönt. Frankfurt steht für den Römer wegen der Kaiserwahlen, für die Paulskirche wegen 1848 und so und für Goethe, der hier geboren wurde."
„WOW! Na, auf den Knaben können wir doch demnächst verzichten. Einmal Faust – nie wieder Faust."
„Moritz, du Kulturbanause! Das ist die zweitwichtigste Wortanhäufung in deutscher Sprache nach der Bibelübersetzung von Luther."
Strafend schaue ich ihn von der Seite an, aber Moritz lacht mich nur aus.
„Quatsch! Komm, da gehts zur U-Bahn."
Schon nach wenigen Minuten krabbeln wir wieder raus aus der U-Bahn. Den Rest zur Jugendherberge müssen wir laufen, aber dabei bummeln wir am Dom vorbei, auf die alte Mainbrücke und über die Maininsel nach Sachsenhausen. Wir kriegen ein Viererzimmer in der Herberge, parken unseren Krempel und bummeln dann durch Sachsenhausen. Wir haben heute so viel gesessen und nur mit dem Kopf gearbeitet, dass wir jetzt alle dringend Bewegung brauchen. Hier stehen noch viele alte Häuser. Es sieht ein bisschen aus wie in Rüttenscheid, wir fühlen uns also gleich wie zu Hause.
Moritz schaut an einer renovierten Fassade hoch und reckt sich dabei ausgiebig.
„Wenn die Hochschule nicht genau auf der anderen Seite der Innenstadt wäre, würde ich ja sagen – hier irgendwo ist unsere zukünftige Wohnung. Aber das scheint ziemlich Szene und in zu sein. Da kriegt man als Student wahrscheinlich sowieso keinen Fuß auf den Boden, weil die Preise zu gepfeffert sind."
Zahllose Dönerbuden, Kneipen und „Äppelwoi"-Ausschanke sind in diesen Straßen zu finden. Wir können uns schon denken, dass es sich dabei um Apfelwein handelt, weil wirklich jedesmal ein Apfel mit auf dem Schild ist, aber Genaueres finden wir nicht raus.
Außerdem fange ich an zu frieren.
„Jungs, lasst uns irgendwo reingehen und das Geheimnis im Praxistest lüften. Es wird dunkel, es ist kalt und ich hab einen Mordshunger."
Wir steuern wahllos das nächste hell erleuchtete Lokal an und setzen uns an einen Tisch. Um uns drumrum ist sehr gemischtes Publikum, aber da wir in der Nähe vom Tresen sitzen, können wir gut hören, dass die älteren Herrschaften dort alle Dialekt reden.
Sind wahrscheinlich alles Stammgäste. Ich versteh jedenfalls kein Wort.
Eine Kellnerin kommt zu uns an den Tisch, erklärt uns in aller Ruhe und in ziemlichem Dialekt, was „Äppelwoi" ist und in welchen Darreichungsformen man ihn genießen kann, nimmt unsere Bestellung auf und bringt uns dann noch eine kleine Karte mit Speisen.
„Gibts hier was typisch Frankfurterisches?"
Kurz darauf verschwindet sie wieder mit unsrer Bestellung von viermal Frankfurter Rindswurst mit Kartoffelsalat.
„Eigentlich hatten wir doch grade genug Kartoffelsalat, oder?"
Wir müssen alle grinsen und an das Weihnachtsbrunch denken. Wir essen uns satt an der wirklich leckeren Wurst und gehen dann zurück zur Herberge.
Die Betten sind schnell verteilt, das Bad eingeweiht, und dann gammeln wir einfach noch ein bisschen, bevor nach und nach unsere (Handy)-Lichter ausgehen. Ich bin schon fast weg, da brummt mein Handy unterm Kopfkissen. Schnell greife ich danach, um es auszumachen. Aber dann sehe ich, dass es Anni ist. Ich stelle alles stumm, ziehe mir die Decke über den Kopf und antworte ihr gleich per WhatsApp, dass die anderen schon schlafen und wir deshalb nicht mehr reden können. Spontan werde ich mit sowohl frustrierten als auch verliebten Stickern zugespamt und muss mir erstmal das Lachen verkneifen. Ich gebe einen ganz kurzen Bericht über Köln ab und schicke ein paar Herzen zurück.
Kitschig? Kann ich auch.
Da kommt ein Selfie von Anni in ihrem Krankenhausbett und mit ihrem Schutzengel in der Hand. Ich mache ein unter-der-Bettdecke-Grimassen-Selfie von mir und wünsche ihr dann eine gute Nacht.
Sie fehlt mir, ich möchte ihr viel näher sein.
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20.12.2020
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