094 ** Schnuppertag am Folkwang ** Fr. 3.1.2020

Mit wehenden Fahnen segelt Max die Treppe zur S-Bahn-Station runter. Er war nochmal bei Frau Süß im Krankenhaus und trifft jetzt gleichzeitig mit der S-Bahn in der Station ein. Wir wollen zusammen nach Werden zur Folkwang-Musikuni. Ganz außer Atem springt er hinter uns in die Bahn.
„Alles in Ordnung dort?"
„Ja. ... puh! ... Erzähl ich nachher. ... Geht hier nicht."
Er lässt sich auf die nächste Bank fallen und schnauft erstmal durch. Moritz schüttelt grinsend den Kopf.

„Ich bin so gespannt, was wir da jetzt erleben werden. Ich mein' - ich bin mit klassischem Balett ja am 'Normalsten' von uns allen. Aber die arbeiten hier so viel mit Kooperation zwischen den Fachbereichen. Im Grunde ist es genau das, was wir mitbringen."
Moritz wirkt auf einmal sehr nachdenklich.
„Ich bin vor allem neugierig auf das Aufnahmeverfahren. Hoffentlich finden wir einen Drittsemester oder so, der uns einfach mal erzählen kann, worauf es wirklich ankommt. Und was diese Prof's am liebsten sehen wollen. Wir als Paket sind schon was besonderes. Aber ich muss das ja trotzdem alleine schaffen, und ich bin schon echt ein Exot."

Wir steigen wieder aus der Bahn und laufen über die große Brücke über die Ruhr. Die Uni ist ganz nah, und so tauchen wir ein in die kleinen Straßen und stehen bald vor dem dreibogigen Torgebäude der „Folkwang Universität der Künste". Zusammen mit vielen anderen suchend aussehenden Leuten gehen wir durch das mittlere Tor. Der Hof ist riesig und mit altem, völlig unebenem Kopfsteinpflaster ausgelegt. Um den Hof drumrum sieht man eine lustige Ansammlung von alten und noch älteren Gebäudeteilen.
„Was is'n das für'n Durcheinander?"
„Naja, das Gebäude war als erstes eine Abtei, dann bei den Preussen Knast, irgendwann wohl auch Schule – und jetzt ist es Uni. Da hat so ziemlich jeder dran rumgebaut, der gelassen wurde. Pina Bausch hat hier studiert!"
„Ui. Müssen wir jetzt auf Knien da reinrutschen?"

„Nö."
Ein Student spricht uns von der Seite an. Er hat neben sich einen Tisch mit allerlei Papierkram.
„Seit ihr Besucher? Dann hab ich ein paar Informationen für euch. Sonst verlauft ihr euch nämlich bloß."
Er drückt uns einen Lageplan vom Unigelände in die Hand, und wir sehen sofort, was er meint. Kleine Aula, große Aula, neue Aula. Hier Tanz, da Tanz, dort Tanz. Ein Hof, noch'n Hof, neben dem Hof, hinter dem Hof. Der Typ kuckt uns ins Gesicht und fängt an zu lachen.
„So hab ich hier vor einem Jahr auch gestanden. Wann immer man sich hier verfranst, fragt man sich zum Pförtner durch."
Er zeigt auf den Plan.
„Der sitzt hier drin, und da sind auch alle Info-Wände."
Jetzt zeigt er auf den Eingang zum großen Gebäude auf der anderen Seite des Hofes.
„Der Mann hat in seinem Leben schon viele verirrte Erstsemestler vorm Verdursten gerettet."
"Hei, danke für deine lebenserhaltenden Maßnahmen!"
Er grinst bloß.

Wir bedanken uns und machen ein paar Schritte zur Seite, damit auch andere Leute durchs Tor und zu dem Studenten kommen können.
„So, lasst mal schauen. Wollen wir einfach alle Gebäude mit Tanz abklappern, wollen wir erst dem Engel der Nation gegenübertreten, oder laufen wir einfach drauflos?"
„Quatsch, Max. Ich bin dafür, dass wir erst den Pförtner aufsuchen und nach den einzelnen Veranstaltungen fragen."
Also laufen wir über den Hof und gehen durch den Haupteingang. Überall auf dem Gelände, soweit wir schauen können, wuselt es von jungen Menschen mit diesen Info-Plänen in der Hand.

In einem nahezu antik wirkenden Glaskasten sitzt ein älterer Mann und liest in seiner WAZ. Ihm gegenüber sind einige Meter Pinnwände vom Boden bis ... naja, so hoch große Menschen halt reichen können. Wir gehen daran entlang und finden irgendwann auch die Infowand der Tanzabteilung. Da ist heute über alle Aushänge drüber ein großer Plan des Geländes gepinnt, und neben den einzelnen Gebäuden sind die für uns relevanten Veranstaltungen abgedruckt. Wir schauen uns das alles an und übertragen die für uns interessanten Sachen in unseren eigenen kleinen Plan.

„Jungs, wenn wir uns beeilen, kriegen wir noch den Open Stage in der kleinen Aula mit."
Max joggt los, wir anderen hinterher.
Ich bin gespannt, ob wir da ohne Umweg sofort hinfinden ...
Raus, Treppe runter nach rechts, Treppe rauf, rein ... Da steht ein Schild „Open Stage" mit einem fetten roten Pfeil nach links. Weiter ... Tatsächlich kommen wir wenige Minuten, bevor die Info-Veranstaltung beginnt, beim Pina-Bausch-Theater an.
Alles voll ...
Wir gehen einfach nach vorne und setzen uns vor die erste Reihe auf den Boden.

Drei Professoren der Abteilung Tanz begrüßen uns, erzählen ein bisschen über die verschiedenen Schwerpunkte im Studium und geben dann die Bühne frei. In loser Folge kommen einzelne Tänzer und kleinere Gruppen, verraten jeweils, was sie studieren, und zeigen uns eine kleine Performance. Ballett, Contemporary, Rhythmik, ... Dann kommt eine Gruppe in coolen Straßenklamotten auf die Bühne. Moritz sitzt sofort kerzengrade und flüstert in unsere Richtung.
„Den Typ links kenn ich. Wir haben schon zusammen trainiert."
Der „Typ" kommt nach vorne und sagt was.
„Wir studieren hier nicht nur Ballett. Wir bringen ja alle was mit, machen alle in unserer Freizeit was, haben irgendwann mit irgendeiner Art zu tanzen angefangen. Und daraus entstehen hier manchmal Kurse, die meistens von Studenten geleitet werden. Einer dieser Kurse sind wir."

Ohne das weiter zu erläutern, geht er zurück zur Gruppe, schmeißt einen großen Ghettoblaster an, die Gruppe bildet einen Halbkreis – und neben mir zieht sich Moritz seine Jacke und all das andere Wintergeraffel aus und fängt an, seine Arme und Beine zu dehnen. Ich stupse Max an und zeige auf Moritz. Spontan kringelt sich Max auf dem Boden vor lachen, während auf der Bühne die HipHop-Gruppe so richtig durchstartet. Abwechselnd treten sie in den Kreis und tanzen ihre favorite-mooves. Im Saal kommt Stimmung auf.

Moritz sitzt derweil wie die Kugel im Lauf neben mir, um die Gelegenheit abzupassen. Als die da oben sich kurz nicht einigen können, wer weiter macht, sieht er seine Chance gekommen. Mit einem Satz ist er auf der Bühne und legt einfach los. Aus dem Saal kommen Begeisterungspfiffe, und die Truppe da oben traut ihren Augen nicht. Moritz geht nach einer Weile an den Rand, und der Geistesgegenwärtigste springt in die Mitte, um ihn abzulösen. Die anderen grinsen Moritz an und geben ihm ein High Five. Da löst sich ein Mädel aus dem Publikum und springt ebenfalls auf die Bühne. Sie tanzt Moritz direkt an, und der kommt natürlich sofort dazu.
DIE ist gut!
Im schnellen Wechsel geht das noch ein paar Minuten so weiter.
Der „Typ" grinst von einem Ohr bis zum anderen und ruft, mit Blick auf die Prof's, in das Loch zwischen zwei Songs.
„Na, da muss ich doch gleich beantragen, dass wir eine eigene Abteilung HipHop kriegen!"

In dem Moment zieht irgendjemand den Stecker vom Ghetto Blaster, und ein sauertöpfisches Gesicht taucht am Vorhang auf.
„Kann ich dann auch mal???"
Zügig und gut gelaunt trollen sich die HipHopper von der Bühne, glucken aber gleich mit Moritz und dem Mädel zusammen. Da werden Nummern getauscht. Endlich huscht Moritz wieder nach vorne zu uns und schaut sich brav die Pirouetten des überaus guten, aber langweiligen Baletttänzers an.

Danach wird's wieder spannend. Es kommen drei Leute in bequemen Klamotten und barfuß auf die Bühne.
„Das war die perfekte Überleitung für uns. Wir sind im Kurs Improvisationstanz und laden euch ein, einfach dazuzukommen, falls euch was dazu einfällt."
Der Balettfritze hat mir ja schon gut gefallen, aber wenn die klassischen Tänzer alle so langweilig und humorlos drauf sind? In allen Unterlagen wird das Interdisziplinäre so betont. Aber bei solchem Gezicke scheint da wenig Kooperationsbereitschaft zu sein.
Diesmal ist es Max, der sich sofort nach der Ansage Jacke, Schuhe und Strümpfe auszieht und sich unauffällig warm macht. Es dauert nicht lange, da ist er auf der Bühne und klinkt sich in die Improvisation ein. Noch zwei weitere trauen sich, und das Sechstett zeigt echt spannende Sachen, die aus dem Moment entstehen. Max strahlt.

Erst nach einer guten Stunde kommt wieder ein Professor nach vorne und lädt ein, das Gelände zu erkunden. Die nächste Veranstaltung sei in einer knappen Stunde im Tanzhaus Züllig. Schnell inspizieren wir den Plan und stellen fest, dass wir dafür ans andere Ende vom Gelände müssen, dass wir uns aber unterwegs die Bibliothek und die Mensa ansehen können. Also strömen wir zusammen mit allen anderen zurück in den Hof. Aber auf dem Flur schauen wir uns noch die großformatigen Fotos von Berühmtheiten an, die hier mal studiert haben.
„Pina Bausch scheint hier verehrt zu werden wie eine Göttin."
„Na, is ja auch kein Wunder, Paul. Sie hat das Tanztheater und das Contemporary entscheidend geprägt. Und sie hat das einfach unglaublich lange gemacht, weil sie so alt geworden ist."

Genau in der gegenüberliegenden Ecke des großen Hofes ist die eigentümlich geformte, ganz aus Glas bestehende Bibliothek. „Also – ich hab ja nicht soooo viel Ahnung von Theater und Co. Und ich weiß, dass diese Uni noch mehrere Außenstellen hat in Bochum und so. Aber dass es sooo viele Bücher über darstellende Kunst gibt, ist schon irre."
Noch einmal schaut Moritz an der Glasfassade hoch, bevor wir das Gebäude betreten und sofort im Reich der Stille landen. Schnell stellen wir fest, dass es eben nicht nur Bücher sondern auch Unmengen von Noten, Ton- und Bildaufzeichnungen gibt. Wir gehen ziemlich schnell wieder und haben bald die Mensa erreicht. Hier gruselt es mich etwas.
„Das sind ja alles nur Automaten!"
„Maschinenfutter – na super. Wie gut, dass ich im letzten Sommer kochen gelernt habe. Jungs, wir müssen unbedingt eine Wohnung hier in Werden finden, damit wir mittags nach Hause gehen und was Vernünftiges essen können."
Wir ziehen ein paar Snacks aus einem Automaten. Richtig essen können wir heute Abend zu Hause. Damit setzen wir uns in den sogenannten Wintergarten.

„So, Max. Spucks aus. Wie geht's Anni?"
Max antwortet ganz leise.
„Beim Ultraschall gestern ist rausgekommen, dass da mehrere Stellen wohl ... ja, ‚angefroren' sind. Aber es gibt kein totes Gewebe, sie wird also wieder ganz gesund werden, auch wenn es noch eine Weile lang weh tun wird und sie nicht wirklich viel laufen kann. Mit irgendeiner Form von Taubheit ist eigentlich nicht zu rechnen, sie darf also Auto fahren. Aber es kribbelt ununterbrochen in allen Zehen, und das macht sie ziemlich scheckig."

Dann erzählt uns Max noch leiser und unter dem strengen Siegel der Verschwiegenheit, dass Frau Süß um ihrer Beziehung willen versucht hat, die Schule zu wechseln, damit sie beide sicher sind. Dass das aber leider nicht geklappt hat. Also für uns als Kurse zum Glück, aber für Max und Frau Süß bleibt es dadurch einfach sehr gefährlich.
„Das ist echt bitter, ich bin total frustriert. Denn statt uns auf die sichere Seite zu bringen, hat sie jetzt nur erreicht, dass sie mehr arbeiten muss als vorher, weitere Wege hat und in zwei Systemen verschlissen wird."

Wir gehen noch ins Tanzhaus Züllig. Auch dort gibt es Informationen und diesmal eine längere Aufführung. Wir unterhalten uns anschließend noch mit ein paar jetzigen Erstsemestern, um einen Eindruck zu bekommen, wie die Aufnahmeprüfungen sein werden und wie man sich am Geschicktesten anstellt, um in den Unibetrieb reinzurutschen. Dann ist jedenfalls mein Kopf ziemlich voll.
„Lasst uns abziehen, Jungs. Ich kann nicht mehr denken und nicht mehr kucken."

Am S-Bahnhof Süd gehen wir alle zu unseren Fahrrädern. Max grinst uns verlegen an.
„Sorry, aber ich ..."
„Mann, muss Liebe schön sein!"
„Das musst du grade sagen, Moritz! Naja, jedenfalls ... Ich geh nochmal zu Anni. Wir sehen uns morgen früh am Hauptbahnhof, Gleis 7. Ich bring Lasse mit, und dann geht's ab nach Köln. Ich freu mich auf die Tage mit euch!"
Und schon ist er Richtung Huyssenstift verschwunden.

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18.12.2020

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